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"Gut, dass wir mal darüber sprechen!"

Leseprobe

Zu Beginn: ein Anliegen

Mit Zorn und Eifer

Noch ein Buch über die Psychiatrie. Dazu noch von einer Psychiatrie-Erfahrenen. Muss das sein? Man kennt das doch schon alles. Dachte ich auch erst. Bis mir auffiel, dass das Selbstverständliche (oder das, was selbstverständlich sein sollte) von psychiatrischer Seite als großartige Neuentdeckung herausgestellt und publiziert wird. Der so genannte „personenzentrierte Ansatz“. Biographisches Vorgehen. Sachliche Information an Patient/inn/en weitergeben. Überhaupt Rückmeldung von Patient/inn/en erst mal zuzulassen. Empowerment. Gesundheitsförderung statt einseitiger und womöglich noch gewaltsamer Symptombekämpfung. Ich kann zwar schöne Schlagwörter nennen, aber ich bin gar keine Fachfrau. Nur eine der vielen Patient/inn/en und Klient/inn/en der Psychiatrie. Mit vielen, z.T. sehr engen und langjährigen Kontakten zu anderen Psychiatrie-Erfahrenen. Vielleicht ist es doch interessant zu lesen, wie ich das erlebe. Vielleicht für andere Psychiatrie-Erfahrene. Vielleicht für diejenigen, die sich die Arbeit in der Psychiatrie zum Beruf gemacht haben. Oder für die organisierten Angehörigen. Möglicherweise sogar für den einen oder anderen, der oder die gar nicht so direkt mit der Materie zu tun hat.

Vorweg: Ich bin kein Opfer der Psychiatrie. Wenn Sie mit dieser Hoffnung oder Befürchtung zu diesem Buch gegriffen haben, werden Sie jetzt entweder enttäuscht oder erleichtert sein. Seien Sie nicht zu schnell erleichtert, denn es gibt sie wirklich, die Opfer der Psychiatrie. Und zwar nicht nur einer vorsintflutlichen, längst vergangenen und womöglich grasüberwachsenen psychiatrischen Versorgung, sondern es gibt Menschen, die zum Opfer einer durchaus „modernen“, fortschrittlichen und – ja auch – sozialpsychiatrischen Behandlung geworden sind. Deren Leben nicht in erster Linie durch ihre psychischen Probleme, sondern durch das, was man ihnen als „Hilfe“ angedeihen ließ (oder unterlassen hat), erst richtig zerstört wurde. Für etliche von uns ist bis heute die Kur schlimmer als das Leiden, das kuriert werden sollte. Aber ich sagte, ich bin kein Opfer der Psychiatrie. Wenn ich denn ein Opfer sein soll, eher eines der durch die psychische Erkrankung und die Psychiatrie-Aufenthalte in Gang gesetzten sozialen Mechanismen. Ich habe, neben mancherlei psychiatrischem Unfug und Kränkung auch durchaus eine solche Psychiatrie erlebt, wie ich sie mir gewünscht und vorgestellt habe, die mir gut bekommen ist. Manchmal sogar ganz vorzügliche Psychiatrie. Gerade deshalb ist mir das andere um so schlimmer. Um die bisher Enttäuschten wieder etwas aufzumuntern und die vorschnell Erleichterten, die sich gerade zufrieden im Sessel zurücklehnen wollten, wieder auf den Teppich zurückzuholen, sei rasch ein Gewicht in die andere Schale der Waage geworfen: ich bin auch kein Erfolg der Psychiatrie. Dass ich trotz mehrerer heftiger schizophrener Psychosen und anschließend ausgeprägter und langer depressiver Phasen zu einem doch ziemlich guten Leben und Befinden zurückgefunden habe, ist in meinen Augen nur in eher geringem Maße das Verdienst der psychiatrischen Behandlung. Da waren noch ganz andere Faktoren am Werk.

