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GeWOHNtes Leben

Leseprobe

Hans-Ludwig Siemen

Vom Gewohnten – eine Einführung

„Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.“

Mit diesem Satz beginnt Günter Grass seinen Roman „Die Blechtrommel“, in dessen Mittelpunkt das Leben von Oskar Matzerath steht. Der Pfleger in der Anstalt, der die Erzählungen von Oskar Matzerath schätzt, besorgt diesem Papier, damit dieser seine Geschichte niederschreiben kann: wie er, schon bei der Geburt geistig völlig entwickelt, mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen und trommelnd durch Deutschland in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts reist: durch eine Welt voller Lügen, Scheinheiligkeit und Verbrechen.
Wo anders, als in einer Heil- und Pflegeanstalt hätte Oskar Matzerath „ erwachsen geworden „ damals, in den fünfziger Jahren, landen können?

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Gewohntes Leben „ Psychiatrie in der Gemeinde, wenn es denn schon so wäre, dass alle psychisch kranke Menschen gewohnheitsmäßig in den Gemeinden leben könnten, dann bräuchte dieses Buch nicht zu erscheinen. Noch ist es so, dass trotz aller Fortschritte der Psychiatriereform viele psychisch kranke Menschen weitab in Heimen oder unter dürftigsten Bedingungen in Obdachlosenunterkünften leben müssen. Es scheint, als ob gerade chronisch psychisch kranken Menschen das Recht abgesprochen würde, so zu wohnen, wie es für normale Menschen selbstverständlich ist. Dies ist allemal Anlass, einen kurzen Blick auf die Gewohnheiten der Psychiatrie im Umgang mit den chronisch kranken Menschen zu werfen.
Seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert hat die Psychiatrie neben der Heilung der heilbaren psychisch kranken Menschen auch die Aufgabe übertragen bekommen, diejenigen in den Anstalten zu verwahren, die sich nicht heilen lassen können oder wollen und deren Verhalten so störend, befremdlich oder eigentümlich ist, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, sie wieder aufzunehmen. Diese zweifache Funktion „ Heilen und Verwahren“ verursachte seit ihrer Gründung immer wieder schwere Krisen des psychiatrischen Anstalts- oder Krankenhauswesens (Thom, 1984). Denn beide Funktionen behinderten sich im Anstalts- oder Klinkalltag und erschienen häufig als Widerspruch.
In der Bundesrepublik führte diese doppelte Funktion des Heilens und Verwahrens Ende der sechziger Jahren zu einer schweren Krise des Anstaltswesens. Der Anspruch, psychisch kranke Menschen zeitgemäß behandeln zu können, geriet in Widerspruch zu den tatsächlichen Gewohnheiten in den Anstalten: diese riesigen, nach außen hin klar abgegrenzten Gebäudekomplexe waren heillos überfüllt, dort lebten vorwiegend chronisch psychisch kranke Menschen unter den bekannten menschenunwürdigen Bedingungen.
In der Öffentlichkeit war es vor allem der nicht eingelöste medizinische Anspruch, der auf massive Kritik stieß. Bemängelt wurde, z.B. in dem Buch von Frank Fischer 1969: „Irrenhäuser „ Kranke klagen an“, dass psychisch kranke Menschen nicht als Kranke sondern als Anstaltsinsassen behandelt wurden: mit all den erniedrigenden Prozeduren, die Erving Goffman (1974) so eindringlich beschrieben hat.
An genau diesem Punkt setzte die Psychiatriereform an: die Institution Psychiatrie sollte zum integralen Bestandteil der Medizin werden, sich auf die Behandlung der akut psychisch Kranken konzentrieren. Dies erschien aber nur als machbar, wenn man sich von der anderen traditionellen Gewohnheit, dem Verwahren und der Fürsorge der chronisch psychisch kranken Menschen trennte. Um dies zu erreichen forderte die Enquete, sich von den nicht krankenhausbedürftigen, den „fehlplazierten“(S. 205) Menschen zu trennen und diese aus den Anstalten „in den Bereich der komplementären Dienste“ zu überführen (S. 102-105). Entsprechend besaß der „Aus- und Aufbau der komplemtären Dienste (Heimsektor)“ oberste Priorität in den Empfehlungen der Enquetekommission (S. 409).
