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Das kleine ABC der Psychiatrie (2015/2016) komplett

 


Ein erfahrener Kreis von Autorinnen und Autoren um Peter Mannsdorff aus Berlin, Bielefeld und Hannover hat an dieser Stelle von Anfang 2015 bis März 2016 Buchstabe für Buchstabe ein illustres A bis Z der Psychiatrie zusammengestellt.

Um Verwechslungen zu vermeiden und den Trialog zu fördern, sei an dieser Stelle auf das sehr lesenswerte Glossar ABC der Psychiatrie des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden verwiesen, das relevante Psychiatriebegriffe von Abhängigkeit bis Zwangsmaßnahmen fachlich erläutert.

Das kleine ABC – Eine Bestandsaufnahme der besonderen Art ist als Buch im Berliner Shift-Verlag zu bestellen (siehe dort bzw. bitte eine E-Mail an: p.mannsdorff@t-online.de).
(Titelbild rechts von Arnhild Köpcke, Letter bei Hannover)

Wir wünschen viel Spaß bei der Lektüre – und freuen uns natürlich über Rückmeldungen!

Statt eines Vorwortes (3.1.2015)
von Peter Mannsdorff

Am Anfang hatte Hartwig Hansen die Idee und ich die Vision, dass daraus etwas werden könnte. Ich griff die Idee vom ABC der Psychiatrie gerne auf und bald wurde daraus ein Wir – es beteiligten sich viele an der literarischen Umsetzung. Der Paranus Verlag gab unseren Inhalten die Möglichkeit, dieses ABC Schritt für Schritt hier, auf der Startseite seiner Homepage, zu veröffentlichen. Dafür danken wir herzlich!
Was ich dabei besonders hervorheben möchte, ist die Betroffenenpower, die bei diesem Projekt entstanden ist. Wir sind wer, wir haben etwas auf die Beine gestellt, wir haben allen gezeigt, dass unser Netzwerk funktioniert.
Also, Betroffene und Erfahrene im ganzen Lande, lasst uns Selbstbewusstsein zeigen, wir müssen uns behaupten – gegen Ärzteschaft, Gremien, Institutionen, Behörden und Ämter ... und offenbar auch gegen Verlage.
Denn – das muss auch erwähnt werden – unser Projekt wurde zunächst von allen einschlägigen Verlagen abgelehnt, die sich psychiatrische Themen – also auch die Interessen Betroffener? – auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Als ich nach dem ersten Vorschlag zu einem ABC der Psychiatrie sofort ein Brainstorming machte, um Schlüsselbegriffe zu sammeln, wollte mir das noch einleuchten. Was sollte ein seriöser Verlag mit Stichworten wie Fluchten anfangen? Sollte ich Anekdoten darüber schreiben, wie ich Pfleger Klaus in der Cafeteria austrickste, indem ich ihn in die Schlange zum Kaffeeholen schickte, während ich dann flitzte; könnte ich bei den fachlich ausgerichteten Verlagen überhaupt mit so alltagssprachlichen Stichworten wie Quasselstrippen landen?
Wie sollte das alles zusammenpassen?
Während mir ein anderer Verlag letztendlich auch eine Absage schickte, gab mir einer seiner Lektoren wenigstens einen wertvollen Ratschlag: Wenn ich das ABC-Projekt im Alleingang machte, sagte er, wäre der subjektive Standpunkt störend. Holte ich andere Co-Autoren ins Boot, würde die Summe der subjektiven Perspektiven einen gewissen Mantel an Objektivität ergeben.
Und so wurde ich zum Jäger und Sammler.
Ich jagte potenzielle Autoren und sammelte ihre Texte. Auf Lesungen machte ich Werbung für – noch – mein Projekt. Ich bekam eine hochphilosophische Abhandlung in PDF-Format zugesandt, die ich nie hätte korrigieren dürfen, da jedes Wort stimmte.
Eine Lyrikerin nahm dankend meine Emailadresse entgegen und schickte mir ihren Lyrikband, auch als PDF – keinen ABC-Buchstaben.
Erfolgreicher wurde die Sache in meiner Literaturgruppe Funkenflug. Nicht alle, aber einige versprachen, sich mit Artikeln zu engagieren. Als Sabine Wilde und ich uns immer öfter nach der Arbeit trafen, und dann noch Fanni hinzukam, war aus meinem Projekt längst unser Projekt geworden.
Als wir dann eines Tages mit unserer Textesammlung wieder bei Hartwig Hansen vorstellig wurden, war die Ăśberraschung groĂź: Ohne Diskussion, ohne ein Hin und Her an Briefen, gab er uns das Versprechen, mit unserem Kleinen ABC der Psychiatrie an eine breitere Ă–ffentlichkeit zu treten.
Wir freuen uns sehr darĂĽber und sind gespannt auf Ihre Reaktionen und RĂĽckmeldungen, wozu Sie im Jahr 2015 jede Woche eine neue Chance bekommen werden.
Schicken Sie Ihre Nachricht einfach an: p.mannsdorff@t-online.de
Klar bleibt ein Rest an Zweifeln und Fragen: Warum nur auf der Homepage? Warum kann es kein Buch werden? Warum haben betroffene Autoren, die rein literarische Texte über ihre Psychiatrieerfahrung schreiben, keine Lobby in den drei bis vier einschlägigen Verlagen, die es in Deutschland gibt?
Das verkauft sich nicht, das lesen die Leute kaum, ist die einschlägige Antwort, die man uns gibt. Das rentiere sich einfach nicht.
Wieder einmal ein Armutszeugnis fĂĽr den Kapitalismus ...
Zum GlĂĽck haben wir den Selbstverlag fĂĽr unser Projekt, der unser ABC zu Papier bringen wird ... Wie gesagt: Betroffenenpower und langer Atem.
Nun wĂĽnschen wir Ihnen viel SpaĂź bei dem jede Woche um einen neuen ABC-Text fortschreitenden Jahreskalender!

Peter Mannsdorff und das Team der ABC-Schreibenden

Peter Mannsdorff, geboren 1957 in (West-) Berlin, brach nach einem seelischen Zusammenbruch sein Romanistik- und Germanistikstudium ab und ĂĽbte danach verschiedene Jobs aus. Seit 1990 schreibt er ausschlieĂźlich, verfasst u. a Kinder- und JugendbĂĽcher. Seit 2001 bei Funkenflug, dem Kreativbereich der ajb Kreuzberg, aktiv. (p.mannsdorff@t-online.de)


A – wie Angehörige psychisch Kranker (ApK) (3.1.2015)
von Manuel Rabek

Jeder oder fast jeder, der psychisch erkrankt ist, hat auch einen Angehörigen, der mit dem Erkrankten leidet. Verbal aggressive Ausbrüche des Sohnes, der Tochter oder des Partners, oft auch eines Elternteils können an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit gehen.
Um innerlich überleben zu können, suchen viele Angehörige Zusammengehörigkeitsgefühl, Rat und Austausch unter anderen Mitleidenden. Vor Jahren schlossen sie sich zu einzelnen Landesverbänden (ApK) mit zahlreichen Untergruppierungen zusammen. Der Bundesverband Angehöriger psychisch Kranker hat seinen Sitz in Bonn. www.bapk.de
Eine Sondergruppe unter den Angehörigenverbänden sind die Kinder psychisch kranker Eltern (www.netz-und-boden.de), haben es Kinder doch besonders schwer, ihre Leiden und Nöte zu artikulieren. Wenn man von den Angehörigen psychisch Kranker spricht, hat man oftmals den Partner oder die erkrankten Kinder im Blick, aber oft werden gerade die Kinder vergessen, die unter ihren betroffenen Eltern zu leiden haben, und die oft hilflos den Turbulenzen ausgesetzt sind, die das erkrankte Elternteil in die Familie bringt.
Einige Eltern Betroffener halten nichts davon, sich im ApK zu organisieren. „Es reicht, dass dich dieses tragische Schicksal getroffen hat“, sagen sie ihren Kindern. „Da wollen wir uns nicht noch mit geplagten Eltern anderer kranker Kinder auseinandersetzen.“
Die einzelnen Verbände laden ihre Mitglieder regelmäßig zu Kongressen und Vorträgen kompetenter Ärzte und anderer Fachleute ein.
Die im ApK organisierten Eltern sehen die Sinnerfüllung ihres Wirkens darin, ihren betroffenen Angehörigen zu helfen. Dabei ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie irgendwann auch an sich denken müssen, um nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu stoßen. So ist es denkbar, dass Eltern während kritischer Zeiten ihrer Kinder für sie da sind, aber wenn der Sohn oder die Tochter stationär untergebracht ist, sollten sie sie sich eine Auszeit gönnen, um auch mal ‚auszuatmen’.
Manche Angehörige veröffentlichen Erlebnisberichte über ihre kranken Kinder. Das dient mit Sicherheit der eigenen Aufarbeitung und ist als Ratgeber für andere Angehörige nützlich, doch von Betroffenenseite hört sich das nicht immer positiv an: Welcher kranke Sohn möchte schon, dass Details über seine akuten psychischen Ausnahmezustände öffentlich gemacht werden?
Die Angehörigengruppen psychisch Kranker sind nicht nur eine Plattform für Angehörige, sondern auch ein Forum für Betroffene. Manchmal kommen sie auch zu Wort, wie damals die inzwischen verstorbene Stimmenhörerin Hannelore Klafki.
Symptomatisch für viele Mitglieder ist, dass an den Bücherständen auf Veranstaltungen fast nur Männer zur Fachliteratur greifen, um das Leiden ihrer Kindern zu verstehen, während die Mütter schon eher einmal belletristische Literatur von Betroffenen kaufen, um auch in die Gefühlswelten der Leidenden einzusteigen.


A – wie Armut (10.1.2015)
von Peter Mannsdorff

Menschen aus sozial schwachen Schichten sind prädestinierter für psychische Krankheiten. Das ist eine Tatsache.
Nahezu 22% aller Kinder und Jugendlichen zeigen psychische Auffälligkeiten wie z.B. Ängste (10%), Störungen im Sozialverhalten (7,6%) oder Depressionen (5,4%). Und da sind es gerade Kinder aus sozial schwachen Familien, die diese Krankheitsrisiken aufweisen.
Erwachsene, sind sie erst einmal durch leichte psychische Defekte wie mangelnde Belastbarkeit arbeitslos geworden und haben sich somit der Armutsgrenze genähert, geraten sie leicht in einen Teufelskreis, denn das Risiko zu weiteren, jetzt ernsthafteren psychischen Erkrankungen erhöht sich.
Nehmen wir eine junge Frau – Claudia. Sie erleidet während ihres Studiums eine schizophrene Psychose, hat Wahnvorstellungen, hört Stimmen und muss ihr Studium abbrechen. Sie findet auch später nicht den Mut und die Kraft, es wieder aufzunehmen und abzuschließen; sie wird wieder rückfällig und wird in der Klinik, in der sie behandelt wird, in ein psychiatrisches Korsett gezwängt, d. h. sie muss nach ihrer Entlassung jeden Tag in der Woche als ambulante Patientin an der Ergo- und der Musiktherapie und an der Koch- und Psychosegruppe teilnehmen.
Ihre soziale Talfahrt geht steil bergab. Claudia ist jetzt voll integriert in ihr neues Milieu. Sie geht einer Zuverdienstsarbeit für 1,50 € / Stunde nach; die Medikamente geben ihr einen Heißhunger, sie nimmt zu, ihre Kleider passen ihr nicht mehr, sie muss neue kaufen.
Hinzu kommt, dass sie sich in der Klinik das Rauchen angewöhnt hat, das frisst alles Geld. Ein wahrer Teufelskreis! ...
Eine Kollegin eines Berliner Zuverdienstes für seelisch belastete Menschen, die unter ähnlichen Umständen wie Claudia in die Szene geraten ist, hatte Lust auf einen Flachbildfernseher – mein Gott!, darf das denn nicht erlaubt sein, nur weil man arm ist? – jetzt stottert sie das Gerät monatlich ab. Doch nun fehlt es ihr an anderen Stellen. Für den Monat Dezember kaufte sie sich keine Monatskarte für die Verkehrsmittel, prompt kam sie in eine Kontrolle – 40 € Strafe. Jetzt hat sie ihr wertvolles Fahrrad an einen Kollegen für 40 € verkauft.
Ein Teufelskreis ...


B – wie Beziehungen aufbauen (17.1.2015)
von Fanny Seelfin

Einsamkeit kann auch krank machen! Genau wie Unterforderung und Überforderung Depressionen oder andere Krankheiten hervorrufen können, ist Einsamkeit oft furchtbar zu ertragen. Allerdings ist es auch leider so, dass eine psychische Krankheit zu Einsamkeit führen kann. Entweder weil man durch sie die Arbeit verloren hat und man im beruflichen und sozialen Umfeld stigmatisiert wird. Längere Ausfälle, bedingt durch Klinikaufenthalte, können Beschäftigungsverhältnisse, leider auch Freundschaften, auf Dauer gefährden. Manchmal ist es unwiederbringlich.
Umso wichtiger ist es, Beziehungen aufzubauen. Freundschaften und Bekanntschaften sind fĂĽr jeden Menschen wichtig. Wie wichtig ist es dann erst bei einer eventuellen Erkrankung, Kontakt zu seinem sozialen Umfeld zu halten und sich auszutauschen, sei es in Selbsthilfe und besonders in Freundschaften!
Diese Freundschaften müssen sich gar nicht auf Gespräche über Krankheit beschränken, sie können sich aus gemeinsamen Interessen, Hobbys o. Ä. entwickeln.
Aber auch rund um die Krankheit können Freundschaften und Selbsthilfegruppen ein sehr wichtiger Halt sein: In gegenseitiger Hilfe und wichtigen Gesprächen kann man sich aufbauen.
Beziehungen zu seinem sozialen Umfeld sollte niemand aufgeben, sondern im Gegenteil sie weiter entwickeln. Wenn man manchmal in Selbsthilfetreffs oder Kontaktcafés beobachtet, wie schweigend und fast schon stoisch manche Besucher Karten spielen und kaum ein Wort miteinander wechseln, ist das schon ein trauriger Anblick. Man sollte miteinander ins Gespräch kommen!
Kultur kann und sollte dafĂĽr auch ein wichtiger SchlĂĽssel sein.
Mir sind Beziehungen sehr wichtig, aber ich weiĂź, ich muss sie auch pflegen. Es gab Freunde, die sich als die falschen Freunde erwiesen, doch die wahren sind geblieben. Einige Freundschaften halten bereits 24 Jahre, teilweise sogar ĂĽber Kontinente verstreut.
Sehr wichtig sind mir auch Freunde, mit denen ich gemeinsame Interessen teile und mit denen ich mich rege über das Schreiben, Bücher oder Musik sowie Kunst austauschen kann. Auf Lesebühnen, in Schreibkreisen und einem Autorenverein kann ich sehr bereichernd meinen Interessen nachgehen, dabei entwickeln sich wertvolle Freundschaften. Genauso über die Musik. Spannend, was sich sogar daraus bis heute entwickelt hat – sogar eine Partnerschaft, die mich mit Liebe erfüllt.
Wie auch immer jeder seine Beziehungen aufbaut oder aufbauen will, ich wĂĽnsche viel Freude und Erfolg dabei. Mit guten Freundschaften wird das Leben in jedem Fall eine Bereicherung, eine groĂźe Freude und mehr Halt sein!

Fanny Seelfin, geb. 1967 in Berlin-Köpenick, Studium für Studienrätin in Musik und Deutsch. Tätigkeiten als Lehrerin u.a. Arbeitet heute als Autorin. Zahlreiche Lesungen und Veröffentlichungen in Lyrik und Prosa.


B – wie Bipolar (24.1.2015)
von Peter Mannsdorff

Was inzwischen als bipolar benannt wird, wurde vor einigen Jahren noch als manisch-depressiv bezeichnet. Allein die in dem Begriff genannten Pole deuten auf das Krankheitsbild hin: Das Pendel zwischen dem Himmel hoch jauchzenden GlĂĽcksgefĂĽhl und der zu Tode getrĂĽbten Mattheit.
Es ist den Betroffenen in der Regel unmöglich zu rekapitulieren, wie im Einzelnen alles begonnen hat, welche Auslöser dafür sorgten, dass sie die Depression schleichend oder die Manie derart explosionsartig aus dem Gleichgewicht brachte. Der Sumpf der Ursachen ist meistens zu morastig, um trockengelegt zu werden.
Als ein Auslöser, bedingt durch äußere Umstände, für die depressive Seite des Bipolaren könnte folgendes Fallbeispiel herhalten: Du verbringst ein Jahr im Ausland, das von seiner Mentalität lebendiger, sprudelnder ist, du hast deine große Liebe drüben kennen gelernt, musstest sie aber zurücklassen, weil dich eine innere Stimme zum Studium rief.
Aber sie wird nachkommen. Deine Gewissheit.
Ein großes Stück deiner Identität ist bei ihr geblieben; mit ihr warst du halber Franzose, jetzt bist du nur Deutscher. Alles wird fade, du siehst die Welt durch eine trübe Scheibe; der Herbst kommt, der Wind wirbelt tote Blätter auf. Zwischen den harten Lauten der deutschen Sprache willst du französische Worte hören.
Du liegst auf deinem Hochbett, Zigarettenqualm brennt in den Augen; der Abstand zwischen Zimmerdecke und Hochbett wird immer schmaler. Du wirst zerdrückt, bleibst reglos auf dem Rücken liegen wie ein Käfer.
Das Telefon klingelt, du nimmst nicht ab. Du willst von niemanden etwas wissen. Auch von ihr nicht. Sie kommt sowieso nicht, zu oft hat sie ihre Ankunft verschoben. Du schaust in dein Leben wie in einen blinden Spiegel; jeder Tag wie der andere. Den Glauben an dich hast du längst verloren.
Du beginnst die Tage zu notieren, an denen du nicht auf die Straße gehst, als wolltest du einen Rekord aufstellen. Quälen willst du dich, dich im Mitleid suhlen. Zur Uni gehst du nicht mehr. Du scheust deine Kommilitonen, die Seminare so anonym, alles so unpersönlich, jeder eine Marionette ohne Gesicht.
Du machst dir Gedanken über deine Rolle in diesem Leben ... die einzige Antwort: Zum Selbstmord geboren. Du kannst nicht mehr, hast keine Kraft; besorgst dir in der Apotheke Schlaftabletten und weißt doch, sie haben kaum größere Wirkung als Hustenbonbons.
Eine Geste! Nichts als eine Geste. Natürlich schläfst du im Wasser der Badewanne nicht ein - der Tiefpunkt ist erreicht, es geht allmählich wieder bergauf.
Ein Fall eines Suizidversuchs der soften Art. Ernstgemeinte Selbstmordversuche enden oft fatal. Es gibt nicht wenig Verzweifelte, die konsequenter planen. Sie springen vor Züge, von Häusern oder schneiden sich die Pulsadern auf. Ein Jammertal! Viele finden ihren einzigen Ausweg im Unwiederbringlichen.
Wenn du zu den Glücklichen gehörst, die überlebt haben oder ihrer Umwelt nur ein Zeichen setzen wollten, spürst du bald, oft bedingt durch die helle Jahreszeit und dem damit auffrischenden Frühling, es geht dir wieder besser, du fühlst, als hättest du dich während deines Tiefs mit deinem Denken, Empfinden in einem Vakuum befunden, nun bläst eine frische Brise durch dich hindurch. Du willst leben, nur leben. Vergessen die Hölle vom Winter. Hürden nehmen wie junge Pferde. Das Leben ist ein Fest! Auf einmal kannst du alles, schaffst alles. Du trägst den Globus auf den Schultern. Du läufst in Siebenmeilenstiefeln durch die Welt, die auf einmal so grenzenlos schön ist. Fährst wie Rockefeller mit dem Taxi durch die Stadt, nimmst schwarz die Bahn mit dem Papa-wird’s-schon-richten-Scheck. Da ist es auch kein Kunststück, zu ihr nach Frankreich zu fahren und nicht an der Enttäuschung zu zerbrechen, wenn sie inzwischen einen anderen hat. Denn deinen Schmerz bunkerst du hinter Betonmauern ein, die von Außen bunt bemalt sind. Von Innen strahlt Glück, mit dem du deinen traurigen Kern umhüllst hast, deinen Mitmenschen entgegen. Geborgte Lebenslust, überschwängliche Euphorie – aber niemand ahnt, wie es wirklich in dir aussieht, niemand ahnt, dass deine Manie eine verkappte Depression ist.
Das Markante an der Manie ist, du bist desorientiert in der Welt, du lässt dich nicht mehr von der Ratio leiten, sondern von Assoziationen, die dein Handeln bestimmen. Oft sind es Textstellen von Liedern, die auf dich wie Aufträge wirken.
Das Bipolare in uns ist kein gesetzlicher Dauerstand. Es stellen sich – toi toi toi - auch längere Phasen von beruhigten Normalzuständen ein. Die darauf einsetzende Depression ist kein Muss. Manien sind für die Betroffenen angenehmer auszuhalten, aber der Scherbenhaufen, muss hinterher jedes Mal erst einmal weggekehrt werden.
Die Depression ist Deutschlands größte Volkskrankheit. 6,3% der Bevölkerung leidet darunter; 15% der Schwerstbetroffenen sterben tatsächlich im Suizid. 30% aller Deutschen hatten schon einmal mit einer Depression zu tun. 3% leiden insgesamt an bipolaren Störungen, das sind in etwa zwei Millionen Menschen.
Jedoch die Hoffnung stirbt zuletzt! Der optimistische Glaube, dass irgendwann das Pendel in uns nicht mehr schwingen mag, lässt uns schließlich nicht aufgeben ...

Weitere Informationen finden Sie unter: www.bipolaris.de
und: http://dgbs.de/service/literatur/


Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V.
Der BPE (www.bpe-online.de) ist die bundesweite Interessenvertretung fĂĽr psychisch kranke Menschen in Deutschland, die zumeist schlechte Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben.


