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Ãœberlegungen im Warteraum zum Gas

Leseprobe

Aus dem Geleitwort von Johannes Rau:

Unserer Sprache fehlten die Worte, um die Zerstörung des Menschen in Auschwitz zu beschreiben, hat Primo Levi gesagt. Muss Auschwitz ein Niemandsland des Verstehens bleiben? Sind wir angesichts der Greuel, die seit dem Ende des Nationalsozialsimus geschehen sind, zu abgestumpft, um auf Auschwitz noch mit nicht-klischierten Worten reagieren zu können?

Adolf Gawalewicz hat seine Worte über Auschwitz aufgeschrieben, aus eigener Erinnerung an das Todeslager. Gawalewicz´"Überlegungen im Warteraum zum Gas" belastet uns vielleicht um so mehr, als wir heute, fast 30 Jahre nach der polnischen Erstausgabe, im zeitalter der flüchtigen Bilder leben. Das ist keine feinsinnige Lektüre. Dieser Bericht erspart uns nichts. Er schildert den Weg eines einzelnen gemarterten Menschen in jenen Jahren "des besonders teuren Lebens und des besonders billigen Todes".

Dem Tod durch Zufall entronnen, beschreibt Gawalewicz Situationen, in denen viele Gefährten seines Leidens sich denTod wünschten, sofern ihnen Aufseher und Kapos noch die Kraft zum Wünschen gelassen hatten. Den Kampf um einen Schluck dreckigen Wassers, um eine muffig riechende Brühe in einer rostigen Blechdose, den Kannibalismus von Menschen, denen ihr Menschsein abgesprochen wurde, nichts lässt dieses Buch aus.

Gawalewicz, der das Wort "Lager" im Original auf deutsch schreibt, ist 1963 einer der wichtigsten Zeugen im Frankfurter Auschwitz-Prozess gewesen. "Ich war wieder dort", sagt er über seine Empfindung während der Zeugenaussage. Wie hat er leben können mit seinen Erinnerungen?

"Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hofnung fahren": Der Bericht zitiert die Inschrift über Dantes Höllentor. Richtet sich diese Aufforderung auch an den deutschen Leser, der doch nicht "wieder gut machen" kann, was nicht wieder gut zu machen ist?
Entlässt dieses Buch Deutsche mit Schuld und ohne Hoffnung?

Ich denke nein. Gawalewicz hat uns seine Erinnerungen an die Opfer geschenkt. Ohne diese Erinnerungen machte sich das Vergessen breit, und die Mörder hätten doch gesiegt über die Massengräber hinweg. Dann wäre keine Hoffnung mehr.

"Überlegungen im Warteraum zum Gas" klagt aber nicht nur Erinnerungen ein, sondern ist geschrieben mit einem mitunter aberwitzigen, makabren Humor, der nichts "relativiert", der aber steht für die gerettete Menschlichkeit wider die verordnete Unmenschlichkeit. Das Buch zeugt von menschlicher Hoffnung trotz der unmenschlichen Hoffnungslosigkeit. Für die, die Auschwitz überlebt haben, seien Freundschaft und Kameradschaft zu den höchsten Werten geworden, heißt es am Ende.

Adolf Gawalewicz ist 1987 im Alter von einundsibzig Jahren gestorben. Seine Erinnerung ist nicht nur eine Last, sondern sie kann uns helfen, einen freien Blick zu bekommen für die heutigen und die zukünftigen Aufgaben in einer Welt, in der die Menschenrechte beileibe noch nicht überall gesichert sind.
Ich wünsche den "Überlegungen im Warteraum zum Gas" viele Leser.

Johannes Rau


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