Die Wirkungsgeschichte dieser Planungen kann ich am besten anhand der Entwicklung in Bayern aufzeigen, da mir dazu die differenziertesten Daten vorliegen. 1970 gab es 16.525 Betten in den bayerischen Bezirkskrankenhäusern, den psychiatrischen Abteilungen in München und Nürnberg sowie den bayerischen Universitätskliniken, in denen insgesamt 45.000 Menschen behandelt wurden. Die durchschnittliche Verweildauer betrug 212 Tage. Die Bezirkskrankenhäuser fungierten damals im wesentlichen als Verwahranstalten: mit ihren 15.000 Betten nahmen sie in 1970 nur 14.000 Patienten auf. Die Universitätskliniken und die Abteilungen behandelten mit ihren nur 1.099 Betten fast genau so viele, nämlich 12.000 Menschen und trugen damit die Hauptlast der akuten psychiatrisch-medizinischen Behandlung.
Bereits 1989 hatte sich die Situation grundlegend gewandelt. Die Bettenzahl hatte sich um mehr als 3.000 auf 13.236 verringert. Die Zahl der Behandelten war mit 62.582 um 40% angewachsen, die Verweildauer auf 79 Tage gesunken „ berechnet inklusive der Langzeit- und Pflegebereiche. Ab 1990 wurden nur noch die nach dem Krankenhausförderungsgesetz geförderten Betten in den psychiatrischen Klinken erfasst. Danach gab es in Bayern nur mehr 9.355 psychiatrische Betten, in denen 54.000 Menschen mit einer Verweildauer von 60 Tagen behandelt wurden. Die Bettenmessziffer war auf 0,79 pro tausend abgesunken. 1998 sind nur noch 7.936 Betten vorhanden, die Bettenmessziffer beträgt 0,66 auf 1.000 Bewohner und die Verweildauer ist auf 41 Tage gesunken. Die ehemaligen psychiatrischen Anstalten haben folglich ihre Gewohnheiten wesentlich verändert, sind zu Kliniken geworden, die sich auf die Akutbehandlung konzentrieren. Und was geschah mit den ehemaligen Langzeitpatienten?
Für die Jahre 1970 bis 1979 habe ich aus den Jahresberichten von sieben Bayerischen Bezirkskrankenhäusern die Zahl der Verlegungen in Heime herausgezogen. In dieser Zeit nahmen die Verlegungen in Heime drastisch zu, von 803 in 1970 auf knapp 1.600 in 1979. Entsprechend stieg die Zahl der in Heimen untergebrachten ehemaligen Anstaltsbewohner. Eine Gruppe, die von den Heimverlegungen besonders betroffen war, waren die sog. „geistig Behinderten“. 1970 lebten 1.968 Menschen mit dieser Diagnose in den Bezirkskrankenhäusern, 1989 waren es nur noch 1.000. Bei den psychisch Behinderten vollzog sich eine ähnliche Entwicklung: Besonders betroffen waren Menschen mit der Diagnose „Residuale Schizophrenie“, von denen 1973 2.977 in den Bezirkskrankenhäusern lebten. Schon sechs Jahre später, 1979, lebten nur noch gut die Hälfte, 1.576 Menschen dieser Diagnosezuschreibung in den Bezirkskrankenhäusern.
Diese Tendenz setzte sich in den 80er Jahren fort. Die Zahl der geistig Behinderten, die in Heimen untergebracht wurden, stieg um mehr als 4.000 von 7.500 in 1983 auf 11.600 Bewohner in 1998 an. Auch die Zahl der psychisch kranken Menschen mit psychischen Behinderungen in den Heimen wuchs im selben Zeitraum um mehr als 2.000 von 2.595 in 1983 auf 4.817 in 1998.
Bilanziert man diese Entwicklung, die in anderen Bundesländern ähnlich verlaufen ist, dann ergibt sich, dass die Verkleinerung der Bezirks- und Landeskrankenhäuser und deren Umwandlung in auf die akute Versorgung konzentrierte psychiatrische Kliniken vor allem dadurch gelungen ist, dass eine große Zahl der chronisch psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die in den Bezirks- und Landeskrankenhäusern gelebt hatten, in gesonderte Heime verlegt wurden. Der anfangs beschriebene Widerspruch zwischen den beiden Funktionen der Institution Psychiatrie „ Heilen einerseits und Verwahren/Fürsorge andererseits „ ist aufgelöst worden, indem zwei unterschiedliche Typen von Einrichtungen geschaffen worden sind, die jeweils eine dieser Funktionen erfüllten. Die grundlegende Gewohnheit, chronisch psychisch kranke Menschen in stationären Einrichtungen zu versorgen, blieb aber unverändert.

