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Wie auf verschiedenen Planeten

Leseprobe

Warum dieses Buch?

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“
Vaclav Havel

Ich hatte die „Gnade der späten beruflichen Geburt“, da ich meine zweite berufliche Laufbahn als Psychologin erst am Anfang der neunziger Jahre begann. Dies war eine Zeit des Umbruchs und des Paradigmenwechsels in der Psychiatrie. Mein menschliches und berufliches Selbstverständnis führte mich geradewegs ins Psychoseseminar, in dem sich Angehörige, Betroffene und Profis austauschten. Die Idee eines Trialogs zwischen diesen Menschen verfestigte meinen durch das einseitige Studium ins Wanken geratenen Entschluss Psychologin zu werden. Meine berufliche Entwicklung ist von Anfang an mit dem Thema der seelischen Erkrankung von Eltern und ihrer Auswirkungen auf die Kinder verknüpft gewesen. Die Vereinsgründung zur Unterstützung von Familien mit „SeelenNot“, Modellprojekte für seelisch erkrankte Eltern und ihre Kinder, die Gründung der „Unterwegs-Gruppen“ für erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern und der Gruppe „Balance“ für Mütter mit seelischen Krisen und Erkrankungen waren Stationen auf meinem Weg. Während dieser Arbeit lernte ich psychische Erkrankungen aus unterschiedlichen Perspektiven kennen. Ein in gewissem Sinne hilfreiches, professionelles Fachwissen habe ich aus dem Studium mitgebracht, aber das Wesentliche über seelische Erschütterungen habe ich von den erfahrenen Müttern und Vätern, diesen „Experten ihrer Erfahrung“, und von ihren Kindern, den „Experten des Miterlebens“, gelernt. Mir wurde schnell klar, dass seelische Erkrankungen immer Familienthemen sind, weil die gesamte Familie mit betroffen ist. Wie Not und Bedrängnis der einzelnen Familienmitglieder aussehen, wenn psychische Erkrankungen der Eltern den Alltag bestimmen, wird in diesem Buch durch die erzählten Geschichten deutlich.
Die institutionellen Antworten auf die vielschichtigen Themen der betroffenen Familien sind leider noch immer nur vereinzelt existent. Die Erwachsenen-Psychiatrie betrachtet und begleitet zwar die erkrankten Mütter und Väter, blendet aber häufig die Kinder als Angehörige aus. Geraten die Kinder bzw. ihre Familien in den Fokus der Jugendhilfe, erleben sie die angebotenen Maßnahmen häufig als Bevormundung und Kontrolle. Bei der Überlegung, die Begleitung der Kinder in dieser besonderen Lebenssituation zu verbessern, werden diese immer noch nicht selbstverständlich genug als Teil ihres Familiensystems betrachtet. Dadurch ist die Jugendhilfe nicht so unterstützend, wie alle Beteiligten es sich wünschen und bräuchten. Angst und Wut beherrschen die Kommunikation, gerade dann, wenn die erkrankten Eltern und ihre Kinder die Trennung voneinander fürchten müssen. Unter dieser Bedrohung kann eine noch so gut gemeinte Hilfe nicht fruchten: Frust und Resignation sind vorprogrammiert. Dazu kommen Ängste und Schamgefühle, die oftmals eine aktive Hilfesuche verhindern. So entstehen lähmende Teufelskreise, die zur weiteren Isolation der Familien führen und ihre Not vergrößern.
Manchen Familien fehlen die Informationen darüber, dass sie einen rechtlichen Anspruch auf Hilfe und Unterstützung haben. Hierbei handelt es sich um Rechtsansprüche der betroffenen Eltern gegenüber dem Jugendamt und nicht etwa um das Recht des Jugendamtes sich in die familiären Angelegenheiten einzumischen. Beide Systeme, sowohl die Erwachsenen-Psychiatrie als auch die Jugendhilfe, sind in der Pflicht, den betroffenen Familien ihre Rechte verständlich zu machen und ihnen die erforderlichen Hilfsangebote vorzuschlagen. Die Erwachsenen-Psychiatrie muss sich der Aufgaben stellen, die Patienten eben als Eltern mit Kindern wahrzunehmen und ihre Beziehung auch im klinischen Alltag – soweit es möglich ist – zu fördern und zu unterstützen. Es wäre sicherlich eine leistbare Aufgabe für die Jugendhilfe, die Kinder viel stärker als Familienangehörige anzunehmen und aus dieser Grundhaltung heraus die Unterstützung zu gestalten
Die Betroffenen nicht nur als Problemfälle gemäß der Aktenlage wahrzunehmen, sondern sie als Individuen mit unveräußerlichen Rechten und einem menschlichen Wert an sich zu betrachten, muss Ziel staatlicher Hilfseinrichtungen und ihrer Mitarbeiter werden. Hierzu ist es unerlässlich, dass Professionelle aus diesem Bereich bereit sind, sich auf fremde Erlebniswelten einzulassen und den Radius der eigenen emotionalen Möglichkeiten ständig zu erweitern. Wer Menschen in schwierigen Lebenslagen helfen muss und will, dessen Beruf erfordert die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und die Kultivierung der Fähigkeit zum Mitgefühl. Oftmals spielen staatliche Institutionen Schicksal in den Biografien von Menschen, die aus vielfältigsten Gründen eine Zeit lang hilfsbedürftig sind. Die Brisanz der Krisensituation sowie die Schutzlosigkeit der Betroffenen sollten die handelnden Menschen mit Demut, Respekt und Verantwortungsbewusstsein erfüllen. Die Gefahr des Machtmissbrauchs, der subtilen Anmaßung oder auch nur der schlichten Überforderung besteht und prägt im schlimmsten Fall Schicksale.
Zu der gewünschten Sensibilisierung können die in diesem Buch erzählten Geschichten hoffentlich beitragen, weil sie aus der Fülle des real Erlebten das höchst fragile und komplizierte Miteinander der betroffenen Familien beschreiben. Sie schildern sowohl aus elterlicher wie auch aus kindlicher Perspektive verwirrende und beschämende Empfindungen, wie Zweifel, Scham und Schuld, Wut und Enttäuschung. Schmerzlich vermisste Zuwendung und die Sehnsucht nach alltäglicher Normalität werden sichtbar.
So ist dieses Buch auch ein Buch der Begegnung zwischen seelisch erkrankten Eltern und ihren heute oft erwachsenen Kindern. In ihren Lebensberichten äußert sich ihr Leid: es zeigt sein Gesicht. Schmerz wird durch das Besinnen auf die eigene Geschichte wieder lebendig. Die Wahrheit, dessen was war und was ist, will ausgehalten – und interpretiert werden. Aber auch das Heilungspotenzial kann durch diese Auseinandersetzung an Kraft gewinnen. Durch das Erzählen wird der erdrückende Schatten des Schweigens aufgelöst und ein Verstehen von Nöten und Hoffnungen auf beiden Seiten ermöglicht. So kann dieses Buch vielleicht auch – im Sinne von Vaclav Havel – ein Buch der Hoffnung sein.


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