C – wie Cannabiskonsum (31.1.2015)
von Peter Mannsdorff

Man stelle sich ein Heim für seelisch belastete Menschen vor. Eines Tages schlägt der Arzt Alarm und ordnet eine gesonderte Gruppe an. Mit gewichtigen Worten eröffnet er die Sitzung: „Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, hat sich in den letzten Wochen bei uns eine Szene etabliert, die man auch Drogenszene nennen könnte.“
Schweigen. Keiner weiĂź etwas.
Der Arzt weist auf Gefahren von Rauschgift für gefährdete Psychotiker hin. Es gäbe da chemische Prozesse, die eine Psychose bei Drogenkonsum leichter auslösen könnten. Man würde schnell im benebelten Rauschzustand auf Denkschablonen zurückgreifen, die das Hirn in früheren krankhaften Phasen bereits bestimmt hätten. „Wenn Sie es bildhafter wollen, ist das, als wenn man einem Trabbi, der sich für einen Mercedes hält, Porschereifen anmontiert. In der nächsten Kurve fliegt er dann raus, weil er sich jetzt für ein Rennauto hält.“
Der Arzt schließt seinen Vortrag mit: „Für einmal Haschischkonsum eine Verwarnung – beim zweiten Mal droht der Rausschmiss aus der Einrichtung.“
Im weiteren verweist er auf eine australische Studie, in der 3800 junge Erwachsene um zwanzig zu ihrem Cannabiskonsum befragt wurden. Laut der Studie hatten Langzeitkonsumenten doppelt so hohes Risiko, an psychotischen Symptomen und Halluzinationen zu leiden als Studienteilnehmer, die noch nie mit Cannabis in BerĂĽhrung gekommen waren.
Im Heim wohnt ein junger Mann, er heißt Raymond. Er hat sich in Vanessa mit der blauen Stirnlocke verliebt. Heute endlich besucht sie ihn in seinem Zimmer. Halb schüchtern, halb aufdringlich, macht er Anstalten, sie zu streicheln. Vanessa wehrt zunächst ab. „Wenn du mich streicheln willst, musst du einen Zug nehmen!“
Sie hat sich inzwischen eine Zigarette angezĂĽndet.
„Wieso, was ist das?“
„Riechst du nichts?“ Vanessa grinst.
Raymonds Herz bleibt stehen!
Das darf nicht wahr sein! Shit!!!
Eben hat er noch in der Gruppe getönt, dass er niemals kiffen würde, und jetzt das! Was soll er machen? Vanessa sein Kätzchen, er ihr Wollknäuel. Zaghaft zieht er am Joint.
„Richtig inhalieren!“ befiehlt Vanessa. „Das gĂĽldet nicht.“
Er zieht stärker, inhaliert den Rauch und merkt, wie sein Schädel langsam leicht wird, wie er sich eine andere Welt der Wahrnehmung in seinen Kopf saugt. Gierig zieht er noch einmal und noch einmal.
„Nicht heiß rauchen!“
Er streichelt ihren Rücken, drängt sie aufs Bett. Vor Freude wird er übermütig: „Darf ich dich küssen?“
„Erst noch einen Zug.“
Das ovale Hochzeitsfoto, das er mal einem Weinbauern wegen Unterbezahlung aus der Gerümpelkammer geklaut hat, rückt von der Seite her immer näher; der Bauer wird größer und verwandelt sich in den Vater: „Du hast gestohlen, mein Sohn.“
Die berüchtigten chemischen Prozesse setzen ein. Die Augen nehmen nur noch winzige Details wahr und lassen sie an Eigenleben gewinnen. Vanessa ist halb ausgezogen, liegt auf dem Bett, hat den Kopf auf den rechten Arm gestützt und guckt den Samowar aus Moskau an. Er streichelt ihre Brüste und vergräbt sich in ihr Gesicht, in ihre Augen, ihre Wimpern. Fotolinsen, assoziiert er spontan. Ihre Augen sind Fotolinsen. Er kommt zu der umwerfenden Erkenntnis, dass das menschliche Auge wie ein Fotoapparat funktioniert und die Bilder aus der Umwelt in der Seele speichert. Raymond schaut in Vanessa hinein, er sieht in ihre Seele. Er sieht eine Abfolge von schattenhaften Gestalten wie einen Film im schummrigen Kerzenlicht auf ihren Schläfen an sich vorbeiziehen, er sieht Menschen, an die Vanessa gerade denkt. Camera obscura – seine Erkenntnis. Genial!
Noch einen Zug, Sucht! Die Psychose sucht sich ihren Weg. Tage- wochenlang kiffen die beiden in ihrem Liebesnest. Nicht an Konsequenzen denken, nicht jetzt. Die gibt es aber bald reichlich. Raymond bekommt seinen typischen Ideenschub, der sich in einem wasserfallartigen Wortschwall äußert, von keinem mehr zu bremsen. Er schläft nächtelang nicht, rennt von Wohngruppe zu Wohngruppe und mobilisiert mit der typischen, oft hypnotisierenden Ausstrahlung eines Psychotikers eine kleine Anzahl von Bewohnern für die Einberufung einer Vollversammlung, um die Diktatur der Psychopharmaka zu stürzen.
Vanessa leidet unter einer introvertierten Psychose, redet nicht mehr, kriegt nichts mehr mit, lebt in ihrer Welt. Als sie die Milch beim FrĂĽhstĂĽck in den Aschenbecher gieĂźt und am Abend die KĂĽche mit ihrem Zimmer verwechselt und sich mit Bettzeug auf den Boden legt, holt der Arzt den Krankenwagen.
Sie hatten beide vom verbotenen Apfel genascht und wurden dafĂĽr aus dem Paradies geschmissen. Ă„pfel sind in unserer Kultur nicht heilig wie in Indien KĂĽhe heilig sind und damit tabu fĂĽr den Verzehr. Rauschgift dagegen ist tabu, also ist es nur logisch, dass Adam und Eva damals einen Joint rauchten. Raymonds letzte Erleuchtung, bevor auch er im Krankenwagen abgeholt wird.
Erleuchtung hin – Erkenntnis her: Die angekündigten Verwarnungen bleiben nicht aus.

Peter Mannsdorff, Szene aus: ‚Das verrückte Wohnen’ , Balance buch + medien Verlag, Köln


D – wie Depression I (7.2.2015)
von Sabine Wilde

Ich fühlte mich wie in einem dunklen Gefängnis. Die Tür war offen, doch ich war unfähig, hindurchzugehen. Meine Trauer war so stark, dass sie mich einfror, mich starr und steinern machte. Nichts ging mehr in meinem Leben. Ich war unfähig, mich zu waschen, mich anzuziehen, Kochen und Saubermachen ging schon gar nicht. Mein Gang war schleppend, als hätte ich Bleischuhe unter den Sohlen.
Meine Seele hatte sich eingerollt wie ein trauriges Kind, das sich zusammenkauert und die Knie umschlingt. Auf Menschen einzugehen, war mir in diesem Zustand unmöglich.
Ich hatte eine reaktive Depression. Meine Mutter war gerade gestorben, und auf meiner Arbeit war ich überfordert. Zum Glück fand ich eine gute Therapeutin, die mir durch diese dunkle Zeit half. Auch ein leichtes Anti-Depressivum half. Während meiner depressiven Phase brachte ich oft meine Umwelt gegen mich auf, indem ich gut gemeinte Ratschläge nicht annahm und nur mit leiser Stimme über mein Leiden jammerte. Doch die Wut der anderen war auch meine eigene Wut, die ich auf sie projizierte.
Heute werden die meisten depressiven Menschen mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern behandelt. Man geht davon aus, dass bei depressiv Erkrankten der Botenstoff Serotonin nicht genügend ausgeschüttet wird. Die Wiederaufnahmehemmer entfalten ihre Wirkung am Serotonin-Transporter, der den Botenstoff in der Gewebsflüssigkeit des Gehirns erhöht. Nach meiner Erfahrung und den Berichten anderer Betroffener sind diese Mittel eine große Hilfe.
AuĂźer der reaktiven gibt es die endogene und die larvierte Depression. Die endogene Depression entsteht aus dem Ungleichgewicht von Neurotransmittern im Gehirn. Diese Neurotransmitter sind Botenstoffe, die fĂĽr die Ăśbertragung von Reizen wichtig sind. Die endogene Depression kommt von innen heraus, ist oft erblich bedingt.
Larvierte Depressionen werden als Schmerzen im Körper manifest, die jedoch auf eine starke Trauer zurückzuführen sind, die der Betroffene nicht unbedingt als Symptome einer Depression wahrnimmt. Somit können zum Beispiel auch starke Rückenschmerzen eine psychische Ursache haben.
Wenn jemand länger als zwei Wochen unter starker Niedergeschlagenheit leidet, sprechen Fachleute bereits von Depression. Weitere Anzeichen: Appetit- und Antriebslosigkeit, große Schuldgefühle und Schlaflosigkeit.

Sabine Wilde, Jg. 1956, schreibt, um Erlebnisse zu verarbeiten, und das seit nunmehr 30 Jahren. Sie versetzt sich gern in Menschen und deren Schicksale. Seit 2011 arbeitet sie im Funkenflug mit. Kontakt: sabinewilde66@yahoo.de


D – wie Depression II (14.2.2015)
von R. G.

Nach meiner Psychose war ich zu einem Niemand geworden. Nachdem sie im Krankenhaus durch Medikamente abgeklungen war, bekam ich eine postpsychotische Depression, und zwar eine sehr schwere.
Als ich zur Besinnung kam, fand ich mich in einem kalten Bett wieder. Außerhalb des Zimmers, das ich mit zwei anderen Mitpatientinnen teilen musste, gab es einen langen dunklen Korridor, den ich zwei- bis dreimal am Tag zu den Mahlzeiten durchlief. Den Rest der Zeit, die mir unendlich schien, lag ich auf dem Bett mit dem Gesicht zur Wand. Ich wollte nicht den geringsten Kontakt zu den anderen haben. Ich rollte meinen Körper wie ein Embryo ein und starrte auf einen kleinen kreisförmigen Fleck an der Wand. Ich hatte einen völlig leeren Kopf ohne jegliche Gedanken. Mein Selbstbewusstsein war auf dem Tiefpunkt angelangt. Ich schaute stets auf den Boden, weil ich Angst hatte, dass irgendjemand mich ansprechen könnte. Ich hatte vor allem Angst, auch vor meinen Zimmernachbarinnen. Der einzige freudige Moment für mich war die Zeit des Frühstückens, wenn ich den Geschmack der Marmelade, gemischt mit Brötchen und Butter, in den Mund bekam.
Dieser Moment war der einzige Sinn in meinem Leben.
In dieser tiefen Depression hatte ich mein Selbstwertgefühl völlig verloren. Ich ließ mich von den Mitpatienten erniedrigen. Ich konnte und wollte mich nicht verteidigen und fand mich wehr- und wertlos. Wenn ich zu den Mahlzeiten aufstand, schlich ich den Gang oder Korridor zum Essraum mit gesenktem Kopf entlang. Auf dem Korridor traf ich jedes Mal eine Schwester, die mir eine Grimasse schnitt, was für mich bedeutete: Sind Sie aber feige!
Einmal sagte sie mir direkt ins Gesicht, dass ich auf Kosten des Staates lebte. Ich bekam ein fĂĽrchterlich schlechtes Gewissen.
Diese Schwester hat mich so gequält, dass ich mich schließlich freiwillig entlassen ließ, obwohl es sicherlich zu früh war.
Zu Hause verbrachte ich nun die Zeit liegend auf der Couch ganz allein. Alles blieb beim Alten, außer dem Frühstück – das gab es nun nicht mehr. Ich verließ nie die Wohnung, außer zum Einkaufen, und das auch nur einmal in der Woche. Samstags kurz vor 16 Uhr ging ich raus, denn Aldi hatte um 16 Uhr Ladenschluss. Es waren immer die gleichen Dinge, die ich kaufte, ich aß lediglich Brot mit Käse.
Mein Mund war stets geschlossen. Ich sprach mit niemandem. Ich lag tagsĂĽber auf der Couch und abends im Bett. Das war fĂĽr mich der einzige Unterschied zwischen Tag und Nacht, ich lag immer. Ich konnte nie schlafen.
Der beste Moment des Tages war, abends um 21 Uhr schlafen gehen zu dürfen. Vielleicht, wenn ich Glück hatte, schlafen und träumen. Aber ich konnte nie schlafen. Ich lag immer wach mit tödlich schlechten Gedanken und abscheulichen Vorstellungen, die mich quälten. Es war meine innere Welt, die mein Leben für mich unerträglich zur Hölle machte.
Ich konnte nicht lieben. Keine Kinder, keine Bäume, kein Meer. Jean-Jacques Rousseau sagte: "Nichts lieben? Das ist die Hölle!“
Es war ein bitteres Gefühl. Das Gefühl einer sehr großen Einsamkeit. In dieser Zeit erlebte ich eine Stagnation, sowohl körperlich als auch geistig. Ich erinnere mich, dass ich mich selbst nicht ertragen konnte.
So ging das ein Jahr lang weiter; es ging mir so schlecht, dass ich nicht einmal vor mir selbst fliehen konnte. Eines Tages beschloss ich, die Institutsambulanz fĂĽr ehemalige Patienten aufzusuchen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich dort die weißhaarige Mayte aus Spanien kennenlernte, ich erinnere mich nur, dass sie bald mit mir zusammen wohnte und ich jetzt nicht mehr allein auf mich selbst gestellt war. Mayte war 60 Jahre alt und nahm jeden Abend Schlaftabletten. Außerdem war sie abhängig von einem Beruhigungsmittel. Gleich nach dem Abendbrot schluckte sie ihre Tavor, und schon um zehn Uhr schlief sie. Ich lag auf der Couch, Mayte im Bett; ich konnte nicht schlafen.
Ich hatte nur einen guten Gedanken: Bald wäre Mayte wach und wir würden gemeinsam Mozzarella essen. Das waren immer die Höhepunkte des Tages! Die Einkäufe bestanden nicht mehr nur aus Brot und Käse, sondern waren jetzt reichhaltiger. Am Samstag machten wir nun die Einkäufe zusammen: Rote Tomaten, Knoblauch und Mozzarella. Die Abendmahlzeit war zu einer fröhlichen Zeremonie geworden. Wir genossen unseren Mozzarellasalat mit Olivenöl.
Oft gingen wir in einen kleinen Park, wo es auch einen Kinderspielplatz gab, setzten uns auf eine Bank und knabberten Sonnenblumenkerne. Wir kauten die Kerne und plauderten miteinander. Mayte fĂĽtterte die Tauben.
Und ich habe wieder angefangen zu lieben. Die Tauben, die Kinder, Mayte.
Und mich.

R. G., geb. 1958 in Teheran. Seit ihrem Schauspielstudium in Paris lebt sie seit 1987 in Berlin. Literatur ist für sie der Tanz der Worte und Sätze. Seit 2011 bei Funkenflug.


Dopaminüberschuss (kindgerecht erklärt) (21.2.2015)
von Peter Mannsdorff

Wie soll man das Mysterium der Botenstoffe erklären, die im Hirn eines manischen Menschen vermehrt ausgeschüttet werden? Im Gehirn werden Botenstoffe hergestellt, die zu den Nervenenden geschickt und von dort über Synapsen zu anderen Nerven bis in die einzelnen Nervenzellen weitergeleitet werden. Die fachlichen Erklärungen bei den edukativen Lehrgängen in den Kliniken und Tageskliniken sind oft zu abstrakt. Anschaulicher dagegen könnten kindgerechte Bilder sein, die sich glasklar ins Gedächtnis prägen. Warum sollte, was für Kinder einleuchtend ist, für Erwachsene zu banal sein?
Da wäre zum Beispiel das Ruhrgebiet mit all den vielen Städten, und überall gibt es Fabriken. In jeder Fabrik wird etwas hergestellt. Schaukelstühle, Staubsauger, Kühlschränke. All das muss jetzt in die weite Welt verfrachtet werden. Also werden die Schaukelstühle und Staubsauger in Container verladen und gelangen auf dem Schienenweg in den großen Hamburger Hafen. Alle Container werden einer nach dem anderen mit Kränen in Schiffe gehievt, und dann fahren sie von dort über alle Weltmeere zu allen Hafenstädten der Erde.
So sieht es in einem Gehirn aus, wenn alles normal verläuft. Die Container, das sind die Botenstoffe, die Eisenbahnen die Nerven und die Schiffe fahren zu den Nervenenden am Ende der Welt. Wenn ein Kopf aber psychisch krank oder manisch wird, produziert das Hirn zu viel von dem Glückshormon Dopamin, und das Ganze sieht dann so aus: Im Hamburger Hafen kommen jetzt viel zu viele Züge mit Containern an. In jeder Minute nicht mehr hundert, sondern tausend Stück oder vielleicht noch viel mehr, warum nicht zehntausend? Die Kräne können gar nicht so viele auf einmal heben, sie stürzen unter der Last der Container um, die Schiffe kentern, weil sie falsch beladen werden und Schieflage bekommen – das reinste Chaos im Hamburger Hafen, und der Mensch, in dem es im Kopf so aussieht, wird verrückt.
Der Hafenmeister muss dafür sorgen, dass das Chaos wieder aufhört. Der Hafenmeister, das ist der Arzt in der Klinik. Er trifft Maßnahmen, tut alles Mögliche, damit es dem Patienten bald wieder besser geht. Er stopft ihn mit Medikamenten voll. Manchmal gibt er ihm eine Dröhnung zu viel, sodass dessen Glieder steif wie die einer Schaufensterpuppe werden, er durch die Flure wandelt wie ein Nachtgespenst, doch ist der Stoffwechselhaushalt des Patienten wieder hergestellt, geht auch der Arzt wieder mit der Dosis herunter – hoffentlich!

Szene aus dem Buch von Peter Mannsdorff: Die Mutter aus der Schatzkiste, siehe: www.buchecker-verlag.de


E – wie Einsamkeit (28.2.2105)
von Daniel GieĂźer

Seit geraumer Zeit werde ich von ziemlich fiesen Angstattacken heimgesucht. Ich habe Angst, draußen auf der Straße oder in der U-Bahn von irgendeinem irregeleiteten Menschen verbal oder körperlich angegriffen zu werden.
Gestern betrat ich nachmittags, während der Stoßzeit, eine völlig überfüllte U-Bahn. Während ich mich, wie in einer Konservenbüchse zusammengequetscht an der Seite befand, fiel mir auf, wie unbegründet meine Furcht eigentlich ist. Stattdessen entdeckte ich etwas viel, viel Bedrohlicheres als meine Ängste. Ich sah etwas, das unsichtbar war, aber ich konnte es körperlich fühlen, konnte es anfassen. Ich sah diese Masse an Menschen, die nichts verbindet, mit Fassaden statt Gesichtern, allesamt lose Atome, die durch den leeren Raum des Lebens fallen – jeder für sich allein – direkt ins Nichts. Niemand will etwas mit dem anderen zu tun haben. Jeder zieht Gräben um sich. Obwohl wir uns eigentlich in dem Gedränge so nah sind, drückt doch jedes Gesicht eine besondere Art der Fremdheit und Distanz, ja unüberbrückbare Entfernung aus.
Wenn ich jetzt unter dem Schmerz der Anonymität zusammenbräche, könnte ich auch sicher sein, dass mir jemand hilft?
Mir wird klar, mein Problem ist nicht meine Ängstlichkeit. Die ist nur vorgeschoben vor einem viel gravierenderen Problem. Das Problem einer Gesellschaft, die zu Anonymität und Einsamkeit verurteilt.
Heute Mittag klingelt es an meiner Wohnungstür. Vicky und Thomas – zwei alte Freunde – stehen dort und fragen, wie es mir ginge. Sie hätten mich gestern zur Stoßzeit in der U-Bahn gesehen. Sie hätten mir zugerufen und zugewunken, aber ich hätte gar nicht reagiert, obwohl ich merkwürdigerweise genau in ihre Richtung geschaut hätte, direkt in ihre Gesichter.
Mein Blick habe sie erschrocken, weil er etwas Entstelltes, Stumpfes, ja Abweisendes gehabt hätte. Ob mir etwas fehle, fragen die beiden. Ein kalter Schauer fährt mir über den Rücken. Ich habe gestern also nicht die Einsamkeit der Stadt entdeckt ... ich war gar nicht allein! Ich sah nicht die Mauern der anderen – ich sah meine eigenen Mauern.

Daniel GieĂźer, Jg. 1977. Nach leidenschaftlichem Langzeitstudium kam er 1998 nach Berlin. Er arbeitet seit 2008 in der Literaturgruppe Funkenflug mit.


E – wie Ergotherapie (7.3.2015)
Der Klinikalltag ist am Vormittag wie eine Springflut. Die gesamte Palette an Therapien, die eine Psychiatrie zu bieten hat, wird angeboten. Sie sollen die Patienten wieder auf Vordermann bringen: Da ist zum Beispiel die Musiktherapie, das gemeinsame Kochen, die Psychosegruppe und nicht zuletzt die Ergotherapie, bei der allerdings niemand so recht weiß, was das Wort eigentlich bedeutet. Kommt es von Cognito – ergo – sum? Die frühere Bezeichnung Beschäftigungstherapie wurde zwar verstanden, aber sie war hässlich: Schließlich wollte niemand von uns beschäftigt werden wie Eisbären im Zoo, denen nicht langweilig werden soll und die deshalb ihre Nahrung aus Eisbrocken herauspulen.
Die Ergo wird von den Therapeuten in der Regel dezentriert gestaltet. Sie geben ihren Patienten die Möglichkeit, so lange an einem Bild, einer Vase oder dem Bastkorb zu arbeiten, wie sie es für sich brauchen. Vor Jahren lief das nicht immer so. Da wurde einem unter therapeutischer Anleitung die Lust am Malen genommen. Statt nun zwei oder gar drei Stunden an einem Bild arbeiten zu dürfen, damit es schön wird, musste man sich beeilen; da durfte nur anskizziert werden, man musste klieren, damit man mit den anderen noch rechtzeitig fertig wurde.
Eigentlicher Sinn der Ergotherapie ist es, den Patienten wieder Struktur in ihrem Alltag zu geben, bzw. sie wieder an das Berufsleben heranzufĂĽhren.
Nicht alle Patienten mögen diese Art der Beschäftigungen. Sie haben andere Interessen, andere Neigungen. Oder sie kommen aus anspruchsvollen Berufen und sollen auf einmal Kikikram machen. Und was ist zum Beispiel mit der Schreibtherapie, die in Amerika weit verbreitet ist, während seelisch belastete Menschen in Deutschland wie Analphabeten gehalten werden?
Am Nachmittag ist die Luft dann raus. Leerlauf. Ebbe. GlĂĽcklich jene, welche Besuch bekommen; auch nicht schlecht dran sind Patienten, die Parkausgang oder Landurlaub haben, was heiĂźt, in ihre Wohnung fahren dĂĽrfen, um nach dem Rechten zu sehen.
Der Rest ohne Ausgang erlebt Langweile pur, manche halten ihren Realitätsfluchtfluchtschlaf, vor sich hindösend, selten lesend, ohne Kontakt zum Bettnachbarn. Raucher verkrümeln sich in den Raucherraum, wo manchmal der Bär tobt, meistens jedoch tosendes Schweigen herrscht – Warten auf Godot ...
Kritische Zungen fragen sich, ob dieser Zustand so sein muss. Künstler könnten nachmittags in die Psychiatrien strömen, Schriftsteller, Theaterleute, Musiker. Sie würden nicht nur Abwechslung in den Krankenhausalltag, sondern Kultur zum Anfassen in die Klinik bringen. Eine Kulttour durch die Psychiatrielandschaft, in Kuba schon lange praktiziert.
Es ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes, eher eine Frage der Grundeinstellung der Verantwortlichen. Viele Künstler wären sicher bereit, auch ehrenamtlich aufzutreten.

siehe: Kreativbereich der ajb Kreuzberg (Berlin)
Funkenflug – Theater, Malerei, Literatur
Tel.: 030/61 65 87 82
www.funkenflug-ajb.tumblr.com


E – wie EX-IN (14.3.2015)
von Sibylle Prins

Menschen, die noch nie mit EX-IN Kursen zu tun hatten und darüber nichts wissen, haben manchmal merkwürdig-interessante Erklärungen für diese Abkürzung. So traf ich mehrere, die glaubten, es hätte etwas mit Exklusion – Inklusion zu tun. Was ja noch halbwegs passen würde.
Ein anderer glaubte, es sei ein Wortspiel mit der Redewendung Ex und hopp. Das wollen wir nun nicht hoffen.
Für alle, die auch ratlos sind, hier eine kurz gefasste Erläuterung: EX-IN kommt von dem englischen Ausdruck Experienced Involvement und bedeutet Einbeziehung (Psychiatrie-) Erfahrener.
Es handelt sich um eine Weiterbildung für psychiatrieerfahrene Menschen, in der diese ihre Krisen- und Psychiatrie-Erfahrung so reflektieren, dass sie sie für sich und andere nutzbar machen können. Mit dem Ziel, danach selbst (auf bezahlter Basis) im psychiatrischen/psychosozialen Bereich tätig zu werden, entweder als sogenannte Genesungsbegleiter in der praktischen Arbeit oder als Dozenten/Referenten in der Aus- und Fortbildung psychiatrischer Fachkräfte. Sowie natürlich auch in der Öffentlichkeitsarbeit, in Schulprojekten, in der Peer-Beratung (Peers: Gleiche, d.h. gleichartig betroffene Menschen. Hier: Psychiatrie-Erfahrene beraten Psychiatrie-Erfahrene). Die EX-IN Kurse werden jeweils geleitet von einem Trainer-Tandem aus einem professionellen Trainer sowie einem psychiatrieerfahrenen Trainer (oder eben Trainerin). Auch Angehörige können Trainer werden. Die Trainer durchlaufen einen eigens dafür geschaffenen EX-IN Trainer-Kurs.
Ein wichtiger inhaltlicher Grundsatz in dem Kurs ist die Devise Vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen. Das bedeutet für den Einzelnen, zum einen seine eigene Erfahrung mit anderen zu teilen, zum anderen aber auch, die Erfahrungen anderer anzuhören und aufzunehmen. Sodass dann, statt eines sehr vereinzelten, vielleicht einseitigen Blicks ein gemeinschaftlicher Schatz von Erfahrungen, Sichtweisen, Genesungswegen und Bewältigungsstrategien entsteht.
Wie sieht es dann aber nach dem Kurs aus? Ist die Erwartung überhaupt realistisch, dass Psychiatrie-Erfahrene aufgrund der Absolvierung eines EX-IN Kurses eingestellt werden? Früher (bisweilen auch noch heute) hieß es ja, Menschen mit psychischen Problemen könnten/sollten nicht in sozialen Berufen arbeiten. Schon gar nicht in der Psychiatrie, das war völlig undenkbar. Und nun soll die eigene Krisenerfahrung plötzlich eine Qualifikation darstellen, aufgrund derer man gerade in der Psychiatrie beruflich tätig wird? Das ist doch einigermaßen revolutionär. Wie wird das denn vom professionellen System aufgenommen? Nun, es gibt sicherlich Vorbehalte und Gegenstimmen. Jene etwa, die EX-INler als (Billig)-Konkurrenz zu den klassischen psychiatrischen Berufen ansehen. Oder als Ergebnis von negativen Erfahrungen mit einzelnen EX-INlern. Es gibt aber auch schon viele Mut machende Beispiele. Etwa Kliniken, die EX-IN Absolventen als Stations- und Genesungsbegleiter eingestellt haben. Vereine für ambulant betreutes Wohnen oder Kontaktstellen, die gerne das Erfahrungswissen der Betroffenen nutzen. Die auch miterleben, wie es ihren Klientinnen und Klienten nutzt. Und in immer mehr Ausbildungsgängen für Fachärzte oder Pflegepersonal gibt es psychiatrieerfahrene (Gast-)Dozenten. Oder als Beraterinnen für Teams. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, psychiatrieerfahrene Mitarbeiter in Einrichtungen einzustellen. Aber das Interesse daran wächst spürbar.
Zum Schluss noch eine kleine Anekdote aus einem Kurs: Im Gruppengespräch wollte ein Teilnehmer sagen, jede Krise sei auch eine Chance. Er sagte aber: „In jeder Chance steckt auch eine Krise.“
Nur ein Teilnehmer der Gruppe bemerkte überhaupt diesen schönen Versprecher. Und ja, für psychiatrieerfahrene Menschen können tatsächlich, so tragisch es auch ist, Chancen, insbesondere große und außergewöhnliche, sich auch krisenhaft auswirken. Die Chance der EX-IN Kurse liegt vielleicht darin, eine Krise im Wir wissen alles besser-Verständnis mancher Profis zu bewirken.