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Für die Betroffenen hatten die Verlegungen weitreichende Konsequenzen. Als Insassen einer totalen Institution (Goffman), in der sie teilweise Jahrzehnte gelebt hatten, wurden sie nun, ohne dass man ihre eigentlichen Bedürfnisse wahrnahm und zumeist ohne deren Zustimmung aus für sie nicht einsehbaren Gründen in Heime verlegt. In diesen waren die Lebensumstände ähnlich schlecht und manchmal schlechter, als in ihrer gewohnten Umgebung. Teilweise lagen die Heime noch weiter von den Ballungsräumen entfernt, als die Bezirks- und Landeskrankenhäuser. In Bayern befanden sich 1989 in den Großstädten München und Nürnberg weniger als 0,5 Heimplätze pro 1.000 Einwohner. Die meisten Heimplätze lagen in abgeschiedenen Regionen, in denen auf 1.000 Einwohner 5 Heimplätze kommen, zehnmal so viel wie in den Städten. Auch die Ausstattung der Heime war in keiner Hinsicht geeignet, chronisch psychisch kranken Menschen eine angemessene Betreuung und Behandlung zu gewähren: 1983 mussten ein Drittel der Heimbewohner in Zimmern mit mehr als drei Betten leben, 1989 waren es noch ein Viertel. 1983 waren 50% des Personals unausgebildetes Personal, 1989 noch immer mehr als 40 %.
Viele dieser Heime befanden sich in privater Trägerschaft, wurden in ehemaligen, unrentabel gewordenen Hotels oder Ferienheimen eingerichtet. Die Verhältnisse in den Heimen entsprachen in vieler Hinsicht denjenigen der alten Anstalten: es war nur eine unzureichende fachpsychiatrische und soziale Nachsorge vorhanden, die Bewohner lebten sozial isoliert, es gab kaum therapeutische Angebote, der Tag verging ohne sinnvolle Zeitstrukturierung, das Reglement war oft sehr restriktiv und das Personal zeichnete sich häufig durch eine pessimistische und abwertende Haltung gegenüber den Betroffenen aus (Vgl. Kunze, 1981; 1984).
Für die Menschen, die in Heime verlegt worden waren, hatte die Psychiatriereform folglich keine grundlegende Verbesserung ihrer Lebenssituation zur Folge. Sie wurden in Einrichtungen verlegt, die oft die unwürdigen und unmenschlichen Lebensumstände der alten Anstalten reproduzierten und: sie gerieten damit aus dem Blick der Reform, es kümmerten sich „ von einzelnen Ausnahmen abgesehen „ kaum jemand um deren Belange. Man versorgte sie, entsprechend der Gewohnheiten der Psychiatrie, in vollstationären Einrichtungen, wo sie, weitab von den Ballungsräumen und von wenig qualifiziertem Personal betreut, ihr Leben als „Bewohner“ fristen mussten.
Aber: man hatte die chronisch psychisch kranken Menschen nicht „vergessen“. Man wusste, dass sie in Lebensverhältnisse verlegt wurden, die in keiner Hinsicht den allgemein anerkannten Zielen der Psychiatriereform entsprachen. Bereits im März 1974 veröffentlichte der Spiegel eine ausführliche Reportage unter dem Titel „Wehrlose menschliche Ware“, in dem ausführlich darüber berichtet wurde, dass viele hundert Anstaltsbewohner in privat geführte Heime abgeschoben würden und dort unter kargen Bedingungen ihr Leben fristen müssten (Der Spiegel, 1974). Und auch die Verfasser der Enquete waren sich dieser Entwicklung bewusst. Sie kritisierten, dass „allenthalben zahlreiche chronisch Kranke und Behinderte in leer stehenden Ferienheime, Hotels und ähnliche Einrichtungen“ abschoben würden, und dass diese „bedenklichen Verlegungsaktionen“ zumeist zu Lasten der Betroffenen gingen, da die „meist kommerziell betriebenen Einrichtungen die qualitativen Voraussetzungen für eine adäquate Versorgung ... nicht anzubieten vermögen.“(Enquete, S. 206) Dennoch wurde so verfahren. Ursache hierfür war, dass sich die Psychiatriereformer vor eine für sie unlösbare Situation gestellt sahen:
Einerseits sollten die Anstalten zu Krankenhäuser werden und dies konnte, wie die Enquete an vielen Stellen sehr eindringlich formulierte, nur geschehen, wenn die nicht „krankenhausbedürftigen“ psychisch kranken Menschen in komplemtäre Einrichtungen verlegt werden (Enquete, S. 217). Da dies möglichst kurzfristig geschehen sollte, blieb letztlich nur die Verlegung in Heime, auch wenn man um deren schlechte Ausstattung wusste. Und an dieser Stelle kann man der Enquete einen Vorwurf nicht ersparen: ‹ber Konzepte, wie solche Heime beschaffen sein sollten, findet sich nichts Nennenswertes. Obwohl die Enquete sonst von sehr detaillierten Planungen für viele Bereiche der Akutbehandlung und Rehabilitation überquillt, wurden nur wenige, sehr allgemein gehaltene Sätze formuliert, in denen ein Mindeststandard an räumlicher und personeller Ausstattung gefordert wird, aber mehr eben nicht (Enquete, S. 375f).
Bevor aber den Akteuren der Psychiatriereform für die Heimverlegungen die Verantwortung übertragen wird, muss bedacht werden, dass diese Verlegungen in den seltensten Fällen zentral geplant worden waren. Im Gegenteil, sie entwickelten sich geradezu naturwüchsig aus den Entwicklungsprozessen der einzelnen Krankenhäuser. In dem Maße, in dem diese riesigen Komplexe baulich saniert wurden, in dem Fachpersonal eingestellt und das Angebot nach psychiatrischen Gesichtspunkten differenziert wurde, rückten die chronisch kranken Menschen immer mehr an den Rand. Je mehr sie in besonderen Abteilungen und Stationen zusammengefasst wurden, desto mehr wurde deutlich, dass sie nicht ins Krankenhaus gehörten und desto einfacher wurde es, sie „ teilweise als ganze Stationsgruppe „ in ein gerade eröffnetes Heim zu verlegen. Um so mehr dann, wenn das Krankenhaus neuen räumlich Bedarf, z.B. zur Einrichtung einer Psychotherapiestation anmeldete.