Dies Buch ist kein Erfahrungsbericht im eigentlichen Sinne. Sie werden meine Kindheit und so manches andere darin nicht finden, auch nicht ordentlich aufgezählt alle Stationen meiner psychiatrischen Behandlung. Ein richtiges Sachbuch über die Psychiatrie ist es auch nicht – allein schon deshalb nicht, weil ich weder Zeit noch Lust, noch die Möglichkeit habe, erst 50 Meter psychiatrischer Fachliteratur durchzulesen, so Leid mir das tut. Was ich noch sehr viel mehr bedauere, ist, dass ich hierzu die Literatur, die von uns Psychiatrie-Erfahrenen vorliegt, ebenfalls nicht auswerten kann. Weswegen? Aus Zeitgründen. Wohl ist es eine erfahrungsbezogene Auseinandersetzung mit der Psychiatrie, ein Blick aus meinem Alltag, aus meiner Psychiatrie-Erfahrung heraus auf psychiatrisches Handeln, professionelle Thesen und psychiatrische Diskussion. Ich will über die Lücken in der psychiatrischen Behandlung schreiben, über das, was mir – und auch anderen – gefehlt hat, was nach meiner Meinung zu zaghaft vorangetrieben wird oder gar nicht vorkommt, was ich als widersinnig empfinde oder empfunden habe, was unbedingt anders sein müsste oder vielleicht doch anders sein könnte.

Was Sie nicht finden werden: die Meinung „aller“ Psychiatrie-Erfahrenen oder eine offizielle Verlautbarung eines Betroffenenverbandes. So gut es geht, versuche ich, auch die Erfahrungen anderer Psychiatrie-Erfahrener zu berücksichtigen, manches Beispiel betrifft mich persönlich nicht, sondern ich habe es vielleicht bei einer/einem anderen Psychiatrie-Erfahrenen miterlebt. Es gibt Psychiatrie-Erfahrene, die die Psychiatrie positiver sehen als ich, und solche, die sie negativer betrachten. Gerade weil ich aus einer persönlichen Erfahrung heraus schreibe, ist es mir eben nicht möglich, für alle Psychiatrie-Erfahrenen, die vielleicht eine ganz andere Geschichte, eine ganz andere Einstellung und ganz andere Erfahrungen haben, mitzuschreiben. Sie werden darüber noch mehr bei mir lesen. Ich weiß aber, dass es durchaus Psychiatrie-Erfahrene gibt, die meine Meinung teilweise oder ganz teilen.

Kurz noch zur Schreibweise: aus eigenem und natürlichem Interesse habe ich mich um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht. Da ergaben sich aber diverse grammatikalische und Rechtschreibprobleme – ich experimentierte mit Binnen-I und Schrägstrichen, wollte ständige Doppelungen wie etwa „Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter“ vermeiden. Formulierungen wie „Mitgliederinnen“ oder „Aschenbecherinnen“ sind sowieso nicht mein Fall. Schließlich ist es überwiegend bei der Schrägstrichlösung geblieben. Wo dieses nicht passt, bleibt es bei der rein männlichen Form. Leider. Manchmal auch bei der rein weiblichen Form. Zum Glück. Und ich hoffe weiterhin auf eine mehrjährige, ausschließlich weibliche Besetzung des Duden-Teams, damit dieses Problem auch einmal eine stilistisch und orthographisch befriedigende Lösung findet.

Sie haben schon gelesen, dass ich über „die“ Psychiatrie schreibe. Dies ist eine grobe Verallgemeinerung. „Die“ Psychiatrie habe ich natürlich ebensowenig vorgefunden wie es „die“ psychisch Kranken oder Psychiatrie-Erfahrenen gibt. Psychiatrische Kliniken, Stationen, ambulante Einrichtungen unterscheiden sich durchaus. Die Menschen, die in der Psychiatrie arbeiten, sind ganz verschieden, sogar das, was sie über psychische Erkrankung denken, und wie sie handeln, kann geradezu konträr sein. Was soll ich tun? Um ein Geschehen, und sei es ein soziales, beurteilen und kritisieren zu können, muss ich es auf eine benennbare Formel bringen. Zudem gibt es Phänomene in der psychiatrischen Arbeit, die ich als durchgängig wahrnehme. Deshalb greife ich zu dieser inhaltlich möglicherweise nicht ganz korrekten, sprachlich aber zulässigen Konstruktion. Ich erzähle von dem, was mir an der Psychiatrie aufgefallen ist – aus einer ziemlich alltäglichen Sichtweise heraus. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich höre öfter von Seiten der Psychiatrie, man habe ein Interesse daran, mit uns ins Gespräch zu kommen oder im Gespräch zu bleiben. Manchmal höre ich auch den Satz: „Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben“. Als Psychiatrie-Erfahrene denke ich dann natürlich: „Und? Was wird jetzt daraus?“ Aber ich möchte diese Floskel gerne ernst nehmen. Also: Sprechen wir darüber!


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