Weitere Infos unter www.ex-in.de und in den BĂĽchern von Bettina Jahnke im Paranus-Verlag:
Vom Ich-Wissen zum Wir-Wissen – Mit EX-IN zum Genesungsbegleiter
und
EX-IN Kulturlandschaften – Zwölf Gespräche zur Frage: Wie gelingt Inklusion?

Sibylle Prins, Jg. 1959, (mehrfache Buch-) Autorin und Referentin bei sozialpsychiatrischen Tagungen und Fortbildungen, psychiatrieerfahren seit 1986, seit 1991 aktiv in der Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener. Lebt und arbeitet in Westfalen. Näheres siehe www.sibylle-prins.de
E-Mail: sibylleprins@arcor.de


F – wie Fluchten (21.3.2015)
von Peter Mannsdorff

Das häufig verbreitete Phänomen des Abhauens aus der Klapse betrifft in der Regel weniger depressive als maniforme Patienten. Depressive Patienten suchen in der Klinik Schutz und Geborgenheit vor einer Welt draußen, die sie als roh und kalt empfinden. Maniker dagegen haben oft einen unbändigen Freiheitsdrang; gerade sie halten es nach Wochen und Monaten der Klinikgefangenschaft nicht mehr aus – viele von ihnen türmen auf abenteuerlichen Wegen aus ihren Stationen. Manche nutzen dazu Stationsspaziergänge auf dem Klinikgelände in Begleitung von Schwestern und Pflegern, flitzen davon, mit der panischen Angst im Rücken, sie würden in jedem Augenblick auf der Flucht abgeschossen. Am Klinikeingang entern sie ein Taxi, fahren für 5€ bis zum nächsten U-Bahnhof und – schon sind sie verschwunden im Dschungel der Stadt. Dabei fühlen sie sich wie Helden, versetzen sich in einen Thriller mit Verfolgungsjagd und Untergrundkampf. Aber das Personal macht nicht die geringsten Anstalten, dem Flüchtling hinterherzurennen, sondern es zückt sein Handy wie der Sheriff seinen Colt und löst eine polizeiliche Fahndung aus, falls der Entlaufene eine Zwangsunterbringung hat. In dem Fall, dass er freiwillig in der Klinik ist, bekommt er sie unter Umständen spätestens jetzt.
Die meisten der getürmten Patienten suchen stets wie Linien in einem Gemälde immer wieder dieselben Fluchtpunkte auf: Sie verkriechen sich in ihrer Wohnung, kochen sich einen Kaffe, hören ihre Lieblingsmusik oder ziehen sich eine DVD rein, auf alle Fälle genießen sie ihr kleines Stück Freiheit solange, bis es an die Wohnungstür hämmert und ihnen nichts weiter übrig bleibt, als aufzumachen und sie von der Polizei zurückgebracht werden.
Oder sie tauchen bei dem Partner unter und tanken für ein, zwei Stunden ihre Seele auf, bis ihre Fantasielosigkeit von den intelligenten Schwestern bestraft wird, denn sie können sich denken, wo der entlaufene Patient zu finden ist.
Pfiffigere Patienten, suchen im wahrsten Sinne des Wortes das Weite und trampen oder fahren schwarz mit der Bahn raus aus ihrer Stadt. Dort, wo ich nicht bin, ist das Glück!, ist ihre Devise. Die meisten jedoch haben nicht das seelische Gleichgewicht, aus ihrer kurzen Freiheit eine dauerhafte Freiheit zu machen, denn sie stürzen ab, gehen zum Beispiel, ohne die Rechnung bezahlen zu können, essen. Was kommen muss, kommt. Der Wirt verständigt die Polizei, und die bringt den Zechpreller in eine ihm unbekannte Klinik. Dort bleibt er Tage, Wochen, bis man ihn in einem Krankentransport in die Stammklinik seiner Stadt zurückfährt.
Wer sich in einem verwirrten Zustand auf der Flucht befindet oder sich einfach nur in der Öffentlichkeit bewegt, kann in äußerst gefährliche Situationen geraten: Du schläfst übermüdet liegend auf einer Bank in der S-Bahn, ohne Fahrschein, und wirst von Polizisten wachgerüttelt und aufgefordert, mit ihnen den Zug zu verlassen. Die Beamten überprüfen deinen Ausweis; du kannst wegen der Medikamente nicht stillstehen und bewegst dich tippelnd immer wieder auf die Polizisten zu.
„Stehen bleiben! Nicht vom Fleck rühren“, wirst du wie ein Köter angeschnauzt.
Du näherst dich ihnen immer wieder, nicht um sie zu provozieren, sondern weil du nicht anders kannst. Einer der Polizisten, der anscheinend auch in seinem Gangsterthriller lebt, handelt in heldenhafter Notwehr und sprüht dir eine volle Ladung Tränengas ins Gesicht. Du siehst nichts mehr, es brennt in den Augen, du denkst, du wirst blind und weißt doch, es hätte schlimmer ausgehen können.
Im Sommer 2013 ist es am Berliner Neptunbrunnen schlimmer ausgegangen: Ein verwirrter psychisch kranker Mann ging nackt mit einem Messer auf dem Brunnenrand spazieren. Wieder befahlen Polizisten: „Stopp!“
Warum, zum Teufel, kein Tränengas, wenn sie sich denn so sehr bedroht fühlten? Musste es ein tödlicher Schuss sein, mitten ins Herz?
Zwei Drittel aller Menschen, die pro Jahr von Polizisten erschossen werden, sind keine Schwerstkriminellen, sondern Menschen im psychischen Ausnahmezustand.
Wer aus der Psychiatrie abhaut und seine Freiheit genieĂźen will, sollte es machen wie Hotte. Dem gelang es, mit einem soliden Bahnticket bis nach Neapel zu fahren, und als er kein Geld mehr hatte, gab er nicht auf und damit sich in die Obhut einer Klinik, sondern begab sich auf Wanderschaft, und das konnte er nur, weil seine Seele im Gleichgewicht war und nicht schief an den Seiten herunterkippte.
Er schlief in Weinbergen und Pfirsichplantagen, streckte morgens nach dem Wachwerden die Hände aus und das Frühstück flog ihm wie im Schlaraffenland in den Mund oder er arbeitete bei Bauern gegen Unterkunft und Verpflegung.
Erst in Deutschland geriet er aus dem Gleichgewicht, wurde auffällig und stürzte ab. Mit dem Krankenwagen fuhr man ihn dorthin, wo er nach Meinung der Ärzte hingehörte, bis die Heilbehandlung abgeschlossen wäre.
Hotte saß wieder im verqualmten Raucherraum, drehte sich eine Zigarette nach der anderen und stierte schweigsam zwischen die Mitpatienten ihm gegenüber auf den abbröckelnden Putz der Wände. Hier hatte man sich nichts zu sagen, wen interessierte schon seine Wanderung durch Italien. Jeder hatte seine eigenen Probleme, aber das, was er erlebt hatte, konnte ihm niemand nehmen ... es war eine gewaltige Geste gegenüber den Ärzten und Pflegern gewesen: Alles könnt ihr nicht mit mir machen!


F – wie Forensik (28.3.2015)
von Tina Schmidt

Im Dezember 2011 kam mein Sohn (17 Jahre) nach einer langen Odyssee von Heimen und Psychiatrien in den Maßregelvollzug der Forensik Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Dort wurde ein Gutachten erstellt, in dem er mit paranoider, halluzinatorischer Schizophrenie diagnostiziert wird. Beim Gerichtstermin wurde er mit dem § 63 StGB verurteilt, weil weder das Gericht, noch die Ärzte, noch das Jugendamt eine andere Idee der Unterbringung meines Sohnes hatten.
Der Richter fällte das Urteil, wie er sagte, mit Bauchschmerzen, da mein Sohn Ladendiebstahlanzeigen hatte und eine Anzeige wegen Körperverletzung, die sich aber als erlogen erwies. Das heißt, er war ein sogenannter Eierdieb (geläufige Bezeichnung).
An dem Tag, als mein Sohn in die Forensik kam, war ich froh, denn nach all den Jahren wurde endlich eine Diagnose gestellt und er war in Sicherheit, hatte er doch seit frühester Kindheit gelernt, dass er ausgegrenzt wird, wenn er ausrastet, und je älter er wurde, desto schlimmer wurde es mit ihm. Am Ende hat ihn jede Art der Unterbringung nicht mehr ertragen.
Mit der Erleichterung kam dann aber auch die Ernüchterung. Denn auch wenn er ein Patient und krank ist, sitzt er doch im Maßregelvollzug. Dort ist er hinter Gitterfenstern und Zäunen mit Natodraht weggeschlossen. Ich darf ihn einmal die Woche besuchen, zu festen Telefonzeiten anrufen. Waren die Besuche am Anfang doch noch recht locker gestaltet, so wurden sie nach einiger Zeit immer strenger. Am Anfang durfte ich ihm Essen mitbringen, auch Selbstgekochtes, Bekleidung, Bücher etc. Doch dann wurde das alles immer mehr eingeschränkt. Jetzt muss ich durch eine Körperkontrolle wie am Flughafen. Meine persönlichen Sachen muss ich in ein Schließfach einschließen, dann darf ich meinen Sohn besuchen, in einem Besucherraum, wo noch zwei weitere Patienten Besuch mit je zwei Besuchern empfangen dürfen. Es ist sehr laut und unpersönlich, geschweige denn, dass es eine Privatsphäre gibt.
In den letzten Jahren kamen immer mehr Missstände hinzu, die uns Angehörige verunsichern.
Wenn ein Patient nach Ansicht der Pfleger unruhig wird, wird er in die Isolierzelle geschickt. Er muss sich dafür bis auf die Unterhose ausziehen und bekommt ein Krankenhaushemd an, er muss seine Brille und alle persönlichen Dinge ablegen, dann bleibt er in der kargen Zelle, bis die Pfleger der Meinung sind, er hat sich wieder beruhigt. Geht der Patient nicht freiwillig, wird der Notruf ausgerufen, dann kommen die Pfleger von den anderen Stationen. In den schlimmsten Zeiten wurde mein Sohn von fünfzehn Pflegern in die Isolierzelle geschleift und dort fixiert und mit Medikamenten ruhiggestellt.
Ich als Mutter bekomme keinerlei Auskünfte, wieso und weshalb er in die Isolierzelle kam. Mein Sohn erzählte mir von einem Ereignis, als zwei Jugendliche in der Küche waren, einer schmiss eine Tomate ans Fenster, der Pfleger sah nicht, wer es war, als er sie fragte, schob jeder dem anderen die Tat zu und sie landeten beide in der Isolierzelle!
Ausgänge können durch gutes Benehmen erarbeitet werden. Es gibt unterschiedliche Stufen, die 1. ist, mit dem Therapeuten auf dem Gelände zu spazieren, dann mit einem Pfleger, dann mit drei Patienten. Die 2., in den gleichen Schritten das Gelände zu verlassen, zum nächsten Laden zu gehen. Die 3. Stufe im gesamten Stadtgebiet.
Mit den Pflegern muss auf Station abgesprochen werden, was der Patient draußen erledigen möchte, und der Pfleger entscheidet dann, was er zulässt und was nicht. Vergisst der Patient, etwas zu besprechen, darf der Pfleger unterwegs entscheiden, ob er das dann doch noch zulässt oder nicht.
So ziemlich alles steht in der WillkĂĽr der Pfleger.
Die ärztliche Versorgung lässt zu wünschen übrig, bei Zahnschmerzen wird der Patient mit Schmerztabletten behandelt, der Zahnarzt erscheint einmal in der Woche auf dem Gelände. Operationen werden nur durchgeführt, wenn sie lebensnotwendig sind, da für die Zeit, die der Patient im Krankenhaus ist, ein Pfleger rund um die Uhr von der Forensik abgerufen wird, um den Patienten zu bewachen. Das heißt, auf Station fehlt dann ein Pfleger, und es wird noch weniger angeboten, auch Ausgänge werden gestrichen. Fallen diese aber weg, kann der Patient in seinen Lockerungen nicht vorankommen, und dies heißt wiederum, der Aufenthalt wird verlängert. Ein Aufenthalt mit dem § 63 StGB kann unter Umständen um Jahre verlängert werden wegen Personalmangels und zu wenigen Therapieangeboten.
Nun verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin nicht gegen eine Behandlung von psychisch kranken Menschen, auch, wenn es sein muss, im geschlossenen Rahmen, mit Zwangsfixierungen, aber es sollte im Sinne des Menschenrechts geschehen und nicht verschwiegen werden, wie die Patienten behandelt werden, es sollte den Angehörigen gegenüber transparent sein, Aufklärungsarbeiten sollten geschehen, damit die Stigmatisierung Forensikern gegenüber weichen kann. (Denn die Forensik ist nicht nur der Ort für psychisch kranke Mörder!!!)
Ziele sollten festgelegt werden, damit ehrlich mit den Patienten und deren Angehörigen umgegangen werden kann. Auch sollte man differenzieren zwischen den Langzeitverwahrten und denen, die Chancen auf Resozialisierung haben.

Tina Schmidt, Jg. 1968 in Berlin. Zehn Jahre mit dem Vater (selbst psychisch erkrankt) ihrer Kinder (Tochter gesund, Sohn psychisch erkrankt) verheiratet gewesen.
Seit zehn Jahren neu verheiratet. Ihr Sohn ist seit drei Jahren in der Forensik. Tina Schmidt arbeitet seit fast drei Jahren ehrenamtlich im ApK (Angehörige psychisch Kranker).
Kontakt: tina.schmidt06@gmx.de


F – wie Freundschaften I (4.4.2015)
von Sibylle Prins

Eine Selbsthilfegruppe in einem Kontaktcafé für psychisch kranke Menschen. Alle sitzen im Kreis, es wird hitzig diskutiert: Eine Frau sagt: „Die meisten meiner Freunde und Bekannten sind psychiatrieerfahren. Ich habe kaum noch Kontakte zu Nichtbetroffenen. Ich würde mir doch sehr wünschen, mehr Kontakte mit Leuten zu haben, die ganz normal leben und nicht psychisch krank sind.“
„Mir geht’s genauso“, meint eine andere. „Meine Kontakte von früher sind alle weg, jetzt kenne ich nur noch psychisch Kranke. Ich gehe jetzt in die Tagesstätte, da bin ich den ganzen Tag auch nur unter Betroffenen. Ich würde schon gern mehr vom normalen Leben mitkriegen.“
Brigitte fährt, wie es ihre Art ist, heftig dazwischen: „Was soll denn dieses Hochjubeln der Normalen? Sind die etwa besser? Die unterhalten sich doch ständig über Einbauküchen und Strumpfhosen! Das kann doch nicht euer Ernst sein, sich nun diese Banalität des Spießbürgertums zu wünschen! Die Psychiatrie-Erfahrenen sind doch viel interessantere Leute, so schön schrill.“
Andrea schüttelt den Kopf: „Ich lege überhaupt keinen Wert darauf, schrill oder ausgeflippt zu sein. Meine Psychosen sind immer echte Horrortrips, daran kann ich nichts Interessantes finden. Der Hermann zum Beispiel tut mir immer leid, weil er in zerrissenen Sachen und oft ohne Schuhe herumläuft und um Essen betteln muss. Ich habe selbst noch einige Kontakte zu Gesunden, die sind mir auch sehr wichtig.“
Erdmuthe hat bis jetzt still zugehört. Nun mischt sie sich ein: „Also, ich kenne auch nur Psychiatrie-Erfahrene, und noch ein paar Profis. Keine sonstigen sogenannten Gesunden. Aber mir fehlt da nichts. Ich wehre mich auch dagegen, dass der Kontakt mit Psychiatrie-Erfahrenen als eine Art Gesellschaft zweiter Klasse angesehen wird, als wären das minderwertige Kontakte. Meine tiefgründigsten und ernstesten Gespräche habe ich mit Psychiatrie-Erfahrenen geführt. Die haben auch mehr Verständnis für meine Probleme und ich brauche ihnen auch nicht mein halbes Leben zu verschweigen. Und hat sich nicht in dieser Stadt schon ein sehr gutes Netzwerk allein unter Betroffenen gebildet, die sich gegenseitig auch oft helfen und unterstützen?“
Eva wendet ein: „Ich finde es wichtig, dass man weiterhin mitbekommt, was die Menschen so bewegt. Als ich mal zwei Jahre ohne Arbeit war, hat mir weniger das Geld gefehlt, auch nicht die Beschäftigung, sondern die Kommunikation mit Menschen, die ein durchschnittliches Leben führen. Ich will wissen, was die Menschen interessiert, welche Sorgen sie haben, wofür sie arbeiten. Wie das ist, Beruf und Familie zu haben. Was sie lesen, was sie denken, was sie in ihrer Freizeit machen. Sonst habe ich das Gefühl, von der Welt nichts mitzubekommen, außen vor zu sein. Und ich fühle mich zwar wohl bei euch, hier in der Gruppe, aber nur immer mit Menschen zusammen zu sein, die so viele Probleme haben, das tut mir auch nicht gut, das zieht mich runter.“
Erdmuthe schüttelt energisch den Kopf: „Die könnten ruhig auch mal ein Stück auf uns zugehen, sich für uns interessieren und wie wir so leben, als Psychiatrie-Erfahrene. Wir haben doch auch etwas zu geben!“

Sibylle Prins, Auszüge aus dem Beitrag „Jetzt dürfen wir also mitspielen ...“ in: Wittig-Koppe, Bremer, Hansen (Hg): Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung? Kritische Beiträge zur Inklusionsdebatte. Paranus-Verlag Neumünster 2010 (gekürzt und leicht verändert)


F – wie Freundschaften II (11.4.2105)
von Peter Mannsdorff

Wenn ich mit meiner Frau über Freundschaften rede, haben wir meistens unterschiedliche Standpunkte. Streitpunkt ist immer das Milieu. Sie würde es gerne sehen, wenn ich mich aus dem Milieu löse, ich in anderen Kreisen verkehre.
Das ist nicht nur leichter gesagt als getan. Punkt eins. Punkt zwei ist aber, ich will das nicht immer. Wenn ich zum Beispiel freitags in regelmäßigen Abständen zum Arztgespräch auf die Station ging, wollte ich gleichzeitig am Freitagskaffee für Patienten und Ehemalige teilnehmen. Nicht, dass ich mich dort unbedingt in dem Klinikambiente wohlfühlte, aber das Wiedersehen mit alten Bekannten tat mir, so redete ich mir ein, gut.
Inzwischen nehme ich den Freitagskaffee nicht mehr mit, weil ich gleich nach dem Gespräch zu meiner Mutter ins Pflegeheim muss.
Aber es ist schon wahr, die große Mehrheit meiner Freunde und Kumpel sind sogenannte Psychos. So schätze ich an meinen Kollegen vom Funkenflug das Nicht-Vorhandensein von Ausgrenzung oder Mobbing. Da gehen wir anschließend kollegial ins Café, wenn sich zwei wirklich besonders gut verstehen, wird der Dritte nicht ins Abseits gestellt, sondern immer in die Gespräche mit eingeschlossen. Wir rufen uns gegenseitig an, wenn jemand nicht zur Arbeit erschienen ist, fragen, ob es ihm auch gut geht.
Meine Frau, wie gesagt, wünschte sich, dass ich meine Freunde im anderen Milieu suche. Gerne würde ich ihr den Gefallen tun, aber das fällt mir mit den Menschen, mit denen ich dort zu tun habe, recht schwer. Seit fast genauso langer Zeit, wie ich in den Funkenflug gehe (seit 14 Jahren), besuche ich auch die Lesebühne in meinem Bezirk. Dort oberflächige Plauderkontakte zu finden, fällt nicht schwer, aber von den Autoren richtig wahrgenommen zu werden, schon.
Schon allein durch die Wahl mancher meiner Texte, die ich dort vortrage, habe ich mich geoutet. Ich weiß nicht, ob es Berührungsängste zu Menschen mit psychischer Erkrankung sind oder ob es an meiner Person liegt, jedenfalls fühle ich mich in den anschließenden Gesprächen im Café im Kreis der Alteingesessenen nicht immer ganz aufgenommen. (Exklusion).
Psycho hin – Normalo her!, für mich zählt weder die soziale, noch die psychische Herkunft, sondern der Charakter, das Temperament.
Ich habe einen Freund – wenn ich ehrlich bin, ist er mein bester – der ist nach dieser Einteilung weder Fisch noch Fleisch.
Frank, ein herzensguter Mensch, war mal Altenpfleger, konnte wegen Rückenbeschwerden seinen Beruf nicht mehr ausüben, wurde zum Hartz IV-Empfänger, dann zum EU-Rentner mit Grundsicherung und tingelt inzwischen auch durch Berliner psychosoziale Kontaktcafés, ohne die Psychiatrie jemals von innen gesehen zu haben. Jetzt arbeitet er als Zuverdienstler in einer Wäscherei.
Aber sein Herz sitzt am rechten Fleck ...


