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Die vierte Wirklichkeit

Leseprobe

Eins, zwei, drei und zurück

Es gibt sicherlich unzählige Wirklichkeiten, wahrscheinlich mehr als in der Luft schwebende Staubkörner. Du siehst sie nur selten. Und was unsichtbar ist, kann nicht wirklich sein. Deshalb begnügen sich die meisten mit wenigen Wirklichkeiten.
Die erste scheint die für uns bedeutsamste. In ihr bewegen wir uns auf die Landschaft blickend im Gleis- oder Kreisverkehr fort. In ihr stehen wir jeden Morgen auf. In ihr jagen wir hinter der Glücklichkeit her. In ihr erschießen wir uns mit achtzehn Jahren in der Hoffnung auf das ewige Nichts, das so unwahrscheinlich ist wie eine Wirklichkeit. Jede Entscheidung muss akzeptiert werden, weil jeder – und jede (Fußnote 1 Tanne legt auf die weibliche Form Wert.) und jedes (Fußnote 2 Das ist meine Art der Steigerung.) – einen eigenen Weg gehen muss.
„Träume sind Schäume“, sagt meine Großmutter und schüttelt den Kopf über die Begegnung mit der zweiten Wirklichkeit. Dabei schläft sie im Grunde, um die erste zu ertragen, Erlebnisse zu verarbeiten, Lösungen unbewusst zu finden.
Ich habe wieder begonnen, ein Traumbuch zu führen. Selten sind meine Eindrücke klar und deutlich. Im Laufe der Zeit entstand eine kleine Sammlung von Symbolen, die sich wiederholten und eine persönliche Bedeutung haben. Sie sind selten in einem Buch über Traumdeutung zu finden. Manchmal begreife ich die Zusammenhänge nicht, weil die Symbolgeschichten dem Bewusstsein weit voraus sind. Und ich fragte mich, warum eine Herde weißer Pferde durch meine Träume galoppierte, obwohl ich lieber Schafe, weiße und schwarze, gesehen hätte.

Zu viel Selbstforschung, zu wenig Stabilität im Alltag, zu viele erdrückende Schwierigkeiten, zu wenig klare Ziele... das führt in die dritte Wirklichkeit. Der überforderte Geist, die gestresste Seele schreien nach Ausgleich. Auf eine lang sich hinziehende depressive Phase folgt der nach Leben schreiende vulkanartige Ausbruch. Du durchlebst so viel von dir selbst, dass du auf die anderen mehr als eigenartig wirkst. Du bist dir sicher, die Welt und dein eigenes scheinbar so bedeutsames Dasein retten zu können.
Auf dem Rücksitz von weiß grünen Fahrzeugen, die von der besorgten oder aber genervten Bevölkerung alarmiert werden, hast du dann Zeit, dich von den schweren Aufgaben der dritten Wirklichkeit auszuruhen.
Ich hatte das Glück, halbnackt in einem männlichen Kloster erschienen zu sein, wo ich früh am Morgen mit einem herzhaften Frühstück belohnt wurde. Mit den herbeigerufenen sympathischen Herren mittleren Alters war ich gleich per Du. Sie wären nie darauf gekommen, die ernsten Handrasselspielzeuge anzulegen, was anderen, wie ich später hörte, widerfahren war.
Auf der Wache schrie ich den herbeigerufenen Arzt zusammen. Er litt für alle Ärzte, die mich mit Worten oder Gesten gequält hatten. Sie sperrten mich in einen Raum. Der Krankenwagen kam. Ich philosophierte über die Menschheit, und die Rettungssanitäterin hörte meinen Wahrheiten traurig zu, denn sie wusste, wo die Fahrt enden würde. Ich erzählte auch von dem mitfühlenden, aufgeregten Jeepfahrer, der seinen Wagen wendete, um mich in die von mir gewünschte Richtung mitzunehmen – zum Kloster. Ich prophezeite dem besorgten Mann, dass sein verlorenes Glück nicht an eine Kreuzung, sondern an einen Kreisel käme und zurückkehren würde. (Fußnote 3: Die Verkehrskreuzung in Frankreich ist oft ein ampelloser Kreisel. Man kann viele Runden drehen und dabei darüber nachdenken, wo man eigentlich hin möchte.)
Ich fragte mich, wie eine Frau mit Kind einen solchen Mann verlassen konnte.
Aussagen aus der dritten Wirklichkeit können ins Tiefdunkelblaue treffen, jedoch oft auch ins Himmelhellblaue. Aber für dich ist jedes Detail Bestimmung.
Es gibt jedoch ein Problem: Wenn du in der dritten Wirklichkeit bist, sind alle sehr bemüht, dich in die erste zurückzuholen, weil sie meinen, das sei die „gesunde“...


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