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Brückenschlag Band 9, 1993

Leseprobe

Marina Schnurre

Gottes Wille

An der Wohnungstür steht die Frau im geblümten Kleid und streckt mir die Hand entgegen.
„Gott sei Dank, daß Sie so schnell gekommen sind. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Seit vier Tagen steht er nicht mehr auf. Er will nichts essen und trinken tut er auch nicht mehr. Der Doktor hat eine Überweisung für die Psychiatrie dagelassen, aber ich mußte die Leute von der Ambulanz wieder wegschicken. Er weigert sich. Bitte kriegen sie keinen Schreck, die Wohnung ...” Sie schiebt mich durch den vollgestopften Flur in Herrn Paulis Zimmer.
Ein Fleischgebirge im blaugestreiften Morgenmantel, die Augen an der Zimmerdecke festgesogen.
„Guten Tag, Herr Pauli, was ist denn das für eine Begrüßung. Kennen Sie mich nicht mehr?”
„Doch”, sagt eine monotone Stimme, die Augen zucken kurz in meine Richtung.
Ich stehe auf dem Pfad, der von der Tür zum Bett führt. Kein Platz mehr für einen Stuhl. Also setze ich mich neben seinen linken Arm auf die Bettkante. Der Fleischberg bewegt sich nicht.
Die Frau im geblümten Kleid bringt einen Teller.
„Essen Sie nur, Sie müssen doch hungrig sein, nach so einem langen Arbeitstag.”
Sie schiebt auf dem runden Tisch diverse Medizinschachteln, Röhrchen, Tempos, ungeöffnete Briefe, Zeitungsausschnitte, Flaschen und Päckchen beiseite, und in die Kuhle stellt sie den Teller mit den blaßrosa Wurstbroten.
„Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?”
Die geblümte Frau geht leise hinaus.
„Wollen wir zusammen etwas essen, Herr Pauli?”
„Ich darf nicht”, murmelt er.
„Wer verbietet es Ihnen?”
„Gott hat mir alles gegeben und ich habe nur genommen und genommen.”
„Wie meinen Sie das?”
„Ich habe bloß gekauft und angehäuft. Ich habe alles falsch gemacht. Das ist jetzt die Strafe.”
Die Frau kommt mit dem Wasserglas. Ich weiß nicht, wo ich’s abstellen soll. Das Zimmer, ein Warenlager. Ich schaue mich um. Auf der Schranktür hängen mehrere Jacketts übereinander, Hosen, ein Jogginganzug noch in Plastikfolie, fast verdeckt von drei Seidenhemden in verschiedenen Blautönen. Auf dem Schrank ein Radio, eine unausgepackte Küchenuhr, zwei Porzellanvasen, eine Waage. Auf dem Fußboden zu Türmen gestapelte Videocassetten, Filmrollen, zwei Videorecorder, Kameras, Zeitungen, mehrere in Plastikkartons eingeschweißte Armbanduhren, Bierdosen, Colapaletten. Und dazwischen die monotone Stimme.
„Alle sind so nett zu mir und ich hab’s nicht verdient. Gott hat mir alles gezeigt, und ich hab nur genommen und genommen und nichts gegeben.” Die Frau nimmt das leere Glas und schiebt mir dabei einen Zettel in die Hand:
Er muß dringend in die Psychiatrie. Der Arzt übernimmt sonst keine Verantwortung. Was soll ich bloß machen, er will doch nicht. Muß ich jetzt die Polizei holen?
Ich schüttle den Kopf.
„Gott hat mir immer alles gegeben und für mich gesorgt. Aber jetzt bestraft er mich, bis ich Bauchschmerzen habe.”
„Herr Pauli, Sie müssen für einige Zeit ins Krankenhaus.”
Ich beuge mich über ihn.
„Nein”, sagt Herr Pauli, „ich kann nicht. Gott ist so lieb zu mir, er hat mir alles gegeben, aber ich bin undankbar.”
„Ja”, ich streichle seine Hand, „Gott hat Ihnen alles gegeben, damit Sie es sinnvoll nutzen und es Ihnen gut geht. Er will, daß sie für sich sorgen. Doch das tun sie im Augenblick nicht. Deswegen”, ich drehe mich nach der Frau im geblümten Kleid um, „weil Gott Sie liebt, hat er uns beide beauftragt, so lange für Sie zu sorgen, bis Sie es wieder selbst tun. Ich rufe jetzt eine Ambulanz und dann fahren wir zusammen ins Krankenhaus.“ Ich stehe auf und gehe zur Tür. Herr Pauli sagt nichts. Als die Männer ihn auf der Liege die Treppe hinunterbalancieren, bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob Gott das wirklich so gewollt hat.


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