F – wie Frühkindliche Störungen (18.4.2015)
Von der Kinder- und Jugendpsychiatrie bis zur Forensik – Bericht einer betroffenen Mutter
von Tina Schmidt

Mein Sohn ist frühkindlich auffällig gewesen, womit er schnell nicht beschulbar war.
Ich habe früh um Hilfe gebeten, bei Ärzten, Lehrern, dem Jugendamt, was damit endete, dass er mir kurzfristig 2002 weggenommen und in ein Kinderheim gesteckt wurde – ich sollte lernen zu erziehen! Dort wurde er bald schon katatonisch und urinierte nachts ins Nachbarbett. Ich machte mir große Sorgen und konnte ihn im Krankenhaus, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie, zur Diagnose unterbringen. Dort wurde er damals (8 Jahre) mit Bindungsstörung und Enthemmung diagnostiziert. Die Zukunftsprognose für meinen Sohn war fatal und doch gab es weiter keine adäquaten Hilfen. Er wurde entlassen, war ein knappes Jahr unauffällig. Dann begannen die Wahnvorstellungen, er griff Kinder an, in dem festen Glauben, sie hätten angefangen!
Er kam wieder in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diesmal wurde er medikamentös eingestellt und blieb ein halbes Jahr dort, weil keiner wusste, wie es mit ihm weitergehen sollte!
Entlassen nach Hause, ohne weitere Hilfe, ging es ihm schnell wieder schlecht. ImpulsausbrĂĽche, nicht nach Hause kommen, vors Auto rennen.
Dem Jugendamt fiel nichts anderes ein, als ihn in ein Kinderheim zu geben, zur weiteren Erziehung. Dort war er zwei Jahre und wurde mitunter oft im Ticker-Raum eingeschlossen, wenn er sich nicht benahm.
2007 kommt er in die Mansfeld-Löbbecke-Stiftung, es besteht Autismusverdacht. Wegen weiterer Eskalationen kommt er in Hildesheim in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber das Jugendamt bricht den Aufenthalt ab; er kommt nach Schleswig-Holstein in eine Wohngruppe. Weitere Eskalationen, Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig. Da er randaliert, wird er entlassen. Er randaliert auch in der Wohngruppe, wird 2010 zu mir nach Hause geschickt!
Bei uns eskaliert es auch schnell, er kommt wieder in ein Heim, dort wird er so auffällig, dass er erneut in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin kommt. Drei Monate per richterlicher Verfügung, dann in die Haasenburg Einrichtung. Die entlassen ihn nach zwei Monaten zu mir nach Hause, weil er nicht nur nicht erziehbar ist, sondern auch noch psychisch krank. Aber auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie verweigert jetzt Aufnahme oder Hilfen!
Es eskaliert wieder, mein Sohn, mittlerweile 16 Jahre, greift mich an.
In klaren Momenten leidet er so, dass er auf der Straße am Alexanderplatz leben möchte. Er geht. Wird dort zusammengeschlagen. Kommt wieder zu mir. Wir probieren wieder eine Hilfe, die Treberhilfe.
Seine Wahnvorstellungen werden immer schlimmer. Er sucht mich auf und bedroht mich, will mich abstechen.
Mir wird geraten, unbekannt umzuziehen, was ich in meiner Verzweiflung auch tue, weil ich nicht weiterweiĂź.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie verweigert weiter eine stationäre Aufnahme, streitet ab, dass er was hat, und teilt mir mit: Jetzt müssen Sie warten, bis er so kriminell wird, dass die Polizei einschreiten muss, dann kommt er ins Gefängnis und somit eventuell zur Vernunft!
Ich bin verzweifelt, mein 16-jähriges Kind ist auf der Straße ohne finanzielle Mittel oder jegliche Hilfen.
Nach einem halben Jahr ergreift ihn die Kripo, da er mittlerweile 17 Anzeigen hat, ab 15 zählt er zum Intensivtäter. Er kommt in die offene Untersuchungshaft nach Frostenwalde. Ich bin wieder an ihm dran, rufe dort an, teile denen mit, dass er krank ist. Nach fünf Tagen unternimmt er einen Fluchtversuch durchs Fenster. Kommt deswegen nach Berlin in Untersuchungshaft.
Ich probiere auch dort, Kontakt aufzunehmen, was sehr schwer ist. Man dĂĽrfe mir, der Mutter, keine AuskĂĽnfte geben.
Ich bleibe hartnäckig, komme zum Gefängnisarzt durch. Er hat ihn schon bei sich auf Station, der erste Mensch, der endlich die Krankheit sieht: fortgeschrittene Schizophrenie. Er soll zur Begutachtung in die Forensik.
Endlich Hilfe!
Das Gutachten bestätigt: paranoide, halluzinatorische Schizophrenie –frühkindlich und unbehandelt!
Beim Gerichtstermin wird beschlossen, er bekommt den Paragrafen 63 Strafgesetzbuch (Maßregelvollzug), weil, wohin sonst mit diesem mittlerweile 17-jährige Menschen?!
Der Richter fällt dieses Urteil mit Bauchschmerzen, möchte es vom Landgericht überprüft haben. Dazu kommt es nicht!
Mein Sohn sitzt jetzt seit drei Jahren in der Forensik ohne Aussicht auf ein Rauskommen.
Sein behandelnder Arzt hätte ihn gerne in eine Einrichtung Probewohnen entlassen. Leider stellt sich heraus, dass so was nicht geht.
Gibt es noch andere Perspektiven fĂĽr meinen Sohn?

***

Ich stelle diesen Artikel dieser ABC-Sammlung aus dem Grunde zur Verfügung, da ich anderen Eltern mein Schicksal und das Schicksal meines Sohnes ersparen möchte. Ich betone nochmals: Die schon in frühester Kindheit aufgetretenen Symptome sind bei meinem Sohn nie behandelt worden, obwohl ich immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass der leibliche Vater und auch die Halbschwester meines Sohnes schon von Schizophrenie betroffen waren. Also, der Lebensweg meines Sohnes hätte ein ganz anderer sein können ...


F – wie Fürsorgliche Beobachtung (25.4.2015)
von Sibylle Prins
(mit HinzufĂĽgungen von Peter Mannsdorff)


Natürlich wissen die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe, dass anhaltende Schlaflosigkeit ein sogenanntes Frühwarnzeichen für psychotische Krisen sein kann. Und dass man diese auch durch Schlafentzug provozieren kann. So sind sie schnell besorgt, wenn ich mal nicht zur rechten Zeit schlafen gehe. Was u. a. dazu führt, dass ich mir selbst auferlege, zwischen 23 und 6 Uhr keine Mails zu verschicken. Wenn ich dies dann aber doch einmal tue, sende ich zur Entschuldigung eine Mail hinterher und rechtfertige mich wie eine unmündige Pennälerin. Sollte ich das unterlassen, erhalte ich sofort am nächsten Tag besorgte Nachfragen, manche meiner Freunde erwägen bei Erhalt solch einer nächtlichen oder frühmorgendlichen Post, den Krisendienst anzurufen.
Es gibt noch weitere Verhaltensweisen, mit denen ich meine Umgebung alarmieren kann: Wenn ich zum Beispiel gegenüber meiner besten Freundin das Thema Glück erwähne, ist sie sofort beunruhigt. Glück, das war doch so ein Hauptthema meiner präpsychotischen Phase, ogottogott, geht das jetzt wieder los?
Andere Psychose-Erfahrene bekommen Schwierigkeiten mit ihrer Familie, wenn sie ihren religiösen Interessen nachgehen wollen.
Peter Mannsdorff, der während seines Studiums einmal eine verschollene Zeitung in Paris entdeckt hatte, brauchte in der Vergangenheit nur deren Namen zu erwähnen, und seine Umgebung wurde hellhörig.
Überhaupt zuckt Peter Mannsdorff oft zusammen, wenn ein Profi ihm zufällig in der Stadt über den Weg läuft und ihn anspricht mit den Worten: „Geht’s Ihnen gut?“ Peter hört dann automatisch das Wörtchen auch mit und er stellt sich die Frage: Habe ich jetzt etwas Falsches gesagt? Schöpft der jetzt Verdacht?
Ein anderes Anekdötchen gibt es von Peter Mannsdorff zu erzählen: Viele Jahre war er für seine francophile Ader bekannt. Das war auch nicht an seiner behandelnden Ärztin in der Institutsambulanz vorbeigegangen. Nach einem 21. Juni war er im Gespräch bei der Ärztin. „Was haben Sie am Wochenende gemacht?“ – „Ich war auf der Fete de la musique.“ (Jedes Jahr zur Mitsommernacht wird in vielen europäischen Städten Musikveranstaltungen mit dem verhängnisvollen Namen Fete de la musique veranstaltet.)
„Fronkhraisch, Fronkhraisch ... oho!, das ist brenzlig. Ich mache mir Sorgen um Sie! ...“
Die Ärztin riet ihrem Patienten eine prophylaktische, stationäre Aufnahme von einer Woche, was der, eingeschüchtert und wider besseres Wissen auch akzeptierte, ohne auch nur ein Anzeichen von Krankheitssymptom aufzuweisen.
Es ist halt das Kainsmal, das man uns irgendwann einmal in die Stirn graviert hat, das uns in solche Situationen stolpern lässt.
Meiner Psychiaterin hingegen machte ich viel einfacher die Freude, ihr psychologisches Einfühlungsvermögen unter Beweis zu stellen, nämlich als ich an einem schönen Frühlingstag eine pinkfarbene Bluse anzog. Was diese Bluse zu bedeuten habe, fragte sie mich. Ob ich im Frühjahr immer das Gefühl hätte, besonders aufzublühen? Ob das Frühjahr eine gefährliche Zeit für mich sei? Ich wusste zwar, dass man sich vor dem Psychiaterbesuch nett zurechtmachen und die Haare schön haben soll, um keinen Verwahrlosungseindruck zu machen, aber dass die Farbe der Bluse eine Rolle spielt, war mir neu. Ich gehe jetzt nur noch in gedeckten Farben zum Psychiater – bei anderen Ärzten kann ich dafür so schrille Outfits anziehen, wie ich will.
Aber dann gibt es auch wieder diejenigen, die wahrhaftige und reale Krisenzeichen von mir leugnen und umdeuten. Sie reden von plötzlicher Gesundung oder irgendeinem gründlich missverstandenen therapeutischen Prozess: „Ich habe dich noch nie so vital und aktiv gesehen.“ – „Deine vielen Vorahnungen und deine gesteigerte Intuition zeigen, dass du jetzt richtig Fortschritte machst“ – was ja nicht weiter schlimm wäre, wenn ich nicht sechs Wochen später wieder in der Klinik landen würde ...
Auf gar keinen Fall aber darf ich mir plötzlich in den Kopf setzen, ein paar Tage wegzufahren, ohne mich rundum abzumelden. Oder auch nur zwei Tage nicht ans Telefon zu gehen, vielleicht, weil ich meine Ruhe haben will. Dann werden ganze Rettungsnetzwerke und Suchmannschaften aktiviert. Ich könnte ja – plötzlich in der Klinik sein ... wo ich seit 12 Jahren nicht mehr war und vorher auch nur sehr selten. Aber wenn man diesen Makel erst mal erworben hat, zu plötzlichen Krisen und Einweisungen zu neigen, wird man ihn nicht mehr los. Man lebt fortan unter fürsorglicher Beobachtung. Immerhin werde ich später nicht monatelang tot in meiner Wohnung liegen. Was dann vielleicht doch wieder ein Vorteil ist.


G – wie Gespräche statt Pillen I (2.5.2015)
von Fanny Seelfin

Pillen, Pillen, ĂĽber Pillen! Die Betroffenen mit einer psychischen Krankheit sind voll davon!
Als wäre das seelische Leiden damit wegzuradieren. Wie gern hätte man dies in dieser alles Störende wegzurationalisierenden Welt. Wenn überhaupt, werden nur die Symptome gedämpft, so arg gedämpft, dass manche nicht mehr aufrecht laufen können, ganz abgesehen von den furchtbaren Nebenwirkungen, die Psychopharmaka verursachen. Statt der Symptome sollte, ja muss man die Wurzeln für das seelische Leiden anpacken!
Das heißt: Gespräche mit dem Betroffenen! Ob in Psychotherapie und/oder überhaupt genügend Gespräche (mit dem Pflegepersonal im Krankenhaus oder mit Freunden). Was kann das für den Betroffenen für eine gute Ergänzung sein, statt immer nur brav seine Pillen zu schlucken, die sicher manchmal für viele auch notwendig sind – aber dies muss jeder selbst entscheiden. Betroffene mit Traumata und anderen seelischen Verletzungen sollten allerdings therapiert werden. Hier ist die Wahl des Psychotherapeuten sehr wichtig, denn es kann auch falsch therapiert werden, was unter Umständen weitere Schäden verursachen könnte. Auf jeden Fall sollte man, wenn man sich für eine Therapie entscheidet, auf die gemeinsame Chemie zwischen Therapeut und zu Therapierenden achten, sowie auf die richtige Wahl der Fachrichtung der Behandlung.
Vielleicht noch wichtiger sind die Gespräche mit Freunden, Bekannten und in Selbsthilfe oder Selbsthilfegruppen, wenn es dem Betroffenen hilft.
Gespräche können entlasten, sind sogar Bereicherungen!
Im Krankenhaus kann man den dringenden Gesprächsbedarf der Patienten am regen Austausch im Raucher- oder Aufenthaltsraum messen. Hier sollten Ärzte und Therapeuten aufhorchen! Wie dringend müssen/wollen wir Betroffenen reden.
Leider hatte ich während meiner Krankenhausaufenthalte so gut wie nie gewinnbringende Gespräche mit Ärzten und habe vergeblich gekämpft, einen Psychotherapeuten zu sprechen.
Wie gut taten mir dagegen die Gespräche mit der Seelsorgerin und mit anderen Betroffenen oder meinen Besuchern.
Die Gespräche mit meinen Freunden, die von einer psychischen Krankheit betroffen sind, haben mir in der Krankheit besonders geholfen! Es waren gerade diese Gespräche, die nicht selten Krankenhausaufenthalte verhinderten. Es lebe die Selbsthilfe!
Und wie stabilisierend, bereichernd und erfreulich können Gespräche generell sein! Ich gehe mit einem erfüllten Herz nach Hause, wenn ich Freunde besucht habe, und danke ihnen sehr dafür.


G – wie Gespräche statt Pillen II (2.5.2015)
von Peter Mannsdorff

Klar, sind Gespräche im Allgemeinen aufbauend und bewusstseinserhellend. Beim Sprechen wird einem manches klarer. Wenn ich zum Beispiel ein vages Schreibprojekt über eine verrückte Idee im Kopf habe, mache ich oft eine Freundin oder einen Freund zum Opfer und stelle ihr/ihm meinen Plan vor. Was mir beim Reden klarer wird, lässt mein Gegenüber allerdings oft sagen: „Sie ist spinnert, deine Idee!“ Ich sage daraufhin: „Ich habe eine Vision! Sie wird funktionieren, meine Idee“, und ich merke, wie sehr ich mit meiner verbalen Interaktion an meine Grenzen gelangt bin, denn erst die schriftliche Umsetzung meines Projekts vermag meine Freunde und Leser zu überzeugen. Durch das Schreiben hat man die Möglichkeit, Gedanken exakter zu artikulieren und besser auszudrücken, was man sagen möchte.
Ich begann zu schreiben, als ich verbal nicht mehr ausdrücken konnte, was mich seelisch verletzt hatte. Die ewigen, wie Gebetsmühlen wiederholten Erzählungen über meine Schlüsselerlebnisse prallten in den Ohren meiner Ärzte ab, ließen Freundschaften zerbrechen.
Ich musste schreiben, um seelisch überleben zu können ...
Zum Nachteil werden Gespräche nämlich, wenn man bereits auf dem Weg in eine Krise ist. Dann steigert man sich leicht in etwas hinein, man redet, ohne zu reflektieren, ohne Abstand zu sich zu behalten, und benutzt den anderen nur als Forum für seine abgehobenen Ideen, ist also nicht mehr empfänglich für Gegenargumente.


H – wie Hexenverfolgung auf modern (9.5.2015)
von Peter Mannsdorff

Es gibt ein Lied aus dem französischen Mittelalter. Ein Bauernmädchen versteckt sich unter dem Fell einer weißen Hirschkuh mitten im Wald, denn sie hat Albträume, dass sie von den Jägern des Königs gejagt wird.
Eine in der Szene nicht unbekannte Malerin aus Duisburg will auch nicht von den sogenannten Normalbürgern gejagt werden und verbirgt sich, seitdem sie in der Öffentlichkeit auftritt, hinter einem Pseudonym, denn sie hat Probleme mit dem Sich-Outen. Es ist noch immer ein Tabuthema in unserer Gesellschaft, als psychisch krank zu gelten. Durch die Medien geistert noch immer das Bild eines psychopathischen Monsters, das Menschen umbringt, vielleicht sogar genährt durch den Titel Psycho von Hitchcock. Die Menschen sehen nur das Kainsmal auf der Stirn, nicht aber den Menschen als Ganzes.
Ein kapitaler Fehler der Medien ist es zum Beispiel, über einen psychisch erkrankten Mörder zu berichten, er sei in die Psychiatrie eingeliefert worden. Nehmen wir an, Sie, als Normalbürger lesen diesen Artikel, und denken dabei sofort an Ihren Nachbarn, der auch schon des Öfteren in der Psychiatrie war, und Ihre Denkschablonen beginnen zu rotieren. Ob der Nachbar wohl auch ein potenzieller Mörder ist? Lieber Abstand nehmen ...
Natürlich wird der Mörder in die Psychiatrie eingeliefert, aber in keine gewöhnliche, sondern in den Maßregelvollzug, in die Forensik. Und auch, wer in der Forensik seine Jahre absitzt, ist nicht zwangsläufig ein Gewaltverbrecher.
Etwa 30% aller Deutschen lehnen es laut einer Umfrage ab, einen psychisch kranken Menschen als Nachbarn oder Arbeitskollegen zu haben. Das mag daran liegen, dass sie mit anderen Krankheiten wie körperlichen oder organischen umgehen können, sie zumindest greifbar, erklärbar sind; seelische Erschütterungen, vor allem die Psychose, sind in ihren Augen unberechenbar.
Die Stigmatisierung findet nicht selten auch auf privater Ebene, in der Familie, statt. Von den gesunden Geschwistern mit Erfolg in Beruf und Familie wird im Bekannten- und Freundeskreis gerne erzählt, während man sich über das schwarze Schaf in der Familie in der Regel ausschweigt. Wenn die Freunde nach ihm fragen, dann mit einem bemitleidenden: „Und Ihr Sohn? Wie geht’s dem? Herrje, Sie haben schon ein Päckchen zu tragen.“
Die Betroffenen kriegen solche Bemerkungen mit, und wenn sie sie nicht direkt hören, spüren sie die subtile Ächtung, was mit Sicherheit ihr Selbstwertgefühl dämpft ...


I – wie inhumane Überbleibsel der Psychiatrie (16.5.2015)
von Peter Mannsdorff

Ein Mann liegt auf dem Rücken und scheint zu schlafen. Seine Arme hat er im schrägen Winkel zu seinem Kopf nach oben auf dem Boden ausgestreckt. Eine Fliege krabbelt über sein Gesicht. Sie läuft über den rechten Nasenflügel in die Augenhöhle des Mannes hinab. Das Augenlid zuckt; die Fliege fliegt weg, um sich gleich wieder auf einer anderen Gesichtspartie niederzulassen.
Lässt sich der junge Mann von der Sonne bescheinen? Ruht er nach getaner Arbeit auf einer kleeblättrigen Wiese unter einem schattigen Kirschbaum aus? Lauscht er dem zwitschernden Vogelgesang, hört er in der Ferne vergnügtes Lachen und Gekreische von spielenden Kindern?
Der Mann liegt in einem Bett.
In einem stählernen Bett.
Eine weiße Bettdecke liegt über seinem Körper, nur seine Füße und sein Kopf gucken hervor. Das Gesicht des Mannes ist vernarbt. Aufgekratzte rote und vereiterte Ekzeme bedecken seine Wangen und seine Stirn. Seine Haare liegen verfilzt und schuppig auf dem Kopfkissen. Sein Bart ist speichelverschmiert; auf den verkrusteten Lippen klebt weißer Schaum. Die Handgelenke des Mannes berühren die eisernen Bettpfosten. An den Handgelenken sind braune, lederne Riemen befestigt. Der Mann ist an das Bett angeschnallt.
Aus: Der ‚Mann am Kreuz’, in: ‚Das verrückte Wohnen’ von p.m Balance Verlag

Aber auch heute, vier Jahrzehnte nach der Psychiatrie-Enquete, sind Fixierungen noch an der Tagesordnung, werden Patienten regelmäßig ans Bett gefesselt. Eine Fixierung gegen den natürlichen Willen eines Patienten erfüllt den Straftatsbestand einer Freiheitsberaubung und ist nur zulässig, wenn ein Rechtfertigungsgrund – zum Beispiel eine Gesundheitsgefährdung der zu fixierenden Person oder anderer Personen – vorliegt und diese Gefährdung nur durch eine Fixierung abgewendet werden kann. In diesem Fall ist eine richterliche Anordnung nötig, die in der Bundesrepublik Deutschland auf das PsychKG §1906 Abs.4 BGB beruht. Diese richterliche Anordnung wird im Regelfall aber einfach übergangen.
Es kommt vor, dass Patienten bis zu 36 Stunden fixiert werden, in einer Klinik in Bayern sogar 60 Tage. Dies, das muss man sich einmal vorstellen, geschieht in Räumen, in dem sich der Patient wie verschollen vorkommt, niemand draußen weiß, was hier geschieht. Er ist der Willkür des Pflegepersonals – aus seiner subjektiven Sicht – ausgeliefert, ein rechtsloser Raum.
Er schreit, brüllt sich heiser, weil er sich wieder frei bewegen will – die Pfleger missdeuten dieses Schreien als Ausdruck seiner Aggressivität und verlängern die Bettfesseln um Stunden. Erst als der Patient keine Kraft mehr zum Brüllen hat, besteht für ihn unter Umständen die Chance, dass die Fixierung aufgehoben wird.
In manchen Kliniken gibt es bei festgebundenen Menschen die sogenannte Sitzwache. Schwestern, Pfleger oder Nachtwachen sitzen vor einem Tisch an der geöffneten Tür des Patienten und lesen Zeitung oder lösen Kreuzworträtsel.
Der Patient, schon lange ruhig, ohne zu brüllen und zu krakeelen, liegt in seinem Bett und sucht – oft vergebens – das Gespräch zu seiner Bezugsperson. Wenn er sich beruhigt hat und keine Aggression mehr zeigt, warum, zum Teufel, muss er dann noch gefesselt sein?
Doch eine Strafaktion des Arztes? ...