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Im Zuge der Psychiatriereform wurden außerhalb der Kliniken vielfältige neue Dienste und Einrichtungen geschaffen, Tageskliniken, ‹bergangseinrichtungen, Rehabilitationskliniken, therapeutische Wohngemeinschaften, Sozialpsychiatrische Dienste „ um nur einige zu nennen. Diese aber sollten keine Alternative zur Fürsorgefunktion der alten Anstalten darstellen und boten keinen dauerhaften Lebensraum für schwer beeinträchtigte psychisch kranke Menschen an. Sie waren vielmehr als Ergänzung des therapeutischen Bemühens der neuen, verkleinerten psychiatrischen Kliniken gedacht und sollten die noch nicht chronifizierten Patienten mit einem klaren Konzept und mit zeitlicher Begrenzung so behandeln, dass sie wieder in das normale Leben integriert werden konnten. Auch rein zahlenmäßig waren diese „komplementären“ Dienste und Einrichtungen nicht in der Lage, den Fürsorgeauftrag zu ersetzen. Noch 1990 gab es z.B. in Bayern nur etwa 400 Plätze in therapeutischen Wohngemeinschaften für psychisch Kranke „ gegenüber fast 5.000 Heimplätze für psychisch kranke Menschen.
Aber in dem Maße, in dem außerhalb der Kliniken wenn auch therapeutisch ausgerichtete Lebensmöglichkeiten angeboten wurden, begannen die alten Gewohnheiten der Psychiatrie sich tendenziell aufzulösen und neue Gewohnheiten begannen sich zu entwickeln: einerseits zeigte sich, dass die Stufung der Angebote je nach therapeutischem Fortschritt ebenso ungeeignet, wie deren enge zeitliche Begrenzung unrealistisch war. Andererseits arbeiteten in diesem Bereich sozialpädagogische und psychologische Berufsgruppen, die der herkömmlichen Psychiatrie mit ihrem auf das Medizinische verengten Blick kritisch gegenüberstanden und mit ihrer Tätigkeit eine Alternative zum psychiatrischen Krankenhaus aufbauen und eine Integration der Bewohner in die Gemeinde erreichen wollten. (Vgl. Bosch, 1985; Brill, 1988; Modellverbund, 1988)
Sichtbarer Ausdruck dieser „ hier nur angedeuteten Veränderung „ waren die 1988 vorgelegten Empfehlungen der Expertenkommission, die kritisierten, dass für die „schwerer geschädigten psychisch Kranken“ im Zuge der Psychiatriereform kaum Möglichkeiten einer beschützten Lebensführung außerhalb stationärer Einrichtungen geschaffen worden seien und die das Wohnen als ein menschliches Grundbedürfnis werteten, das auch für psychisch kranke Menschen befriedigt werden müsse (Empfehlungen, 1988, S. 157ff). Seither haben sich in allen Gebieten der Bundesrepublik vielfältige Initiativen entwickelt, die ambulant betreutes Wohnen für psychisch kranke Menschen als Alternative zur stationären Unterbringung anbieten. Allein in Bayern sind in den vergangenen Jahren mehr als 1.000 neue Plätze in Wohngemeinschaften und im betreuten Einzelwohnen entstanden.
Aber diese Bestrebungen, auch schwer beeinträchtigten psychisch kranken Menschen in der Gemeinde Wohnungen zur Verfügung zu stellen und ihnen ambulant die Betreuung und Hilfen zu bieten, die sie für sich und ihre Lebensbewältigung brauchen, sind noch zu wenig umfassend und differenziert, als dass man sagen könnte: sie sind zur Gewohnheit geworden, von der die Heimunterbringung die Ausnahme bildet. Insbesondere schwer beeinträchtigte psychisch kranke Menschen werden immer noch in Heime verlegt, weil man der alten Gewohnheit gemäß davon ausgeht, dass sie in der Gemeinde nicht zurecht kommen würden und die normale Gesellschaft nicht bereit sei, sich auf diese Menschen einzulassen.
Dass dies so ist, dass noch zu wenig ambulante Angebote für chronisch psychisch kranke Menschen zur Verfügung stehen, gründet auch darin, dass noch allzu wenig Erfahrungen vorliegen, wie es gelingen kann, ihnen ein selbständiges Leben in der Gemeinde zu ermöglichen. Denn es sind nicht nur die Traditionslinien der Psychiatrie, die solche Erfahrungen in der Regel verhindert haben. Es ist auch die Schwere der Aufgabe, vor die das Helfersystem gestellt ist.
„Die Helfer stehen .. vor der Aufgabe, bei jedem schwer- oder schwerstbetroffenen chronisch Kranken und Behinderten die Balance zu finden zwischen der Funktion des fürsorglichen Begleiters eines schicksalhaften Geschehens und des Trägers der Hoffnung auf eine Veränderung des unveränderlich Erscheinenden. Die Forderung nach einer Haltung, die auf die Umsetzung therapeutischer Intentionen verzichtet bei gleichbleibender aufmerksamer Zuwendung zum Hilfsbedürftigen, steht im Widerspruch zur gängigen medizinischen Therapeutik, die den raschen und durchschlagenden Besserungs- und Heilungserfolg sucht; er trifft die Helfer in ihrem Selbstverständnis.“ (Veltin, 1990, S. 233)