I – wie Inklusion (23.5.2015)
von Sibylle Prins

Wenn man mich vor ca. 25 Jahren gefragt hätte, was ich unter Inklusion verstehe, wäre mir die Antwort vielleicht leicht gefallen: ich hätte gesagt, dazu gehöre eine qualifizierte Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt, nicht in einem geschützten Bereich, das Leben in einer Partnerschaft und möglichst noch mit (eigener) Familie, Nutzung der Freizeitmöglichkeiten, die allen Bürgern offen stehen statt spezieller sozialpsychiatrischer Angebote und ganz grundsätzlich keine Unterscheidungen, gleich welcher Art, zwischen psychiatrieerfahrenen und nicht diagnostizierten Menschen.
Eigentlich fände ich das heute noch eine schöne Vorstellung. Nur: meine eigenen Erfahrungen und die Beobachtung des Lebens anderer Psychiatrie-Erfahrener lassen mich fragen, ob ich das wirklich unter Inklusion verstehen will. Zum einen hatte ich ja lange einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Und bewegte mich auch viel unter Menschen, die nicht psychiatrieerfahren waren. Was sich viele Betroffene ja auch wünschen. Nur: ich fiel, trotz aller Anstrengung, mich anzupassen, immer wieder aus dem Rahmen. Ich blieb in diesen Kreisen eine Exotin, ob ich meine Psychiatrie-Erfahrung nun erwähnte oder mich gar nicht erst outete. Ganz wesentlich trug dazu mein sehr schwankendes Leistungsprofil bei, aber auch andere Dinge. So konnte ich mich nie besonders, wie meine Kolleginnen, für Mode oder Einbauküchen erwärmen. Und Geld interessierte mich zwar, aber es war nicht das, womit ich am besten zu motivieren war.
Psychiatrie-Erfahrene fallen manchmal vielleicht auch deshalb auf, weil sie durch die Neuroleptika besonders stark zugenommen haben, weil sie nie oder nur kurze Zeit im Berufsleben waren oder weil ihre Wohnungen anders aussehen, als das von ihnen erwartet wird. Ein Grund für Ausgrenzung ist sicherlich auch die häufige Armut, von der Menschen mit psychischen Problemen oft betroffen sind. Was ich damit sagen will: früher hätte ich gedacht, Inklusion müsse oder könne nur heißen, in der Mitte der Gesellschaft dabei sein zu können und akzeptiert zu werden.
Heute denke ich oft, dass es in dieser Mitte oft sehr unbarmherzig zugeht und hohe Anforderungen gestellt werden, die einfach nicht jeder erfüllen kann. Das sind nicht nur psychisch erkrankte Menschen, die da nicht mehr mithalten können, aber genau das wird einem als Schwäche ausgelegt. Inklusion hieße nun natürlich theoretisch auch, dass diese harten Normen und Erwartungen weicher und weiter würden, dass man sich für die andersartigen Erfahrungen und Bedürfnisse öffnet – ich weiß nicht, ob man das in Zeiten des Turbokapitalismus wirklich erwarten kann. In einigen Dingen ist unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten tatsächlich toleranter geworden. Aber ich habe oft das Gefühl, dass die Probleme, die mit einer psychischen Erkrankung einhergehen, sozusagen den Nerv der modernen Leistungsgesellschaft treffen.
Menschen mit den Besonderheiten wie verminderte Belastbarkeit, Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, notorische Langsamkeit räumt man einfach keinen akzeptablen Platz ein. Die will man in irgendwelchen psychosozialen Versorgungssystemen – vielleicht sind das eher Entsorgungssysteme? – untergebracht haben, damit sie den Lauf der Dinge nicht weiter stören.
Eigentlich sagt man uns Psychiatrie-Erfahrenen damit ständig: „Ihr seid überflüssig und eine Belästigung“. Andererseits: ohne dieses Versorgungssystem hätten viele Menschen gar kein Zuhause, keine Kontakte, keine Beschäftigung und keine Unterstützung in ihrem Alltag. Nur wäre es schöner, wenn sie das alles auch hätten, ohne dass man dafür ganz besondere Einrichtungen schaffen müsste.
Ich selber habe es noch ziemlich gut. Ich denke, ich habe jetzt zwar einen Platz mehr am Rande als in der Mitte der Gesellschaft. Aber erstens passe ich da auch besser hin, und zweitens ist es nach meinem Gefühl ein recht privilegierter Platz am Rande. Mit genug Bezug zur Mitte – so es sie denn wirklich gibt –, um zu wissen, wie das Leben dieses anderen Teils der Bevölkerung aussieht. Ob das, was ich tue, jetzt für die Gesellschaft so nützlich ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass ich für eine Reihe von Menschen wichtig bin und ihnen gegenüber auch Verpflichtungen habe.
Und das ist wiederum für meine tägliche eigene Legitimation wichtig. Das kann natürlich bei anderen Menschen anders sein. Aber Inklusion heißt für mich heute dies: einen Platz zu finden, den man mit seinen Möglichkeiten gut ausfüllen kann, an dem man Zufriedenheit erfährt und Bedeutung. Inklusion heißt für mich auch, dass es eine gesellschaftliche und politische Verpflichtung ist, solche Plätze zum Leben für Menschen zu schaffen oder zu ermöglichen. Auch und gerade für diejenigen, die sie sich nicht selber schaffen können. (siehe auch: www.idee-verein.de)


I – wie Insidersprache der Therapeuten (30.5.2015)
von Peter Mannsdorff

Es gibt Menschen, die in ihrer Alltagssprache Vokabeln benutzen, die auf Außenstehende etwas eigenartig wirken mögen. Sie nennen ihre Abhängigen, die sie betreuen, ihre Klienten, als wären sie ihre Rechtsanwälte. Ihre Sprache ist so verdreht, dass sie sich mit diesen Klienten über gegenseitige Absprachen verständigen, die sie doch nur einseitig mit ihnen getroffen haben.
Möchte man Hilfe aufsuchen, weil man sich möglicherweise in seelischer Not befindet, so ist man im Kreise dieser Menschen goldrichtig!
Man ist nämlich in ein Nest gestresster Therapeuten und Betreuer geraten, die erst einmal ankommen müssen, bevor sie sich auf alles Weitere einlassen, und wenn sie angekommen sind, sind sie gerade im Gespräch, wenn man etwas von ihnen will, und da sie so viele Gespräche am Tag haben, muss man ihnen ein Zeitfenster nennen, denn sie müssen ihre Termine planen, ist ihre Zeit doch begrenzt, da sie tagein, tagaus zu viele Baustellen offen haben, worunter ihre Tagesstruktur bisweilen leidet.
Arbeiten sie zufällig in einer TWG (Therapeutische Wohngemeinschaft), so schlichten sie oft Streitigkeiten unter den Bewohnern mit den Worten: Kannst du das annehmen, was der Frank da gesagt hat? Wie wirken seine Worte auf dich? Guck doch Frank an, wenn du mit ihm sprichst! Nicht mich. Da sitzt sie er doch! Direkt neben dir!
Geschulte Kollegen, so lässt es sich vermuten, können anhand der verwendeten Vokabeln ahnen, welche Fortbildungen während welcher Ausbildung wann und wo besucht wurden ...


J – wie Jesuspsychose (6. Juni 2015)
von Manuel Rabek

Es gibt zwei Arten von Jesuspsychosen. In der ersteren bekennt sich der Auserkorene offen dazu, der Messias zu sein und die Menschheit womöglich vor einem Atomkrieg zu bewahren. Als Erkennungszeichen trägt er oft lange, zerzauste Haare, einen strohigen Bart und geht barfüßig durch die Straßen, segnet Passanten oder er stürmt Kirchen, mit der Absicht, die falschen Priester aus dem Tempel zu jagen.
Die Figur von Jesus ist in unserer christlichen Kultur nun einfach der unübertroffene Superstar. Wenn man in einem bestimmten Gefühlszustand der Größte sein will, und Psychosen haben oft etwas mit Größenideen zu tun, bleibt einem eigentlich nichts anderes übrig als Jesus zu sein. In der Depression, in der man seine Heldentaten nur bereut und sie einem peinlich sind, ist man – klare Sache - das andere Extrem – der Teufel.
Dann gibt es diejenigen, die den anderen nicht zeigen wollen, dass sie die Number One sind, sie haben noch so viel Abstand zu sich selbst, dass sie genau wissen, wie peinlich es für sie wäre, sich vor ihren Mitmenschen als Sohn Gottes zu bekennen. Sie sprechen wie ein König und sagen: „Wir müssen die Welt verändern“ und meinen doch: „Ich werde die Welt verändern.“
Es gibt vielleicht den einen oder anderen Psychotiker, der aberwitzige Theorien entwirft, in denen er beweisen will, dass sich jeder als so eine Art Jesus begreifen muss, um die Welt gerechter zu machen. Er kreiert während schlafloser, aufgepeitschter Nächte in seiner psychotischen Inspiration den philosophischen Satz: Je suis ohne ‚I’ gleich Jesus und will damit sagen: ‚Ich entnehme dem französischen ‚Ich bin’ das ‚I’ und bin in Folge dessen Jesus.’ Dabei appelliert er an jede und jeden: Begreift euch alle als Jesus, doch nur er ist der wahre Jesus, und das weiß nur er.
Gott sei Dank, dass niemand weiĂź ...
Beide Sorten von Psychotikern haben das gemein, was eigentlich typisch für alle Psychotiker, bzw. Schizophrene ist: Nicht ihre Persönlichkeit ist während der Psychose gespalten, sondern ihre Wahrnehmung der Realität. Sie erkennen die Wirklichkeit, deuten sie aber anders ... alles erscheint als Zeichen.
Wenn dich Freunde in die Klinik fahren wollen, und ihr Hund knurrt, dann weißt du, er will dich warnen, und du nimmst den nächsten Zug aus der Stadt. Oder wenn 200 Jahre nach der Französischen Revolution die Revolution in der DDR ausbricht, dann weißt du auf einmal, dass die 2 eine magische Zahl ist, klar, dass 2000 Jahre nach Jesus Christus deine Stunde schlägt, und wenn nicht im Jahre 2000, dann eben im Jahre 2002.
Du biegst dir die Realität zurecht wie du sie haben willst.
Und du weiĂźt, dass du Jesus bist, weil du auf all diese genialen Erkenntnisse gekommen bist, auf die ein Mensch ohne die Hilfe Gottes nie kommen wĂĽrde ...
Manche Menschen, die von einer Jesuspsychose berauscht sind, geben vor, die Stimme Gottes zu hören. Für sie mag der Satz des Arztes und Kabarettisten Eckard von Hirschhausen zutreffen: Spricht man zu Gott, nennt man es gewöhnlich Gebet – hört man die Stimme Gottes, handelt es sich um eine Psychose ...


K – wie Kommunikation (13. Juni 2015)
von Sabine Wilde

Mir ist bewusst, dass ich nur einen kleinen Abriss zu dem fast unausschöpflichen Thema Kommunikation geben kann und hoffe, Sie bezichtigen mich jetzt nicht der Oberflächlichkeit.
Wir kommunizieren miteinander, um Kontakte zu knĂĽpfen, anderen unsere WĂĽnsche darzulegen und um uns und andere Menschen zu erleben.
Kommunikation findet immer statt, wo Menschen aufeinander treffen, auch ohne Sprache können wir kommunizieren. Wir senden ständig über Mimik und Gestik, Haltung und Augenkontakt Signale aus, und haben bestimmte Kommunikationsmuster im Laufe unseres Lebens erworben, die die meisten Menschen verstehen. Deshalb können wir uns auch im Ausland ohne Worte, allein durch die Sprache unserer Hände und unserer Mimik verständigen. Taubstumme oder Gehörlose Menschen finden ihren Ausdruck in der Gebärdensprache.
Bei psychisch kranken Menschen kann die Kommunikation jedoch zusammenbrechen, bzw. unverständlich werden. Ihre Realität ist nicht mehr die der Mehrheit, sondern für Außenstehende missverständlich und ver-rückt.
Vor Jahren hatte ich einen Freund besucht, der gerade einen schizophrenen Schub durchmachte und mir eine Welt darstellte, die mir unverständlich war. Wenn für mich 2+2=4 war, war für ihn 2+2=5. Schließlich scheiterte unser Gespräch. Ich ließ ihn reden und zeigte lediglich Anteil durch meine Körpersprache.
Es gibt auch Menschen, und die müssen nicht unbedingt Maniker sein, die reden, ohne andere zu Worte kommen zu lassen. Diese Menschen sehnen sich nach eindeutigen Reaktionen auf ihre Übermittlungen. Oft schalten wir jedoch ab, wenn jemand zuviel redet, so entsteht ein Teufelskreis. Manchmal reden Menschen umständlich um das eigentliche Thema herum, kommen vom Hölzchen zum Stölzchen, ohne wirklich etwas zu sagen. Sie weichen aus diversen Ängsten vor Wichtigem aus.
Man kann einem Dritten enorm wehtun, wenn man ihn aus dem Zweiergespräch ausschließt. Das kann negative psychische Folgen für den Ausgeschlossenen haben.
Wir sind soziale Wesen, deshalb ist Kommunikation ein wichtiger Faktor, um mit anderen leben zu lernen und um Intimität, damit ist nicht unbedingt die erotische gemeint, zu erfahren.

Sabine Wilde, Jg. 1956, schreibt, um Erlebnisse zu verarbeiten, und das seit nunmehr 30 Jahren. Sie versetzt sich gern in Menschen und deren Schicksale. Seit 2011 arbeitet sie im Funkenflug mit. (sabinewilde66@yahoo.de)


K – wie Kontakt- und Beratungsstellen (KBS) (20. Juni 2015)
von Peter Mannsdorff

Früher nannte man sie Tollhäuser oder Irrenanstalten. Heute heißen sie schlichter Psychiatrien oder ganz harmlos Kliniken. Damals hatte man die Kranken in Ketten gelegt oder sie mit dem Kopf unter kaltes Wasser getaucht – das sollte Heilung bewirken. In ganz düsteren Zeiten, noch nicht allzu lange her, brachte man Behinderte und Geisteskranke um, nach dem Krieg humanisierte sich die Situation für Verrückte insofern, dass man sie nicht mehr mordete, sondern weitgehend von der Öffentlichkeit fernhielt und über Jahre in Anstalten verbannte.
Heutzutage sind die Kliniken sehr viel menschenfreundlicher, aber ist allein ein dreimonatiger Aufenthalt wirklich der Garant für die spätere Stabilität der Patienten?
Da ist zum Beispiel Micha, ein Ehemaliger, der nach seiner Entlassung entwurzelt, irgendwie heimatlos geworden ist. Ständig sucht er den vertrauten Kreis der Klinikstation auf. Dort kennt er Pfleger und die meisten Patienten. An keinem Freitagskaffee, ein großzügiges vom Krankenhaus veranstaltetes Kaffee- und Kuchengedeck für Patienten und Ehemalige, fehlt er. Manchmal will er sich sogar, weil er es draußen vor Einsamkeit nicht aushält, einweisen lassen. Aber die Klinik sei kein Hotel, sagt man ihm.
Micha weiß nicht, was eine KBS ist. Ein Patient schlägt vor, eine Liste der Berliner psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen an das Schwarze Brett in der Station zu hängen. Denn darum ginge es in erster Linie: Entlassenen Patienten Orientierung geben, ihnen einen Start in die Freizeitgestaltung und zur Tagesstruktur ermöglichen. Denn hat sonst die lange Klinikbehandlung überhaupt einen Sinn, wenn nach der Entlassung der Nährboden für einen Rückfall durch Einsamkeit und Isolation vor sich hinkeimt?
Kontakt- und Begegnungsstätten sind Einrichtungen für seelisch belastete Menschen, in denen Begegnungs- und Freizeitangebote stattfinden. Sie werden von freien Trägern oder Vereinen betrieben und seit nunmehr 25-35 Jahren sind sie ein fester Bestandteil der komplementären psychiatrischen Grundversorgung in jedem Berliner Bezirk.
Das Angebot von Kontakt- und Begegnungsstätten dient zur Prävention, Verhinderung weiterer Klinikaufenthalte, soll einer Chronifizierung entgegen wirken und die Integration in die Gemeinde fördern. Zwanglos unter Einhaltung von minimalen Regeln sollen Kontakt und Austausch, Begegnung, Alltagsleben und soziale Teilhabe stattfinden. Das Angebot ist offen und kann anonym und in jedem Fall freiwillig wahrgenommen werden. Offene Treffen wechseln sich mit thematisch vorgegebenen Angeboten, u. a. Sport- und Kreativangebote ab. Auch Ausflüge und Reisen sowie Einzel- und Gruppenberatung gehören zum breiten Angebotsspektrum.
Es gibt viele Einrichtungen der geschützten Arbeitsplätze, die Zuverdienstmöglichkeiten zum Beispiel; die KBSsen bieten vielfältige Angebote einer geschützten Freizeit oder besser, einer sinnstrukturierten Freizeit, wo Freizeit nicht heißt: Darauf warten, dass einem die Decke auf den Kopf fällt oder vor dem Fernseher abzustumpfen.
Wenn Kontakt- und Beratungsstellen geschlossen oder finanziell gedrosselt werden, ist dies eine Milchmädchenrechnung. Wenn die Institution KBS tatsächlich Krisen auffängt und hilft, die Aufenthalte in der Klinik zu verringern, ist solch eine Einrichtung doch volkswirtschaftlich kostengünstiger als ein teurer Klinikaufenthalt, wo das Bett pro Tag bis zu 300 Euro kostet.

siehe auch: Wo die Seelen tanken gehen
Ein Wegweiser durch den Dschungel der Berliner Kontakt- und Beratungsstellen
im Peter Mannsdorff Shift-Verlag


K – wie Kontrollzwang (27. Juni 2015)
von Mara Mandel

Die Tür fällt ins Schloss. Angst breitet sich aus. Habe ich den Herd angelassen? Ist die Kerze auf dem Tisch ausgepustet? Und was ist mit der Kaffeemaschine?
Ich habe bereits mehrmals nachgesehen, aber gehe trotzdem noch einmal in die Wohnung – um ganz sicher zu gehen. Doch was für eine Sicherheit suche ich? Ich gehe noch einmal und noch einmal zurück bis, ja bis wann? Bis ich das Gefühl habe, dass es ansatzweise in Ordnung ist, dass eben alles was ich mir vorstelle nicht mehr passieren kann. Es kann keine Kerze mehr an sein, da ich sie zur Sicherheit mit eingesteckt habe, es kann kein Ofen mehr an sein, da ich mehrmals die Herdplatten getestet habe. Es kann keine Tür mehr auf sein, da ich diese ein paar mal kontrolliert habe.
Es existiert eine ganze Reihe an Situationen oder Gegenständen mit denen Zwangspatienten förmlich in Angst und Ohnmacht verfallen. Grundsätzlich sind dies Begebenheiten, die auch Menschen ohne eine Zwangsstörung Angst machen können. Jedoch die Ausmaße, die es bei Zwangspatienten hat, sind keineswegs vergleichbar.
Die Motivationen für solche Kontrollzwänge sind dabei sehr unterschiedlich. Zum Beispiel soll niemandem etwas Schreckliches widerfahren oder man will auf keinen Fall schuldig werden. Also kontrolliert der Zwangspatient so lange, bis er ein einigermaßen sicheres Gefühl hat. Doch auch obwohl alles mehrmals gecheckt wurde, kann etwas passieren, ohne dass man daran gedacht hat. Dies ist Teil des Lebens. Doch der Zwangspatient versucht alles unter Kontrolle zu haben. Er sucht 100%ige Sicherheit. Diese gibt es jedoch nicht.
Zwänge beschäftigen mich jetzt seit ca. einem Jahr. Ich hätte vorher nie daran gedacht, einmal so abhängig zu sein. Jedes Mal wenn ich die Wohnung verlassen möchte, ist der erste Gedanke: Oh nein, jetzt muss ich wieder die Zwänge überwinden. Das sorgt dafür, dass ich mich auch manchmal nicht aus dem Haus traue, da die Ängste einfach zu stark sind. Doch das ist auch keine Lösung! Denn mit jedem Mal welches ich nicht die Wohnung verlasse, wird es auch schwieriger den Anschluss zu finden; wieder lockerer aus der Wohnung zu gehen.
Also versuche ich so oft wie es geht, die Wohnung allein zu verlassen. Und mit jedem Mal mehr versuche ich mir Vertrauen zu geben und zu vermitteln, dass es besser wird. Schritt für Schritt baue ich eine Art symbolischen/imaginären Werkzeugkoffer zusammen, der Hilfsmittel beinhaltet wie zum Beispiel den Gedanken, umso eher ich mich von dem Kontrollieren der Tür entfernen kann, desto einfacher wird es. Denn das Kontrollieren erzeugt eine Art negativer Anziehungskraft. Dies ist vergleichbar mit einem Magneten. Umso länger ich mich an der Tür kontrollierend aufhalte, desto schwerer fällt es mir loszugehen. Die Experten aus Profession raten auch dazu eine Liste zu erstellen und dann abzuhaken, was bereits kontrolliert wurde, sodass man schwarz auf weiß hat, dass alles ordentlich gecheckt wurde. Leider benötigt man dazu die Selbstsicherheit, dass man diesem Schriftstück glaubt. Bei mir ist es jedoch so, dass ich schnell verunsichert bin und dem nicht vertrauen kann.
Neben den geschilderten Problemen der Abhängigkeit können auch soziale Konflikte entstehen. Was passiert wenn man wiederholt – durch den Kontrollzwang ausgelöst – zu spät zur Arbeit kommt? Was passiert, wenn man wiederholt zu Treffen mit Freunden zu spät kommt? Ich beispielsweise kann mir zurzeit nicht vorstellen einer Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen, da ich nicht rechtzeitig die Wohnung verlassen kann. Und welcher Arbeitgeber hat schon gerne einen Angestellten der ständig zu spät kommt?
Ein weiterer wichtiger Teil der Krankheit bzw. der Genesung sind die Ursachen. Das sind auf der einen Seite möglicherweise familiäre Auslöser wie eine strenge Erziehung die dazu führte, dass man selbst sehr anspruchsvoll zu sich selbst ist. Außerdem sind es bei mir Krankheitsüberbleibsel zweier Psychosen die ich in den letzten vier Jahren hatte. Denn bei einer Psychose hat man die Gedanken und Gefühle nicht mehr unter Kontrolle, sodass es in der Folge möglich ist, dass genau das gegenteilige Verhalten auftritt – man will Sicherheit erzwingen.

Mara Mandel, geboren 1979 in (Ost)-Berlin, absolvierte erfolgreich das Studium der Europäischen Ethnologie, Soziologie und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2012 ist sie Teil der Gruppe Funkenflug. Parallel dazu ist sie ehrenamtlich journalistisch für weitere Medien tätig. Die Stadt Berlin als Ort unterschiedlichster Kulturen steht im Zentrum ihrer Texte.


K – wie Kreativbereich ‚Funkenflug’ (4. Juli 2015)
von Peter Mannsdorff

Der Kreativbereich des ajb (Allgemeine Jugendberatung) ist ein kĂĽnstlerisches Zuverdienstprojekt in Berlin-Kreuzberg mit den Bereichen Malerei, Literatur und Theater. Siehe im Internet:
www.funkenflug-ajb.tumblr.com
Seit einigen Jahren hat es sich den Namen Funkenflug gegeben, sollen doch die kreativen Ideen seiner Mitglieder wie leuchtende Funken durch die Dunkelheit fliegen.
Funkenflug soll Künstlern mit Psychiatrieerfahrung, die sonst isoliert zu Hause ihre Kunst ausüben würden, einen strukturierten Rahmen und eine Gemeinschaft ermöglichen. Wichtig ist auch, die Möglichkeit von öffentlichen Vernissagen, Auftritten und Lesungen.
Seit nunmehr schon exakt fünfzehn Jahren besuche ich zweimal in der Woche die Literaturgruppe von Funkenflug – einem Berliner Pilotprojekt. Kulturell tätig sein und dafür auf Zuverdienstbasis entlohnt werden – eine Nische für all jene, die aus dem Raster der handwerklichen Tätigkeiten dieser Art Zuverdienste herausfallen und sich kreativ und intellektuell betätigen wollen. Ich konnte hier eine Zeit lang als 1-Euro-Jobber mitarbeiten.
Neben dem Autohaus mit den blitzenden Karosserien sehe ich die nackte Hausfassade mit der weiß überstrichenen Parole aus der K-Gruppenzeit: Imperialisten raus aus Nah-Ost. Die feinen Schlitten in Metallic-Silber und Weinrot interessieren mich nicht. Sie sprechen eine Sprache, die nicht die meine ist, nie meine sein wird. Ich bin kein Autobesitzer; ich reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt.
In der Einfahrt zum Hinterhof, unmittelbar vor dem Aufgang zu unserem Literatenturm, sehe ich Petra blaue Rauchwolken in die Luft kringeln. Petra genießt es, vor Beginn der Gruppe noch eine zu rauchen. Sie wartet, bis der Rest der Teilnehmer eintrudelt, da kann man noch ein wenig ungezwungen sprechen, sich besprechen: „Hast du einen Text dabei?“ Irgendeiner ist immer dabei, der das Loch zustopft und eine Geschichte vorträgt.
Ich setze mich neben Petra und lasse mir das Nikotin ins Gesicht blasen. Da biegt schon Daniel um die Ecke und grüßt von Weitem. Wenn Daniel mal schlechte Laune hat, muss es ein 35. Mai sein. Er wagt zwei Küsschen auf Petras Wangen, mir schüttelt er lachend die Hand: „Bonjour, Monsieur!“ Auch er dreht sich noch eine Zigarette und raucht sie genüsslich.
Schließlich schlendert Sabine lässig über den Hof. Sie gibt jedem von uns die Hand, dann spricht sie mehr für sich: „Schaffe ich noch eine?“ und dreht sich schon eine Zigarette. Kurz vor Beginn der Arbeitsgruppe, fast schon zu spät, trudeln Anett und Micha auf ihren Fahrrädern ein, überzeugte Nichtraucher. So bin ich nicht allein. Fehlt nur noch Roja, aber die ist heute krank.
Irgendjemand sagt schließlich: „Es ist Zeit.“ Sabine und Daniel drücken die Kippen auf dem kalten Stein aus, gemeinsam trotten wir die Stufen hoch. Das Treppenhaus ist trostlos, fast gespenstisch. Im ersten Stock eine Stahltür ohne Namensschild. Genauso trist sieht es in der zweiten Etage aus. Wieder eine hässliche Eisentür, aber ein grellbuntes Namensschild macht neugierig. Wir klingeln, nach kurzer Zeit hören wir Schritte, das Türschloss wird blechern herumgedreht. Herr Hünig öffnet, das Telefon am Ohr, und begrüßt uns freundlich: „Moment, ich bin gleich fertig.“ Er wird wieder eine Lesung für uns klarmachen.
Wir tagen in einem großen Raum, Ikea-Sessel, in denen der Hintern wie in einem Sonnenliegestuhl fast auf dem Boden schleift, gruppieren sich um einen tiefen Tisch. Überall stehen Instrumente herum: Gitarren, Bongos, noch von der aufgelösten Musikgruppe, sogar ein Schlagzeug stand hier einmal. In einem Regal sind die Requisiten der Theatergruppe aufbewahrt, diverse Perücken, Schals, Mäntel und Tonmasken. Dann sind drüben im Durchgangsraum zur Küche die vielen Bilder der Maler gestapelt, die schönsten hängen an den Wänden.
Wir in der Literaturgruppe schreiben nach Lust, nach Absprache und je nach zur VerfĂĽgung stehender Zeit zu Hause am Schreibtisch. Das, was wir aufs Papier bringen, lesen wir uns dienstags und mittwochs vor. Dabei freuen wir uns auf die Zustimmung der anderen, aber auch ĂĽber Kritik, wenn sie konstruktiv ist. Eine Grundregel, die wir uns auferlegt haben: Behutsam, aber ehrlich miteinander umgehen!
Petra schreibt leidenschaftlich gerne über ihre vielen Amouren, Daniels Vorbild ist Dostojewski, und so liebt er es, Psychogramme seiner Figuren zu entwerfen; Anett und Micha kommen aus dem Journalismus, Sabine gelingt es, Selbsterlebtes spannungsreich und lebendig wiederzugeben, und auch ich schreibe gerne kleine, erlebte Episoden auf, die ich mit einer Mischung von Fiktion bereichere. Mit Herrn Hünig, unserem neuen Leiter, verfolgen wir neuerdings die Tendenz, häufig gemeinsame Auftritte des gesamten Kreativbereiches zu inszenieren. Vielleicht sogar Texte, geschrieben von der Literaturgruppe, gespielt von den Theaterleuten, das Bühnenbild von den Malern ...
Doch überschattet immer wieder die Befürchtung unseren Enthusiasmus, dass die Sparpolitik des Senats uns eines Tages aus unserem Wolkenkuckucksheim herauskippen könnte, aber bereits Herr Hünigs Vorgängerinnen versicherten, dass wir uns da keine Sorgen machen brauchen. Wir müssen uns, so denke ich, in der Stadt zeigen, uns in entsprechenden Kreisen unentbehrlich machen. Die Stellen, die uns kippen könnten, müssen wissen: Die vom Kreativbereich brauchen wir! ...


L – wie Libido (11. Juli 2015)
von Sabine Wilde alias Dr. Sommer

Zum Grundbedürfnis eines jeden Menschen gehört der Sexualtrieb, den man Libido nennt (ein Terminus aus Freuds Psychoanalyse). Die Libidobefriedigung von Säuglingen beim Nuckeln an der Mutterbrust überträgt sich möglicherweise auf Raucher, die beim Ziehen an ihrer Zigarette unbewusst ihre Libido befriedigen wollen.
Für die meisten Menschen ist der sexuelle Lustgewinn genauso natürlich wie das Bedürfnis zu essen, zu schlafen etc. Wenn jedoch alles nicht mehr so funktioniert wie früher oder der Trieb sogar brachliegt, ist man beunruhigt. Die Libido ist eine starke Macht in unserem Leben. Durch sie verlieben wir uns und können wunderschöne Erlebnisse haben.
Wenn die Libido plötzlich verschwindet, fühlen wir uns wie amputiert und können unseren jeweiligen Partner nicht befriedigen, bzw. erst gar keinen finden. Ist man psychisch beeinträchtigt und muss Psychopharmaka nehmen, kennt man dieses Problem schmerzlich genau.
Verschiedene Antipsychotika und Antidepressiva können die Libido schwächen oder gar völlig lahmlegen. Das ist der Grund, warum viele Betroffene nach einer Weile ihre Medikamente nicht mehr nehmen, denn man sehnt sich wieder, was verständlich ist, nach einem gesunden Sexualleben. Also werden die Tabletten abgesetzt, und es entstehen unter Umständen Rückfälle.
Aber es gibt auch phasenbedingte Schwankungen des Sexualtriebes. Während er in einer depressiven Phase fast völlig verschwinden kann, blüht er oft in einer Manie auf, und gerade Männer erfahren eine Ausdauer, die sie noch nie an sich erlebt haben.
Doch man findet auch unterschiedliche Meinungen von Betroffenen. Manchen ist die funktionierende Libido äußerst wichtig, während sie für andere nicht so einen hohen Stellenwert besitzt. Ich denke, die Nebenwirkungen eines jeden Medikamentes sollten mit dem Arzt abgesprochen werden. Die Vielfalt an Tabletten, die gegen Depressionen und Psychosen auf dem Markt sind, wirken auch unterschiedlich auf den Sexualtrieb. Aus diesem Grunde also muss meines Erachtens ein Libidoverlust durch sie nicht mehr zwangsläufig stattfinden.
Allerdings gibt es auch Medikamente, die die Sexualität bei Männern zwar nicht unterdrücken, aber da die Ejakulation ausbleibt, sind sie oft zutiefst irritiert, da sie befürchten, mit ihnen stimme biologisch etwas nicht; sie leiden unter der Angstvorstellung, zeugungsunfähig geworden zu sein. Witzbolde unter ihnen prägen den Werbeslogan: Pille für den Mann? 10 mg Haldol, und Sie beugen einer Vaterschaft vor! Aber ohne Witz: Hier bedarf es dringender Aufklärung durch die Ärzte.

Sabine Wilde, Jg. 1956, schreibt, um Erlebnisse zu verarbeiten, und das seit nunmehr 30 Jahren. Sie versetzt sich gern in Menschen und deren Schicksale. Seit 2011 arbeitet sie im Funkenflug mit. (sabinewilde66@yahoo.de)


L – wie Liebesschmerz I (18. Juli 2015)
von Peter Mannsdorff

Verliebt sein – ein Glücksgefühl. Arm in Arm am Lagerfeuer sitzen, den Kopf auf die Schulter der Geliebten geschmiegt, Fleisch am Spieß braten oder mit dem Floß einen wilden Fluss in Schweden hinuntertreiben, Fische fangen oder sich gegenseitig Gedichte vorlesen – für die Ewigkeit leben, nie wieder loslassen.
Dieses Glücksgefühl kann leicht zerbröckeln – Trennung, Scherben, böse Worte. Folgt der Liebeskummer. Jeder geht damit anders um. Die einen sagen: Eine verloren – zehn neue gefunden. Andere kompensieren ihren Liebesschmerz, indem sie sich in ihren Beruf hineinstürzen, sie wollen vergessen.
Frank genoss lange sein Glück, aber auch seine Liebe zerbröckelte. Jahrelang hing er daraufhin der Vergangenheit nach, wollte nicht loslassen; immer wieder flammte Sehnsucht auf, und immer wieder geriet er in seelische Krisen. Aber weniger war es die Frau, an die er sich klammerte, als mehr die Umstände, unter denen er sie kennengelernt hatte, denn damals war er in einer Phase, in der alles anders verlaufen, er entscheidende Weichen für sein Leben hätte stellen können.
Als er sich in Marie auf den ersten Blick verliebt hatte, vergaß er, wie von einem Zauber verwunschen, das Gestern, schob das Morgen weit von sich und lebte mit ihr nur noch im Hier und Jetzt. Damals war er in einem Prozess, in dem er die Chance hätte wahrnehmen können, sich von seinem Elternhaus zu lösen. Da war der überstarke Vater, der ihn durch seinen rationalen Absolutismus oft in die Opposition trieb, ihn aber gleichzeitig durch seine gepriesenen Werte des heiligen Zusammenhalts der Familie immer wieder zurück ins Nest lockte; dann die enge Beziehung zu der gefühlsbetonten Mutter, mit der Frank seit jeher eine Art Ödipuskomplex verband.
Es wäre die Zeit gewesen, sich von den Eltern abzukapseln, eine eigene Familie zu gründen, aber seine Unentschlossenheit hinderte ihn daran. In dem Berufsziel Lehramt wollte er keinen Sinn sehen, es war nicht seins. Er studierte ohne Enthusiasmus, ohne großes Engagement und spürte immer mehr, dass er doch nur seinem Vater einen Gefallen tat, war der doch selbst begeisterter Lehrer. Ganz Kind ohne Meinung, ließ Frank sich durch sein Leben treiben. Seine Entscheidungsunfähigkeit in Sachen Zukunft ging sogar so weit, dass er sich nicht gegen die Einmischung seiner Mutter wehrte, als sie ihren Sohn während seiner Abitursferien an der Uni einschrieb.
In dieser Phase hatte Frank Marie kennengelernt. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick, sie hatte ihn ähnlich intensiv geliebt und beteuerte ihm bei jeder Gelegenheit, er wäre die Number One ... aber, klar, dass hinter einer Number One auch andere Nummern lauern. Die anderen Männer demütigten Frank, ließen sein Selbstwertgefühl schrumpfen, aber was hätte er machen sollen – er liebte sie doch, sie war sein einziger Halt, der Halt zu Hause war nur ein halber. Und trotz ihrer Kapriolen ständig der Satz: Ich will ein Kind von dir!
Seine stete stereotype Antwort: „Lass mich erst das Examen über die Bühne bringen“, und er ahnte jedes Mal, wenn er sie gab, nie würde er es schaffen, dieses Examen, weil er sich schon gar nichts mehr zutraute.
Unfähig, eine Entscheidung zu treffen, war er weder in der Lage, das Berufsziel zu wechseln, noch sich von seinen Eltern durch einen Ortswechsel zu lösen, geschweige denn sich von seiner Freundin zu trennen. Wie ein Fisch unter dem Eis ließ er sich treiben und fragte sich, warum denn die anderen Raubfische besser als er sein sollten.
Er wollte ein Großer werden. Es ihr beweisen, wollte Marie, die längst zu seiner Göttin geworden war, ebenbürtig sein, sich neben sie auf den Thron setzen – und wie hätte er das anders tun können, als sich selbst zum Gott zu machen?
Aber noch war er kein Großer, noch lebte er im Schatten seiner Göttin und ließ es zu, wie seine Seele allmählich von der hörigen Liebe zu ihr und der schleichenden Einflussnahme des Elternhauses gespalten wurde.
Dieses Leben zog sich so lange hin, bis Frank und Marie in einem Sommer aufs Land zu einem entfernten Bekannten fuhren. Dort würde Frank über eine längst verschollene Schriftstellerin aus einem vergangenen Jahrhundert arbeiten, die er kürzlich aus einer Bibliothek ausgegraben hatte und die zu seinem Lebenssinn geworden war, denn mit ihr hatte er jemanden gefunden, mit der er seine Freundin auch betrügen konnte, und die, aus Trotz und Langeweile, ließ sich von Michael, dem Patron des Grundstücks, umgarnen.
Fehlte der Funke, der das Pulverfass zum Explodieren brachte. Der Seitensprung kam, der Vulkan in Frank brach aus, die Lava floss – jetzt war er Größte! –; er bekämpfte mit Worten seinen Nebenbuhler und wollte mit ihm nur seinen Vater symbolisch töten, weil er Frank mit Marie seine Mutter weggenommen hatte.
Doch weder der Vater starb, noch konnte er die Mutter zurückgewinnen – der Ascheregen kam, und Frank wurde zum ersten Mal in die Psychiatrie eingeliefert.
Nachträglich durfte er für sich feststellen, dass diese Tage, dieses Ausscheren aus dem Gewöhnlichen, sein 9. November gewesen war. Er hatte eine Serien von Revolutionen gegen seine Zwänge begonnen – und begann, seinen Weg, seinen ureigenen Weg zu suchen ...


L – wie Liebesschmerz II (18. Juli 2015)
von Fanny Seelfin

Mein Liebesschmerz endete fast tödlich.
Es sollte jedoch nicht sein, und ich bin sehr dankbar und froh, dass ich es ĂĽberlebt habe!
Ich verliebte mich Hals über Kopf während meiner ersten Studienjahre in einen blonden Studenten mit lockigen Haaren, etwas oppositionell angehaucht gegen das DDR-Regime. Das Musikalische und seine Intelligenz imponierten mir besonders. Er spielte Gitarre und Geige. Wir musizierten gemeinsam, er auf der Violine, ich auf dem Klavier, zum Beispiel Lieder von Schubert! Gemeinsam sangen wir auf unseren vielen Abenteuerreisen in die Berge beim Klettern oder beim Trampen begeistert immer wieder Brahms-Lieder, zum Beispiel Leise flehen meine Lieder! mit dem Text von dem ebenfalls so melancholischen Heinrich Heine.
Bevor wir gemeinsam aus der DDR ĂĽber Ungarn flĂĽchteten, war ich mir nicht im Klaren, ob ich wirklich mit ihm all meine Freunde, meine Familie und meine Heimat verlassen sollte. Ich lebte lange in einem inneren Konflikt, den ich nur mit mir ausmachen konnte.
Schließlich entschied ich mich für meinen Freund. Aber eigentlich noch viel mehr für die Freiheit! Die Freiheit von politischen Zwängen und einem totalitären Staat! Für die Freiheit der Meinungsäußerung und Reisefreiheit!
Die gemeinsame Flucht schweißte uns zusammen. Eigentlich war in dieser neuen Gesellschaft, diesem neuen Staat mit seiner Bürokratie und unserer ungewissen Zukunft nicht er der Starke, sondern ich. Eine Zeit lang drohte er daran zu zerbrechen. Später war ich, wie schon früher, die Nachdenkliche, Melancholische.
Beide nahmen wir unser Studium wieder auf, in unterschiedlichen westdeutschen Städten. Aus unserer engen Beziehung wurde eine auch sehr enge Fernbeziehung. Die langen Semesterferien galten ganz unserer Liebe und unseren abenteuerlichen Reisen!
Dass ich Heimat, Freunde und Familie verlassen musste, löste sich zu allem Glück wenige Monate später in der friedlichen Revolution in der DDR und dem legendären 9. November 1989 auf. Es war also doch kein Abschied für immer!
Aber ich blieb zunächst im Westen, erst Jahre nach der Maueröffnung kehrte ich nach Ostberlin zurück. In der westdeutschen Kleinstadt, in der ich jetzt auf Lehramt mit den Fächern Musik und Deutsch studierte, fand ich zunächst – an sich sonst immer kontaktfreudig – kaum Freunde. Später wurde mir klar, dass das daran lag, dass ich als Quereinsteigerin – ich hatte bereits in Ostberlin studiert – den Anschluss an die Erstsemester verpasst hatte. Sie kannten sich untereinander, ich niemanden. Doch allmählich fand ich Kontakte – die Freundschaften halten bis heute.
Ich war gerade im Examen und bereitete mich auf die Prüfungen vor. Alles lief relativ gut. Dann kam der Schlag! Diesmal war ich nicht mit zum Klettern gefahren, mein Freund fuhr allein nach Spitzbergen. Bei einer Expedition stürzte er ab und verunglückte tödlich.
Ich hatte ihn diesmal beschworen, nicht zu fahren, da ich eine sehr ungute Vorahnung hatte, aber er flog trotzdem.
Schon das Examen hatte mich sehr belastet, so dass ich psychisch schon nicht mehr ganz stabil war. Dann diese Schocknachricht! ... der Schmerz war unsagbar groß. Ich driftete völlig ab. Es war der Untergang für mich! Ich stürzte in eine Depression und erstmals in eine akute Psychose.
In bösen Depressionen warf ich mir selbstzerfleischend vor, ich sei schuld am Tod meines Freundes und ging mit meinem schweren Suizidversuch fast mit ihm, meiner Jugendliebe, unter. Doch ich wurde gerettet, wofür ich heute sehr, sehr dankbar bin! Mir wurde das Leben neu geschenkt, das ich nicht mehr haben wollte. In späteren, schweren Jahren musste ich mit quälenden Selbstvorwürfen abbüßen, dass ich es einfach so fortwerfen wollte.
Nach diesem schweren Verlust hatte ich nie die Möglichkeit gehabt, meine Trauer aufarbeiten zu können, und erkrankte in den Folgejahren immer wieder.
Fast zwanzig Jahre später sagte mir eine Therapeutin, dass es die größte Aggression gegen sich selbst ist, wenn man nicht mehr leben will. Mit ihr zusammen bin ich zu der Lösung gekommen, die hoffentlich für meine Zukunft wegweisend wird: Nie wieder solch ein Schmerz, solch Lebensaufgabe für einen Mann!
Denn sie ist selbstzerstörend ...

Fanny Seelfin, geb. 1967 in Berlin-Köpenick, Studium für Studienrätin in Musik und Deutsch. Tätigkeiten als Lehrerin u.a., Arbeitet heute als Autorin. Zahlreiche Lesungen und Veröffentlichungen in Lyrik und Prosa.


M – wie Mechanismen der Einweisung (25. Juli 2015)
von Peter Mannsdorff

Du bist Woche für Woche bei deiner Einzelfallhelferin im Gespräch. Sie stellt Fragen, bohrt, hakt nach – du redest frei von der Leber weg, von drinnen nach draußen, fast wie beim Analytiker, nur liegst du nicht auf der Couch. Beim Reden wird dir vieles bewusster, klarer; du kommst zu Einsichten und spürst jedes Mal, das Gespräch im Allgemeinen und das professionelle Gespräch im Besonderen tut dir gut.
So weit – so gut!
Wenn du aber in eine psychische Krise gerätst und du das Herz auf der Zunge trägst, begibst du dich leicht in die Höhle des Löwen. Beim Reden nimmst du das Stirnrunzeln der Therapeutin wahr, und du ahnst, sie hat mitbekommen, dass du neben der Spur bist. Aber du kannst nicht anders, du redest weiter. Dein Redebedürfnis ist zu groß. „Was werden Sie tun?“, fragst du leicht verängstigt nach der Sitzung. „Schicken Sie mich in die Klinik?“
Die Therapeutin sagt bestimmt: „Nein, aber ich werde Ihren gesetzlichen Betreuer anrufen.“
Kaum bist du dann zu Hause, klingelt das Telefon. Udo, der Betreuer, fast schon ein Kumpel; der Gegenpart in deinem langjährigen Katz-und-Maus-Spiel mit Behörden und Ärzten während deiner Krisenzeiten, wird sofort direkt: „Ich habe gehört, du hast wieder Ideen?“
Du ahnst, wo das Spiel enden wird, und versuchst dem Dilemma zunächst scherzhaft zu begegnen: „Darf man in dieser Stadt keine Ideen mehr haben?“ – „Doch, das darf man, aber deine sind krank.“ – Du konterst: „Wenn du meinst, meine Ideen sind krank, dann treffe dich mit mir und mache dir ein Bild von mir.“ – „Das brauche ich nicht, ich verlasse mich da ganz auf deine Therapeutin. Es reicht, wenn sie sagt, du bist wieder krank. Also geh in die Klinik!“ – „Ist das ein Befehl?“ Udo lacht: „Wenn du so willst, ja.“
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau kommt dir in den Sinn: Man lebt in der modernen Gesellschaft in der Meinung der anderen ... oder anders ausgedrückt: Dein Amtsbetreuer will dich nicht so sehen, wie du zurzeit wirklich bist, er sieht dich mit den Augen deiner Einzelfallbetreuerin.

Ein anderes Beispiel:
Man stelle sich eine junge Frau vor, nennen wir sie Gabi, sie ist schon ziemlich über dem Damm, aber noch für die Ansprüche ihrer Umwelt einigermaßen gezähmt. Sie hält die Einsamkeit in ihrer Wohnung nicht aus. Es reicht ihr nicht, ihre Musik allein zu hören; Musik ist wichtig für sie, aber sie möchte sie jetzt in Geselligkeit genießen. Sie will unter Menschen sein, mit jemandem sprechen.
Sie klingelt an der TĂĽr eines Freundes.
Mit den Worten „Komm rein!“ wird sie gastfreundlich hereingebeten, obwohl der Freund gerade damit beschäftigt ist, Abendbrot zu essen. Aber kein Problem: „Willst du auch ein Brot?“
Zunächst erscheint Gabi als eine normale Besucherin, sie weiß, gerade deswegen darf sie jetzt nicht auffallen, sie nimmt sich zusammen, versucht ruhig zu bleiben, aber es ist stärker als sie, sie muss reden, braucht ihre Musik und legt, ohne zu fragen, ihre CD ein. Der Kumpel wird hellhörig, merkt, was los ist, und beginnt, mit der Sprache des Verstandes auf Gabi einzuhämmern: „Geh in die Klinik. Du bist krank.“
Gabi, noch ziemlich ruhig: „Ich bin nicht krank. Ich will jetzt nur nicht allein sein.“ Immer wieder: „Komm auf den Teppich. Du gehörst in die Klinik. Ich habe keine Zeit für dich.“
Der Besuch, allmählich zur Last geworden, wird aggressiv, verbalaggressiv – „Ihr seid doch die Verrückten!“ – redet lauter, schneller, unkoordinierter, dreht die Musik auf volle Lautstärke, zündet sich in der rauchfreien Wohnung ihres Freundes eine Zigarette an, schnippst die Asche demonstrativ auf den Teppich.
Eine Spirale von Druck und Gegendruck, die Gabi immer höher schaukelt. Ihr Bekannter verschwindet im Flur. Gabi wird misstrauisch: „Wohin gehst du?“
„Nur eine Freundin anrufen.“
Gabi gibt sich mit der Antwort zufrieden, schließt die Augen und kommentiert schwärmerisch die einzelnen Songs ihrer CD – „Achte mal auf den Bass! Ist die zweite Stimme nicht genial?!“ – und schreckt erst auf, als es eine viertel Stunde später an der Wohnungstür klingelt, da erst begreift sie, dass alles wieder seinen gewohnten Gang geht ... weiß-orange Westen, grüne Uniformen.
Das immer wiederkehrende Spiel: Ich gehe nur mal schnell eine Freundin anrufen ...
Die sich anbahnende Krankheit ist durch den Redeschwall des maniformen Psychotikers leicht auszumachen. Doch der Mechanismus der Einweisung funktioniert auch bei Menschen der introvertierten Psychose, bei Menschen, die sich strikt weigern zu sprechen, die sich vornehmen, Therapeuten gegenĂĽber verschwiegener als ein Grab zu sein.
Eine therapeutische WG am Vormittag.
Der Betreuer: „Red endlich! Was ist los?“
Schweigen.
„Was bedrückt dich?“ – „Nun sprich doch!“ – „Wenn du Probleme hast, musst du mit uns darüber reden!“ – „Wenn du nichts sagst, müssen wir davon ausgehen, dass du krank bist.“ Schweigen. „Also gut, wir benachrichtigen den Sozialpsychiatrischen Dienst. Es gibt keinen anderen Ausweg.“
Eine verständliche Art, aus der Bahn geratene Menschen loszuwerden und an Orte zu bringen, wo sich professionell geschulte Menschen um sie kümmern.
Verständlich und einfach, aber auch wenig psychologisch. Schon mal etwas von der paradoxen Intervention gehört?
Fritz, der sich zurzeit im psychischen Ausnahmezustand befindet, leidet unter dem Zwangsgedanken, sämtliche Betonvorstädte seiner Stadt mit Flugschriften zu beglücken, um wer weiß was Großartiges zu erreichen.
Fritz zu einem Freund: „Mach mit! Wir werden die Postillen tausendfach verteilen.“
Die gewöhnliche Reaktion in dem Falle wäre: „Geh in die Klinik! Du bist krank!!!“
Die Reaktion des Freundes „Klar, das machen wir.“
„Wann? Jetzt?“ – „Nein, nächste Woche.“ Eine Woche später: „Heute?“ – „Sei geduldig! Nächste Woche, wirklich!“
Etc.
Endlich hat sich Fritz nach Wochen gefangen.
Der Freund: „Heute können wir’s machen.“
„Jetzt will ich nicht mehr.
Der Betreuer in der WG hätte paradox intervenieren können, indem er sagte: „Gut, dann schweig ich auch. Dann schweigen wir um die Wette. Mal sehen, wer es von uns beiden schafft, länger zu schweigen.“
Vielleicht hätte er auf diesem Wege den Bewohner dazu gebracht, über seine Probleme zu reden ...