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Ziel dieses Buches ist es, für den Ausbau ambulanter Betreuungsformen zu werben, die chronisch psychisch kranke Menschen nicht aus ihrem geWOHNten Umfeld herausreißen und möglichst eigenständig leben lassen. Die Beiträge sind aus einer Tagung entstanden, die wir im Oktober 2000 in Erlangen veranstaltet haben. Neben einigen Artikeln, die übergreifende Aspekte des Themas „Wohnen für psychisch kranke Menschen“ behandeln, werden Projekte vorgestellt, die in verschiedener Weise neue Wege in der ambulanten Betreuung und Begleitung gehen und die hoffentlich viele Nachahmer finden.
Da es noch so ungewohnt ist, ergeben sich eine Vielzahl von Fragen, die in diesem Buch gestellt und nur zum Teil ausreichend beantwortet werden können: Ist es wirklich möglich, alle psychisch kranken Menschen ohne Ausnahme in ambulanter Weise zu betreuen? Kann es nicht sein, dass kleine und gut ausgestattete Heime als Alternative bestehen bleiben müssen, allein weil Betroffene sich wünschen, dort wohnen zu bleiben? Wie kann es gelingen, den schmalen Grad zwischen Hilfe zur Selbsthilfe und fürsorglicher Belagerung zu finden? Wo finden Betroffene wirkungsvolle Möglichkeiten, als ernstgenommener Partner bei der Gestaltung betreuter Wohnformen mitzuentscheiden? Wie ist es mit den Ausgrenzungstendenzen innerhalb des ambulanten Settings „ finden z.B. auch forensische Patienten oder pflegebedürftige Menschen Platz? Oder: Ist es nötig, für psychisch kranke Frauen spezielle Angebote aufzubauen? Und: wie kann der „Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan“ helfen, die ambulante Orientierung der psychiatrischen Landschaft nachhaltig durchzusetzen?
Bei all diesen Fragen sollte die übergreifende Frage klar bleiben:
„Wenn die Ereignisse im Leben, zumal während der Kindheit, die sich uns am nachdrücklichsten einprägt, durchgehend negativ sind, wirken sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit negativ auf unsere Psyche aus. Wäre es also möglich, das Leben der am schwersten gestörten Menschen so zu arrangieren, daß es durchgehend positive Bedeutungen vermittelt, dann müßte das prägende positive Wirkungen haben.“ (Bettelheim, 1990, S. 10)