M – wie Mitpatienten (1. August 2015)
von Sibylle Prins

Mit den Mitpatienten ist das auch nicht immer so einfach. Da wird man in einem Zustand, in dem man ganz außer sich ist oder völlig neben sich steht, in eine fremde Umgebung gebracht – psychiatrisches Krankenhaus – mit vielen fremden Menschen. Ein Teil dieser fremden Menschen bilden die Mitarbeiter, die nach ihrer Schicht immer nach Hause gehen. Die anderen, die Tag und Nacht dableiben, mit denen man dann plötzlich dieses veränderte Leben teilen muss, das sind die Mitpatienten. Mit denen man dann auch noch eine Gemeinschaft bilden soll. Eine unfreiwillige Gemeinschaft. Für viele Psychiatrie-Erfahrene ist das gar nicht leicht, plötzlich mit diesen Mitpatienten auf so engem Raum wohnen zu sollen. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Milieus, deren Sitten, Sprachgebräuche, Gewohnheiten einem vielleicht gar nicht vertraut sind. Die vielleicht sogar Angst machen. Ich erinnere mich an einen Mann, der ständig in Waffenkatalogen blätterte. Daneben versuchte er, Pornovideos an andere Patienten zu verkaufen. Das Personal untersagte ihm das zwar und nahm ihm die Materialien weg – er konnte es aber nicht lassen. Oder der große, kräftige Mann, der nie ein Wort sagte, aber einen immer wütend und bedrohlich anstarrte.
Oft sind Neulinge auch erschrocken darüber, wie sich die psychischen Probleme der anderen darstellen. Wenn es zu ungewöhnlichem Verhalten kommt, jemand zum Beispiel dauernd (scheinbar) grundlos herumbrüllt. Dann denken diese Neuen: boah, die anderen sind ja ganz schön krank! (Wobei die Verfasserin dieses Beitrags nach wie vor der Meinung ist, dass es nicht zur Gesundwerdung beitragen kann, wenn lauter Menschen zusammengepfercht werden, die alle gerade in der Krise sind ...) Oder sie sind noch mehr erschrocken, wenn sie etwas über den sozialen Status dieser Mitpatienten erfahren, dass sie zum Beispiel Wohnheimbewohner und/oder Beschäftigte einer Werkstatt für behinderte Menschen sind. Dann bekommen sie Angst, dass auch ihre Zukunft so aussehen könnte. Was sie dabei übersehen, ist, dass auch die Wohnheimbewohner oder die Werkstattbeschäftigten zu einer Zufriedenheit mit ihrem Leben finden können.
Diese Schwierigkeiten, mit sehr unterschiedlichen fremden Menschen plötzlich zurechtkommen zu müssen, werden von den Klinikmitarbeitern oft nicht so wahrgenommen. Für sie sind wir ja alle Patienten – vielleicht nicht alle gleich, aber alle zur gleichen Gruppe gehörend. Während wir Patienten das vielleicht überhaupt nicht so empfinden.
Noch was zum Thema unterschiedliche (gesellschaftliche) Milieus: interessant ist auch immer die Kritik an der Psychiatrie, die insbesondere Patienten aus eher privilegierten Kreisen vorbringen. Oder die zumindest beruflich schon recht erfolgreich waren. Diese nehmen die Dinge, wie etwa die räumliche Gestaltung oder die mehr für Kinder geeignete Beschäftigungsangebote nicht so hin wie altgediente Psychiatrie-Erfahrene, die sowieso nichts mehr erwarten ...
Aber es gibt auch eine andere Seite. Für mich waren die Mitpatienten mit Abstand immer das Beste an der Psychiatrie. Nicht, dass ich mich mit jedem Einzelnen nun hätte enger befreunden mögen – aber ich empfand doch eine sehr große Solidarität unter- und miteinander. Auch wenn man freiwillig in der Psychiatrie war und der andere vielleicht nicht – man saß doch im selben Boot. Auch bei Einschränkungen hinsichtlich irgendwelcher Regeln, zum Beispiel dass die Teeküche außerhalb der Essenszeiten nicht benutzt werden durfte. Oder dass die ostpreußische Oberschwester Klara keinen Widerspruch duldete. Da hielten wir Patienten denn doch zusammen. Und das, obwohl ich es den anderen nicht immer leicht machte: in meinen Psychosen verkenne ich manchmal Personen, denke, sie seien jemand anderes, als sie vorgeben. So hielt ich mal eine Mitpatientin für den Erzengel Gabriel, eine andere für eine Hexe und einen Mann auf der Station für die fleischgewordene Hauptperson eines Romans, den ich gerade vorher gelesen hatte.
Darüber hinaus lernte ich natürlich auch viele Menschen kennen, die sehr krank oder auch chronisch krank waren. Vor den meisten von ihnen hatte ich sehr großen Respekt. Denn es war für mich spürbar, wie viel Kraft sie für die einfachsten Tätigkeiten und Alltagsaufgaben, für das schiere Durchhalten aufbringen mussten. Dass sie das immer wieder taten und nicht resignierten – das bewunderte und bewundere ich sehr an ihnen. Sie müssen es mir wohl angetan haben, die Mitpatienten, dass ich später den Kontakt noch um ein Vielfaches intensivierte, als ich in die Selbsthilfebewegung ging und dort aktiv wurde. Ich traf dort natürlich auch unsympathische oder schwierige Charaktere, aber darüber hinaus so viele interessante, sympathische und besonders einfühlsame Menschen, wie ich sie anderswo wohl nicht vorgefunden hätte. Und bis heute besteht der größte Teil meiner sozialen Kontakte aus anderen Psychiatriebetroffenen. Ich finde, das ist ein Vorteil.


M – wie Musiktherapie (8. August 2015)
von Peter Mannsdorff

Die Musiktherapie gehört in Deutschland in der Psychiatrie neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie zu den am meisten angewandten Therapieformen. Sie soll es den Patienten ermöglichen, sich besser selbst kennenzulernen. Sie bekommen durch das Produzieren von Klängen auf Instrumenten, die sie nicht unbedingt beherrschen müssen, Kontakt zu ihren Emotionen. Spannungen, Ängste, soziale Konflikte, destruktives Verhalten oder irrationelle Gedanken sollen fokussiert werden.
Die Patienten sitzen in einem Kreis, jeder mit seinem Instrument beschäftigt, es wird improvisiert, rhythmischer Gleichtakt wird ausprobiert. Jeder bezupft und beklopft und bestreicht vorsichtig ein Instrument aus der Sammlung des Musiktherapeuten. Manche schließen genießerisch die Augen bei den wohltuenden Klängen, für andere ist es Katzenmusik, die da gespielt wird. Aber bei aller Skepsis, Hut ab vor dem therapeutischen Anspruch, das Unsichtbare in den Köpfen der Patienten sichtbar machen zu wollen. "Was wollte der Paukenschlag des Patienten X. uns sagen?" – "Welches Symptom kam durch diese Klangdissonanz zum Ausdruck?"
Trotzdem, böse Zungen könnten von einem in eine musikalische Form gezwängten Stumpfsinn sprechen. Der Musiktherapeut sollte solch eine Session mal mit ganz normalen Arbeitern vom Bau inszenieren. Sie in einen Kreis setzen, ihnen ein Instrument in die Hand drücken und sie eine Stunde lang unrhythmisch, ohne Takt, unmelodisch auf Hölzer, Tamburins und Xylofone schlagen lassen. Anschließend die ins Gemüt gehende, schleppend langsam, mit warmer, betont nicht aggressiver Stimme gestellte Frage: „Was haben Sie gefühlt? Haben Sie die emotionalen Schwingungen Ihres Nachbarn spüren können?“
Die Bauarbeiter würden dem Therapeuten einen Vogel zeigen: „Wir jehn rabotten, und die Bekloppten kloppen uff unsre Steuergelder uff ihre dämliche Instrumente! Macke, wa?“
(Das ist natĂĽrlich polemisch. Die Musiktherapie hat ihre eindeutig therapeutische Berechtigung und wird von der groĂźen Mehrzahl der Patienten positiv angenommen.)
Es ist aber auch schon einmal vorgekommen, dass ein Patient, total euphorisch und überkandidelt, die Einzeltherapie stürmte und mit Befehlen um sich schmiss: „Herr M., setzen Sie sich ans Klavier, ich spiele Gitarre und singe.“
Er gab die Akkorde wie einen Tagesbefehl durch, und sie improvisierten einen Song, in dem der Patient alles auf ei reimte, was ihm in den Sinn kam. Mit rauer Raucherstimme sang er: Oh, why, my Lady Di, should you ever die. Tell me why I should cry shit into the sky.
Einfallslos, aber in dieser Einfallslosigkeit fast genial.
In manchen Kliniken gibt es Chöre von Ärzten, Schwestern und Therapeuten. Es sind wirklich musikalisch einwandfreie Chöre. Zu Krankenhausfesten treten sie auf, zur Weihnachtsfeier, zum Sommerfest. Sogar die Chefärztin singt mit.
Träumer unter den Patienten träumen den Traum von einer Klinikband im Rahmen der Musiktherapie. Ehemalige und zurzeit stationäre Patienten könnten in ihr mitspielen. E-Gitarren und wirbelnde Schlagzeuge würden bei den Festen rocken. Die Gruppe könnte Pfiffikus & Psychokuss heißen; sie engagierte sich mit ihren Auftritten, auch außerhalb des Krankenhauses, für die Verständigung zwischen Leuten aus der Psychiatrie und den sogenannten Normalos.
Aber dieser Traum muss Illusion bleiben ... denn wenn man in der Musiktherapie StĂĽcke einstudieren wĂĽrde, ginge ihr eigentlicher Zweck der Therapie schlieĂźlich verloren.


M – wie Mutter-Tochter-Konflikt (15. August 2015)
von Fanny Seelfin

Mutter-Tochter-Verhältnisse können sich als besonders innig, aber auch kriegerisch gestalten und können sich im Laufe des Lebens ändern. Eine mögliche Konkurrenz zwischen Mutter und Tochter kann entstehen. Schon die Märchen bieten dafür Stoff (zum Beispiel Schneewittchen, Aschenbrödel usw.), die Literatur ist voll davon.
Nicht ganz so bekannt wie der Ödipuskomplex ist der Elektrakomplex, der das Phänomen einer besonders engen, abgöttischen Liebe zum Vater aus der Kindheit beschreibt, die im Erwachsenenalter nicht abklingt. Daraus resultiert eine Feindseligkeit gegenüber der Mutter. Der Stoff des Familiendramas Elektra aus der Antike wurde als das weibliche Gegenstück zum Ödipuskomplex von C.G. Jung und S. Freud in die moderne Psychologie als der sogenannte Elektrakomplex eingeführt.
Doch zu einem kriegerischen Konflikt kann und sollte es gar nicht erst kommen, wenn es dem heranwachsenden Mädchen gelingt, sich rechtzeitig abzunabeln. Dazu muss die Mutter die Jugendliche aber auch gehen lassen. Geborgenheit, Schutz und Behütetsein, wenn diese hoffentlich gegeben sind – heißt nicht unbedingt auch rechtzeitig loslassen zu können!
Die junge Frau (...) versucht in der fremden Frau ihre Mutter zu erkennen. In ihr etwas zu finden. Vielleicht ihre Kindheit, einen Teil von sich selbst (...), eine Bindung, die niemand zerstören kann. Niemand! Nicht einmal eine Mauer!
(Aus: Das Kamel von F. Femme).
Wie es gehen kann, zeigt folgendes Beispiel:
Da ihre Eltern viel beschäftigt waren und arbeiten mussten, wuchs das kleine Kind teilweise in einem Kinderwochenheim auf, einem Kindergarten, in dem die Kinder die ganze Woche betreut wurden und nur am Wochenende nach Hause kamen. Schon sehr früh ließen sich ihre Eltern scheiden, das Mädchen war vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Es wuchs dann allein bei seiner Mutter auf und verlor auf diese Weise seinen Vater, da die Mutter das Sorgerecht erhielt. Doch bald wurde das kleine Mädchen von seiner Mutter verlassen. Die Tochter war gerade vier Jahre alt, als die Mutter aus der DDR in den Westen floh und die Kleine zurückließ. So verlor sie in quasi frühesten Lebensjahren bereits Vater und Mutter.
Sie wuchs zeitweilig bei ihrer GroĂźmutter auf, zu der sie eine sehr enge, innige Bindung hatte. Diese Bindung war sehr stark, da ihre Mutter fehlte. Im Alter von fĂĽnf Jahren traf es sie wie ein Schlag, als sich die GroĂźmutter aus politischen GrĂĽnden das Leben nahm.
Das kleine Mädchen kam jetzt in ein Kinderheim.
Ihr Vater kämpfte nun sehr lange gegen die harten Mühlen des DDR-Staates, um das Sorgerecht für seine Tochter zurückzuerhalten.
Mit Erfolg.
Schließlich lernte er eine neue Frau kennen. Das Mädchen bekam eine neue Mutter und zwei Brüder, die bedeutend älter waren als sie. Bald fühlte sie sich in diese neue Familie integriert.
Nach anfänglichen Berührungsängsten gestaltete sich das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter erstaunlich gut. Doch das Thema Mutter (also leibliche Mutter) blieb ein Tabu!
Die Tochter ging zur Schule und wuchs in der Familie auf. Da ihr Vater Musiker war und sehr viel unterwegs, sahen sie sich nicht allzu oft. Die Stiefmutter war Lehrerin und erzog sie ziemlich streng. Aber trotzdem wurden sie gute Freundinnen und verbrachten auch in späteren Jahren kulturelle Abende und tauschten sich rege aus.
Und doch: Immer wieder fragte sich die Tochter, wie es wohl ihrer leiblichen Mutter ginge, warum sie sie verlassen hatte und ob sie noch an ihre Tochter dachte oder sie vergessen hatte. In ihrer Familie zeichnete sich schnell das Bild einer Rabenmutter über die leibliche Mutter ab, doch das Mädchen wollte dies nicht glauben. Sie malte sich aus, was aus ihr geworden wäre, wenn sie auf der anderen Seite der Mauer bei ihrer leiblichen Mutter aufgewachsen wäre.
Die Stiefmutter war ziemlich dominant und hielt die Familie als ein Heiligtum zusammen (als gäbe es keine bessere Familie).
Im Erwachsenenalter erkrankte die Tochter während ihres Studiums zum ersten Mal sehr schwer. Auslöser war der Verlust ihres Lebenspartners: Die wahre Ursache aber war – das stellte sich erst lange danach heraus – ihr Kindheitstrauma von der Mutter, die sie im Stich gelassen hatte.
Ihre Eltern unterstützten sie während ihrer Krise anfangs sehr. Doch die Dominanz und dieser wütende Kontrollwillen war es auch, der Tochter und Stiefmutter später immer wieder massiv aneinandergeraten ließ. Fehlendes Verständnis für die Krankheit und fehlende Empathie erschwerten das Verhältnis zusätzlich!
Die Stiefmutter versuchte sich in alles einzumischen und jeden zu kontrollieren. Die Tochter war längst eine erwachsene Frau und wollte ein selbstbestimmtes Leben führen, doch so wurde sie wieder in eine Rolle der Abhängigkeit und opponierende Kindlichkeit gedrängt.
Das gestörte Mutter-Tochter-Verhältnis führte, weil die Tochter – auch wenn sie psychisch krank war – sich von der Dominanz der Stiefmutter freimachen wollte, zu einem zeitweiligen Kontaktabbruch. Jahrelang hatte sie Albträume von ihrer Stiefmutter, und gerade, weil ihr die Geborgenheit der Familie nun fehlte, fiel ihr die Trennung sehr schwer.
Erst lange Zeit später konnten beide wieder neu aufeinander zugehen. Es gab eine Aussprache, in der die Stiefmutter auch ihre eigene Unsicherheit ansprach, und die Tochter ihren Freiheitswillen für ein selbstbestimmtes Leben betonte.
Tochter und Stiefmutter müssen sehr vorsichtig sein und dürfen nicht in alte Muster zu verfallen, und manchmal belanglos geäußerte Worte nicht allzu persönlich zu nehmen. Alles in ihrer reifen Beziehung ist noch am Wachsen!
Die Tochter ist voller Hoffnung und freut sich über das wiedergewonnene Vertrauen. Sie hofft, der Mutter ginge es ebenso, und wünscht sich, dass sie sich nicht wieder – wie so oft in der Vergangenheit – gegenseitig enttäuschen und verletzen würden!
Doch der Weg, den sie beschreiten, ist gut, denn die Stiefmutter erkennt inzwischen die Unabhängigkeit der Tochter an.
Nach der Wende nutzten Tochter und leibliche Mutter endlich die Gelegenheit, sich wiederzusehen, sich ĂĽberhaupt erst einmal kennenzulernen.
Die Mutter blieb der ehemals verlassenen Tochter aber ziemlich fremd, auch wenn sie jetzt eine Bindung erhoffte, die jedoch leider nie wachsen konnte. Briefe und Päckchen gingen hin und her, die Kontakte brachen wieder ab und leider konnte nie eine wahre Mutter-Tochter-Beziehung wachsen und entstehen, auch wenn die Tochter oft darunter litt, dass sie einstmals ihre (leibliche) Mutter verloren hatte!


N – Nikotin, bis die Lunge rußt (22. August 2015)
von Peter Mannsdorff

Viermal mehr psychisch kranke als psychisch stabile Menschen greifen nach Umfragen zur Zigarette. Das mag seine Gründe haben: Rauchen ist für viele der seelisch Belasteten das Einzige, das ihnen wenigstens ein bisschen die Illusion von Freiheit gibt. Glückshormone, die einem das Gefühl von Belohnung geben, werden ausgeschüttet. In sehr vielen psychiatrischen Stationen werden im Gegensatz zu anderen Krankenhäusern Raucherräume geduldet; in einem Wegweiser durch die Berliner Kontakt- und Beratungsstellen heißt es: Die Neuköllner Psychiatrie ohne Raucherräume ergäbe die Rebellion.
Gerade in Neukölln kommen in der Regel große Machtkämpfe zwischen Pflegepersonal und Patienten vor. Da der Raucherraum, laut Klinikleitung, ein großzügiges Zugeständnis an Patienten ist, die keinen Ausgang haben, sollen wenigstens keine Tische und Stühle in ihm stehen.
Grundregel Numero 1: Der Raucherraum sei kein Aufenthaltsraum,
Grundregel Numero 2: Lediglich eine Zigarette in ihm – stehend (!) - rauchen, dann nichts wie wieder raus.
Immer wieder werden Tische und StĂĽhle von den Pflegern und Schwestern herausgetragen, immer wieder schieben sie die Patienten zurĂĽck. Ă„ltere Semester, die in den 70er-Jahren ihre BlĂĽtezeiten erlebt hatten, sprechen von Klassenkampf in der Klinik.
So zynisch es sich anhören mag, arm dran in der Psychiatrie sind wirklich die Nichtraucher. Sie haben einen Aufenthaltsraum, den sie mit Fernsehgeflimmer teilen müssen, und auch wenn sie einen Raum für sich hätten, Gemütlich- und Geselligkeit würden selten aufkommen. Bei den Rauchern ist das anders: „Auf eine Zigarette bleib ich noch!“, und dann wird doch noch über drei Zigarettenlängen weiter geplaudert.
Im Raucherraum wird oft Party gemacht. Es findet sich immer eine Patientin oder ein Patient, der seinen Radiorekorder zur VerfĂĽgung stellt, da wird oft spontan getanzt, und manch einer hat eine groĂźzĂĽgige Phase und verteilt Zigaretten. Wenn man etwas von den Schicksalen seiner Mitpatienten in Erfahrung bringen will, dann hier.
Das ist eine Seite der Medaille.
Die andere: Oft ist im Raucherraum tote Hose. Schweigend atmet jeder sein Nikotin und das der anderen wie einen Lebensodem ein und denkt bei jeder angesteckten Zigarette, die Lösung aller Probleme gefunden zu haben, aber kaum ist die Kippe ausgedrückt, sind die Probleme von Neuem da.
Platzt in diese Runde ein neuer Patient, so ist es in der Regel kein Problem für ihn, eine Zigarette zu schnorren. Auch eine weitere wird ihm vielleicht noch gegönnt; bei der dritten bekommt er den Satz an den Kopf geworfen: „Aber rauchen kannste alleine“, und schließlich: „Kauf dir doch selbst welche.“
Dann ist Sense. Mangels Geld guckt der Patient von nun an sehnsüchtig auf die glimmenden Stängel der rauchenden Mitpatienten und sucht in den Aschenbechern nach ausgedrückten Kippen.
Die meisten Patienten bleiben bei diesem Anblick eisern, denn sie müssen dabei an ihren Geldbeutel und ihre Suchtbefriedung denken; es gibt aber auch jene, die so viel Empathie haben, sich in den gezwungenermaßen abstinenten Nikotinabhängigen hineinzuversetzen, um sich bildlich vorzustellen, wie grauenvoll es sein muss, seine eigene Sucht nicht befriedigen zu können – kurz, sie erbarmen sich des Schnorrers.


O – wie Odysseus und die Sirenen (29. August 2015)
von Peter Mannsdorff

Als ich diesen Stichpunkt für den Buchstaben O wählte, unterlag ich der Täuschung einer falschen Erinnerung. Ich hatte es so im Kopf, dass Odysseus sich die Ohren verstopfte, während er nahe an den Klippen der heulenden Sirenen vorbeisteuerte, die mit ihrem verführerischen Gesang schon manche Seefahrer ins Verderben führten.
Es war anders: Die Matrosen schützten sich vor den Sirenen, indem sie sich die Ohren verstopften, während Odysseus sich an den Mast fesseln ließ, um ihrem Gesang gefahrlos lauschen zu können.
Die Beispiele von meiner angehenden seelischen Erschütterung gehen in die entgegengesetzte Richtung: Ich wusste auch sehr wohl um die Gefahr, die in dem Geschenk meiner Bekannten lag. Die Musik der anheimelnden Mönchsgesänge von Enigma, die ich in einschlägigen Phasen immer gehört, mit der ich aufgepeitschte, schlaflose Nächte verbracht hatte und die mich an die schönen Zeiten in meiner Vergangenheit erinnerten, wollte ich gar nicht erst hören, denn ich wusste, sie würde mich ein erneutes Mal in den Wahn treiben. So ließ ich mich an keinen Mast binden, um der Musik zu lauschen, denn ich ahnte, dass mich die Musik emotional derart berühren würde, dass ich den Mast in meinem kommenden Schub ausreißen und mit ihm auf dem Rücken den Sirenen blind ins Messer laufen würde.
Dieses eine Mal, wenigstens dieses eine Mal, tat ich Besseres: Ich verstopfte mir die Ohren, hörte der Musik gar nicht erst zu und gab die CD meiner Bekannten zurück: „Edith, lieb von dir. Du weißt, es ist meine Lieblingsmusik, aber ich darf sie nicht hören.“
Das tat ich nur einmal. All die anderen Male guckte ich durch das Schlüsselloch in das verbotene 13. Zimmer, weil seine Verlockungen für mich unwiderstehlich waren. Vom Kopf her wusste ich, es würde eine gefährliche Reise werden, aber ungeachtet aller Vorsätze, wollte ich ihre Höhenflüge mit all ihren Reizen wieder erleben. Vergessen alle Konsequenzen der langen stationären Unterbringung, der Nektar von Erinnerungen, Tagtraumlandschaften, gekoppelt mit Melodien einer nie vergessenen Zeit – duftete so lieblich, dass ich mich mit ihm wie der glücklichste Mensch der Welt fühlte.
Dahinter steckte aber immer wieder der verbissene Anspruch: Und wenn diese gefährlichen Gedanken und Lieder mich noch zehnmal in die Klinik bringen, ich konfrontiere mich so lange mit meiner Vergangenheit, bis ich mit ihr gesunde, bis sie mich nicht mehr aus der Bahn wirft.
Ein steiniger Weg, der viele Jahre in Anspruch nehmen würde, aber vielleicht mit dem Lohn, dann den Sirenen lauschen zu können, ohne wieder dem Wahn verfallen zu müssen.