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Um auf Oskar Matzerath, den Helden des Romans „Die Blechtrommel“ zurückzukommen. Er, der so stechend scharf und hellsichtig klar die Schrecknisse in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu beschreiben weiß; er, der so ohne Angst von den Verbrechen und der Scheinheiligkeit berichtet; er, der so voller Liebe die wenigen Aufrechten beschreibt. Als er älter wird, holt ihn die Angst ein, der Schrecken überflutet ihn, in Gestalt der „Schwarzen Köchin“. Sie, „die Schwarze Köchin“, lässt ihm keine Ruhe mehr, verfolgt ihn, überflutet ihn, treibt ihn in den Wahnsinn. Er weiß sich keine andere Flucht als die in eine „Heil- und Pflegeanstalt“, in der er in seinem Bett hinter hohen weißen Bettgittern seine Geschichte schreiben kann.

Ob Oskar Matzerath heute woanders hin fliehen könnte?


Literatur:
Bettelheim, Bruno. (1990). Der Weg aus dem Labyrinth. Leben lernen als Therapie. dtv Verlag. München

Bosch, G., Kulenkampff, Caspar. (Hg.) (1985). Komplementäre Dienste „ Wohnen und Arbeiten. Tagungsberichte der Aktion Psychisch Kranke. Band 11. Rheinland Verlag. Köln

Brill, Karl-Ernst. (Hg.) (1988). Betreutes Wohnen. Neue Wege in der psychiatrischen Versorgung. AG SPAK Bücher. München

Der Spiegel, Nr. 11, 1974, S. 65-70

Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung. (1988). Bonn

Enquete - Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundsrepublik Deutschland „ Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung der Bevölkerung. (1975) Deutscher Bundestag. 7. Wahlperiode. Drucksache 7/4200, Bonn

Fischer, Frank. (1969). Irrenhäuser „ Kranke klagen an. Verlag Kurt Desch. München

Goffman, Erving. (1973). Asyle. ‹ber die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt. edition suhrkamp.

Grass, Günter. (1959). Die Blechtrommel. Roman. Neuwied

Kauder, Volker. (Hg.). (1998). Personenzentrierte Hilfen in der psychiatrischen Versorgung. Bonn. Psychiatrie-Verlag

Kunze, Heinrich. (1981). Psychiatrische ‹bergangseinrichtungen und Heime. Psychisch Kranke und Behinderte im Abseits der Psychiatriereform. Stuttgart

Kunze, Heinrich. (1984). Psychiatrie-Reform der Gegenwart: Fortschritt und seine Opfer. In: Dörner, Klaus (Hg.) Fortschritte der Psychiatrie im Umgang mit Menschen. Wert und Verwertung des Menschen im 20. Jahrhundert. S. 148- 162, Rehburg Loccum

Modellverbund „Ambulante psychiatrische und psychotherapeutisch/psychosomatische Versorgung. (1988.) Beschütztes Wohnen für psychisch Kranke und behinderte Menschen. Praktische Erfahrungen und Empfehlungen. Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Band 221. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart

Rosemann, Matthias. (1999) Zimmer mit Aussicht. Betreutes Wohnen bei psychischer Krankheit. Psychiatrie Verlag. Bonn

Siemen, Hans-Ludwig, Menschen blieben auf der Strecke, Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütesloh 1987

Thom, Achim, Erscheinungsformen und Widersprüche des Weges der Psychiatrie zu einer medizinischen Disziplin im 19. Jahrhundert. In. Thom, Achim (Hg), Zur Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Berlin 1984

Veltin, Alexander, „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Chronisch psychisch Kranke: Was hat sich im Umgang mit Ihnen verändert? In: Thom, Achim; Wulff, Erich, Psychiatrie im Wandel. Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West. Psychiatrie Verlag, Bonn 1990, S. 215-236


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