O – wie Outen I (5. September 2015)
von Roya Golab

Ich schob den Bücherwagen durch die geschlossene Station. Ich fing meine Zimmerbesuche von hinten an. Ich weiß nicht, ob es das zweite oder dritte Zimmer war, in dem ich unerwartet eine etwas mollige Frau mit langen, blonden Haaren auf dem Bett zusammengerollt liegen sah. Erst auf den zweiten Blick hatte ich Klara erkannt. Nachdem ich sie begrüßt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen. Ich beugte mich über sie, umarmte sie, um sie zu trösten.
„Ich habe Zyprexa abgesetzt!“, sagte sie weinend, während sie ihr Gesicht in den Händen versteckte. „Drum bin ich jetzt hier.“ Sie weinte noch heftiger. Zyprexa macht bekanntlich dick! Da fliegt man auf den Mond, aber die Chemiker können kein Antipsychotikum herstellen, das nicht dick macht?
Ich hatte Klara vor einiger Zeit in einem indischen Restaurant kennengelernt. Dann traf ich sie an einem Heiligabend wieder, als ich depressiv durch die Straßen schlich. Sie kam mir fröhlich und leger entgegen. Mit einem Geschenk unterm Arm – für ihren Bekannten, wie sie sagte. „Er ist sehr kontaktfreudig. Komm doch mit – es wird dich in bessere Stimmung bringen.“
Aus der Einsamkeit heraus hatte ich die Einladung angenommen. Während des Weges sagte sie unvermittelt: „Aber du sagst ihm nichts von unserer Krankheit! Ich erzähle den Leuten niemals, dass ich eine Psychose habe und Medikamente nehmen muss.“
Ich fand ihr Misstrauen übertrieben, wollte aber mit ihr die Abmachung einhalten, nichts auszuplaudern. Sie war halt sehr bemüht, zu den Normalen zu gehören und ihre Krankheit vor sich selbst und vor den Anderen zu verbergen – sie als einen Albtraum, aus dem sie gerade erwacht ist, zu betrachten. Wie viele andere psychisch Kranke schämte sie sich dafür, krank zu sein. Als wenn die Krankheit allein nicht schon reicht und man sich dafür auch noch schämen müsste.
Tatsächlich hatte sie die vorherrschende Meinung in der Gesellschaft übernommen, dass psychisch krank sein bedeutet, anormal zu sein – verrückt und daher weniger wert und würdiger als die Anderen.
Aufenthalt in der Psychiatrie?
Ein Tabuthema, das nicht vorkommen durfte, das man mit aller Kraft vergessen musste.
Jetzt lag sie auf dem Bett in der geschlossenen Abteilung und weinte. Nun war sie die Traurige, ich die mit dem aufrechten Gang. Ganz anders als an dem Heiligabend. Ich versuchte sie zu trösten: „Nimm deinen Aufenthalt hier nicht allzu schwer. Du kannst es als Erholungsmöglichkeit ansehen. Es ist egal, was die Welt sagt! Lass es dir gut gehen.“
Der Satz Es ist egal, was die Welt sagt! hatte Wunder bewirkt. Sie saß plötzlich senkrecht im Bett und tupfte ihre letzten Tränen mit einem Taschentuch vom Gesicht.
Dann las ich ihr etwas vor, das ich einmal über meine Psychoseerkrankung aufgeschrieben habe. Es ging um meinen eigenen Aufenthalt in der Psychiatrie. Wir sprachen lange über den Text. Klara hatte bald erkannt, was ich mit meiner Leseaktion erreichen wollte, nämlich, dass sie mit ihrer Krankheit immer und immer wieder hinter dem Berg halten wollte. Jetzt, nach dieser Lesung, war sie irgendwie beruhigt und bekam den Mut über ihre Krankheit zu sprechen. Wir sollten aufhören, uns als arme Opfer zu betrachten, sagte sie, und uns hinter unseren Wohnungsmauern einzuigeln, sondern sollten massiver und selbstbewusster auftreten.
Ein wenig angerĂĽhrt war ich, als ich ging. Klara weinte nicht mehr, sie sah nachdenklich aus.
Im Gang dachte ich über das Outen nach. Wie könnte man die gängige Meinung der Gesellschaft über unsere Krankheit ändern? Ist es möglich, das Tabu Psychische Krankheit zu brechen?
Krankheit ist einfach Krankheit. Warum gibt es darüber so gut wie keine Aufklärung in den Medien, so dass die Betroffenen sich nicht schämen müssen und von den Anderen isoliert und als anormal angesehen werden? Eine psychische Erkrankung ist eine Krankheit wie Diabetes.


O – wie Outen II (5. September 2015)
von Manuel Rabek

Eine Lesebühne in Berlin. Eine illustre Runde an Zuhörern erscheint jeden Freitag im Vortragssaal eines kommunalen Kulturhauses, um jede Woche unveröffentlichten Texten zuzuhören.
In diesen Kreis alteingesessener Autoren gerät der psychiatrieerfahrene Fritz G. hinein. Er outet sich sofort als Betroffener, nicht nur das, er meldet sich nach den verlesenen Texten meistens als Erster zur Diskussion, liest selbst gern und oft Texte vor, die nicht immer für allgemeine Ohren verständlich sind – kurz, eines Abends, bittet ihn der Vorsitzende der Lesebühne, das Plakat der freitäglichen Lesung an die Pforte des Vortragssaales zu pinnen. Dies getan, folgen die majestätischen Worte: „Du kannst jetzt gehen. Komm wieder, wenn du bessere Texte schreibst. In der Klinik gibt es sicher auch Schreibzirkel.“
Was genau der Grund des Verstoßes aus der Autorenrunde ist, bleibt eine schwierige Frage: Ist es wirklich die Qualität der Texte oder ist es das Anderssein von Fritz G.?
Der jedenfalls steigert sich in eine Krise hinein und verschlimmert alles: Gekränkt, startet er ein Email-Bombardement auf den Vorsitzenden, von wegen ihn sein Grab ausheben lassen, um ihn dann zu erschießen.
Der Vorstand der LesebĂĽhne beruft eine Mitgliederversammlung ein. Eine knappe Mehrheit um den Vorsitzenden setzt sich durch: Fritz G. bekommt Hausverbot.


P – wie Persönliches Budget (12. September 2105)
von Rosi Haase

Die Politik geht neuerdings davon aus, dass auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, sowie Menschen mit chronischen psychischen Störungen auch ein gewisses Selbstbestimmungsrecht haben und dieses auch Anspruch nehmen dürfen. Menschen, die nicht ganz der Norm oder dem durchschnittlichen Leistungsanspruch entsprechen sind auch individuell und zumindest teilweise in der Lage ihre eigenen individuellen Bedürfnisse zu erkennen. Daraus folgt, dass Menschen die Hilfe zum Leben benötigen ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht zu entscheiden welche Art der Hilfe sie benötigen um ihre individuellen Bedürfnissen zu erfüllen.
Eine Maßnahme um die individuelle Hilfe zu ermöglichen ist das persönliche Budget. Menschen, die Hilfe benötigen, also Menschen mit einem Hilfebedarf, können das persönliche Budget selbst nutzen um sich individuelle Hilfe zu besorgen. Sie bekommen das Geld direkt, dass bisher vielleicht von der Krankenkasse an ein Pflegeheim oder an einen Betreuungsdienst gezahlt wurde selbst in die Hand und können es für individuelle Formen der Hilfe ausgeben.
Seit 1. Januar 2008 gibt es das Gesetz zum persönlichen Budget. Ein Heimbewohner kann z.B. wieder in eine eigene Wohnung ziehen, das Geld, das bisher dem Heim zugute kam, kann er dann mitnehmen und sich seine Leute aussuchen, die ihn betreuen. Oder jemand geht in eine Behindertenwerkstatt, findet aber einen anderen Arbeitgeber der ihn einstellen würde und dann kann er das Geld, was die Behindertenwerkstatt erhielt, seinem neuen Arbeitgeber übermitteln. Es gibt ungezählte Möglichkeiten: Fahrdienst zum Arbeitsplatz, Freizeitbegleitung, Unterstützung bei der Aus- und Weiterbildung, alles, das ein Mensch halt mit Handicaps braucht, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen.
Alter, Art, Ursache und Grad der Behinderung spielen dabei keine Rolle. Manche Leistungen sind allerdings vom Einkommen bzw. Vermögen abhängig. Zum persönlichen Budget gibt es gefühlte zehn Millionen Infos im Internet, auch Adressen vom Beratungsstellen und weiteren Ansprechpartnern. Auf jeden Fall kann das persönliche Budget sehr individuell unterstützen, jeder Mensch ist schließlich anders. Mehr Selbstbestimmung und verbesserte Teilhabe geht allerdings mit mehr Eigenverantwortung einher.
Dazu muss jedoch erst der individuelle Hilfebedarf herausgefunden werden. Nicht immer deckt sich der individuelle Hilfebedarf eines Menschen mit den Vorgaben aus einer Pflegestufentabelle. Und wenn der individuelle Hilfebedarf bestimmt ist, dann geht es darum den oder die richtigen Hilfeleister und Unterstützer zu finden. Derzeit ist das noch eine Herausforderung, da sowohl das Sozialsystem wie auch die bisherigen Hilfedienstleister noch nicht ganz darauf eingestellt sind. Für manche individuellen Formen der Unterstützung gibt es vielleicht auch noch keine professionellen Dienstleister, da viele Formen der individuellen Hilfe bisher nicht gefördert oder finanziert wurden. Wie kann man Menschen, die individuelle Hilfe benötigen den Zugang dazu ermöglichen? Das Persönliche Budget ist ein Schritt. Aber vielleicht wird es in Zukunft Agenturen für individuelle Hilfe geben, eine Vermittlung für Hilfesuchende und Helfende. Es gilt also nun eine Infrastruktur zu schaffen oder Wege zu finden wie man individuelle Hilfe anbieten und vermitteln kann, damit Menschen mit einem Hilfebedarf auch die Hilfe bekommen können, die sie brauchen.
In der Praxis sieht das zurzeit manchmal so aus, dass Mitarbeiter vom Sozialamt oder der Pflegeversicherung oder dem Jobcenter bzw. der Agentur für Arbeit nichts davon wissen - oder schlimmer – eine völlig falsche Auskunft geben. Mir hat eine Mitarbeiterin, die in einer Servicestelle einer Rentenversicherung, die unter anderem für die Beratung zum persönlichen Budget verantwortlich ist, so glaubhaft das Gegenteil versichert, dass ich unberaten von dannen zog. Mehrere Interessenten lassen sich von diversen Behördenmitarbeitern abwimmeln: "... das ist doch nix für Sie ...". Es gibt da auch eine Hierarchie der Behinderungen und leider stehen seelisch behinderte Menschen – noch – auf der unteren Stufe.
Viele Fragen bleiben beim persönlichen Budget offen: Wer hat Anspruch darauf? Wie und von wem wird der Hilfebedarf festgestellt? Wer zahlt das PB? Wie hoch ist das PB? Wo findet man individuelle Hilfe?

Rosi Haase, geb. 1951 in Forst/Lausitz, Mitarbeiterin beim VEB Ingenieurvermessung Dresden, von 1971 bis 76 Studium und Diplom in Leipzig (Hochschule für Grafik u. Buchkunst), geschieden, zwei erwachsene Töchter. Gründungsmitglied der Leipziger Psychiatriebetroffeneninitiative Durchblick e.V. und der Sächsischen Gesellschaft für soziale Psychiatrie.


P – wie psychisch kranke Künstler (19. September 2015)
von Peter Mannsdorff

Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Künstler und Geistesschaffende der Vergangenheit psychische Defizite hatten. Dabei kommt leicht die Frage auf: Gab es überhaupt je ein völlig gesundes Genie?
Ein geringer Ausschnitt einer ellenlangen Liste belegt, wie viele Künstler der Vergangenheit von psychischen Krankheiten betroffen waren: Beethoven und Edgar Allan Poe waren Alkoholiker, Albrecht Dürer litt unter Melancholie, Picasso und Wilhelm Busch unter Depressionen, Balzac war manisch-depressiv, Guy de Maupassant starb mit zweiundvierzig Jahren in einer psychiatrischen Anstalt, Jean-Paul Sartre stellte sich in einer Depression vor die Wahl, Schriftsteller zu werden oder Selbstmord zu begehen. Sokrates hörte Stimmen. Und Jesus, so vermutet man, war selbst ein Betroffener.
Kann man nicht da die gewagte These aufstellen, dass es die psychisch Kranken waren, die, indem sie gegen das Gewöhnliche, Herkömmliche aufbegehrten, die Menschheit vorwärts brachten.
Die psychisch Kranken von heute zu stigmatisieren, sie zu hospitalisieren und sie aus der sozialen Welt auszugrenzen und – wie es die ferne Zukunft möglich machen könnte – per Gentest abzutreiben, wäre eine fatale Entscheidung, denn ohne ihre Leistungen wäre das Menschsein sehr verarmt.
Rosi Haase aus dem Leipziger Durchblick schreibt dazu im Vorwort zu meinem Buch ‚Von Drinnen nach Draußen’: Normale Menschen – behaupte ich – werden keine Künstler. Sie werden Elektriker, Kindergärtnerin, Zahnarzt oder Grundschullehrer. Mit diesen Berufen kann man in der Regel eine Familie gründen, ein Auto oder ein Häuschen kaufen und ein normales Leben mit normalen Höhen und Tiefen führen. Und das ist doch gar nicht so schlecht.
Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um Künstler zu werden. Es ist absolut unsicher, ob man damit irgendwann seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Wie kommt es also, dass sich Menschen auf so eine unsichere Sache wie Kunstmachen einlassen? Die Antwort ist ganz einfach. Sie haben keine andere Wahl. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Sie können oder wollen nur schreiben, malen oder komponieren, schauspielern oder fotografieren, und sie sind absolut ungeeignet zum Fische verkaufen oder Zähne ziehen.
Manchmal macht einem das Leben auch einfach einen Strich durch die Rechnung. Man hat sich so ein schönes Elektrikerleben vorgestellt und dann schlägt das Schicksal zu. Die Lebensbahn weicht von der geraden Linie ab, oft mit Zwischenstopp in der Psychiatrie.
Was zunächst berechtigterweise als persönliche Katastrophe wahrgenommen wird, erweist sich später als Chance für das kreative Ich.

Dass es heute auch sehr viele psychisch Kranke Künstler gibt, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, gilt es doch noch immer als ein Makel, mit einer seelischen Störung behaftet zu sein. Keiner will der Skandalgesellschaft eine Angriffsfläche bieten und bedeckt sich lieber mit Schweigen.
Vielleicht wäre es im Sinne von Van Gogh, dem bekanntesten psychisch kranken Künstler – er litt unter einer schizo-affektiven Psychose und hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt, wenn man jetzt, mehr als hundert Jahre nach seinem Tode, eine Stiftung für heutige psychisch kranke Künstler gründen würde?
Wie viele von ihnen leben heute nahe der Armutsgrenze, sind Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger und müssen fast jeden Euro, den sie durch ihre Kunst verdienen, an den Staat abzweigen? ...
In Leipzig findet jedes Jahr die Veranstaltungsreihe Kunst ist verrĂĽckt statt. Warum Kunst verrĂĽckt sein soll ist mit Sicherheit eine These, gegen die sich vielleicht normale, nicht psychiatriebetroffene KĂĽnstler wehren wĂĽrden.
Dorothea Buck hat sinngemäß einmal gesagt, dass Kunst oft aus dem Unbewussten käme und die gleichen Quellen wie das Verrücktsein hätte. Kunst, Verrücktsein, das habe alles Verwandtschaft mit dem Traum. Bei einer Psychose wird die Normalität ausgeschaltet, der Betreffende spüre überall Sinnzusammenhänge, es findet ein Zentralerleben statt, man fühlt sich in den Dingen, nicht an der Peripherie. Beim Schaffen von Kunst sei das ähnlich.
An dieser Stelle könnte man eine Anekdote einflechten, die heute als spaßig aufgefasst werden könnte, wenn sie damals nicht so bitterernst gewesen wäre: Ein ambulanter Patient handelte sich auf aberwitzige Art und Weise einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt ein. Er empfand unsere Psychiatrien als eine Vielzahl von Miniatur-DDRs, eingemauert von Wänden mit verschlossenen Türen, einige Bürger haben ein Visum zum Parkausgang, andere bekommen Westbesuch, die Zigaretten mitbringen.
Er empfand den Vergleich originell, erhoffte er sich damals für die Psychiatrie doch auch ein ’89 und schrieb ein dementsprechendes Stimmungsbild seiner Station.
Damit ging er zum fälligen Arztbesuch, da mal wieder Alarmbereitschaft angesagt war. Voll Enthusiasmus gab er den Text den Patienten im Raucherraum, er gelangte schnell in die Hände einer Schwester, sie reichte ihn der Ärztin weiter. Die überflog das Geschriebene, sah den Patienten skeptisch an und sprach schnell das Urteil. Sie hatte von der Obergenossin Ärztin gelesen, von der FDJ-Sekretärin Schwester Edeltraud und dem Grenzsoldaten Klaus – und sie hatte verstanden: Bei dem war es wieder so weit.
Die Mühe, den Text von Anfang durchzulesen und somit auch den Schlüssel zu seinem scheinbar verrückten Sinn, das heißt die Erklärung zu den Metaphern zu finden, hatte sie sich nicht gemacht.
Ist Kunst nun verrĂĽckt? ...

Peter Mannsdorff (siehe: ‚Von Drinnen nach Draußen’ – Gespräche mit psychiatrieerfahrenen Künstlern, p.m. www.shift-selbstverlag.de)


P – wie Psychoanalytiker der alten Schule (26. September 2015)
von Peter Mannnsdorff

Mitte der 1980-er Jahre gab es in Berlin einen renommierten Psychoanalytiker, Freudianer durch und durch. Einer der alten Schule. Als ich meine erste Krise bekam, geriet ich über die Empfehlungen von Bekannten meiner Eltern in seine Hände. Schon bevor ich ihn gesehen hatte, war er ein Witzbold für mich, da ich, vorbelastet mit Vorurteilen, zu ihm ging. Dass er mir helfen könnte, glaubte ich sowieso nicht.
Herr L. schlurfte mir in Filzpantoffeln über den spiegelnden Parkettboden entgegen. Er war mit einer grauen Strickweste und einer braunen Cordhose bekleidet, deren Schlitz halb offen stand. Dazu der Stadtstreicherbart. Sofort war er in meinen Augen die Karikatur des Psychoanalytikers schlechthin. Einer, der seinen Patienten Mut macht und ihr Selbstbewusstsein stärkt, wenn sie jammern – aber wenn sie beim Abschied aus Versehen eine Vase zerdeppern, macht er sein therapeutisches Aufbauwerk zunichte und schreit sie an.
Ich war zurzeit voll drauf und hatte demzufolge den Durchblick. Bei der Gruppentherapie verbot Herr L. den Gruppenteilnehmern, am Wochenende ohne seine Erlaubnis Selbstmordversuche zu unternehmen. Dass er damit seinen Patienten in ihrem Leiden eine Distanz zu sich selbst geben wollte, sah ich nicht ein. Aber wirklich regelrecht grausam fand ich die Anweisung von L., dass wir, die wirklich Einsamen in der Stadt, auĂźerhalb der Therapie keinen Kontakt untereinander haben dĂĽrfen.
In unseren Einzelsitzungen fiel Herrn L. bald auf, dass ich überwiegend über meinen Vater sprach. Einmal wollte er die offene Auseinandersetzung zwischen ihm und mir provozieren: Er bestellte uns gemeinsam zur Sitzung, schürte durch gezielte Fragen den Konflikt, reizte ihn so weit aus, bis wir kurz davor waren, uns wie Krähen die Augen auszuhacken, um dann plötzlich in einem der vielen Zimmer seiner labyrinthähnlichen Wohnung zu verschwinden. Unser Übervater war fort, mein Vater und ich sollten uns ohne seine beschwichtigende Moderation den offenen Krieg erklären. Aber das Spiel hat Herr L. ohne uns gemacht, wir versöhnten uns für diesen Moment und riefen belustigt: „Luschi, wo stecken Sie? So zeigen Sie sich!“ – oder war gerade das seine therapeutische Strategie?
Ein anderes Mal kam ich von der Eckkneipe unterhalb seiner Praxis in die Einzelsitzung. „Sie haben eine Fahne“, begrüßte er mich streng. Nichts mehr mit Aufwiegeln, er rief bei meinem Vater an und verpetzte mich.
In der Therapie musste ich mich auf die Couch legen und, den Blick starr an die Decke gerichtet, erzählen – ohne Unterlass erzählen, nur erzählen. Alles, was ich sagte, müsste aus dem Unterbewussten kommen. Ich durfte mir die Worte vorher nicht zurechtlegen, meine Sätze sollten nicht geplant sein. L. hörte sich alles aufmerksam an, nach vierzig Minuten unterbrach er mich und schloss die Therapie mit einer Analyse, die an mir abprallte.
Solche Gespräche fanden zu Beginn meiner seelischen Krisen statt. Erstaunlicherweise hat mich Herr L. tatsächlich in meinem psychotischen Zustand als seinen Klienten angenommen. Das ist heute nach wie vor nicht selbstverständlich.
Ich weiß heute nicht mehr, welche Inhalte die Gespräche und die Analysen meines inzwischen verstorbenen Psychoanalytikers hatten, aber der Geist seiner Worte hat in der Folgezeit mit Sicherheit auf mich gewirkt. Damals empfand ich ihn als Witzfigur, heute schätze ich ihn in meiner Erinnerung sehr.


P – wie Psychose-Seminar (3. Oktober 2015)
von Sibylle Prins

In dem allerersten Psychose-Seminar, das ich besuchte, sagte im Laufe der Diskussion ein Teilnehmer: „Ich erlebe meine Psychose auch als Bereicherung.“ Ich wusste zunächst nicht, was ich von diesem Satz halten sollte. Zum einen faszinierte er mich – schließlich hatte ich solche Gedanken auch schon gehabt, hätte aber damals nicht gewagt, das öffentlich auszusprechen. Zum anderen war der Satz auch eine Provokation – schließlich hatten die Psychosen in meinem Leben viel Leid und Zerstörung verursacht. Und anderen Betroffenen ging es noch viel schlimmer als mir. Als ich über diesen Satz, der mich nicht losließ, nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass ich keine kurze bejahende oder verneinende Antwort darauf geben könnte, sondern dass er einer längeren Auseinandersetzung bedurfte. So wurde diese Frage aus dem Psychose-Seminar zum Ausgangspunkt meines vielfältigen Schreibens über Psychose- und Psychiatrie-Erfahrung.
Was aber ist ein Psychose-Seminar? Zum einen: der Begriff Seminar ist vielleicht nicht ganz glücklich, weil viele darunter eine klassische Lehr- oder Unterrichtsveranstaltung verstehen. Und obwohl man in einem Psychose-Seminar sehr viel lernen kann – das ist es nun gerade nicht. Im Unterschied z.B. zu den so genannten psychoedukativen Gruppen, in denen einem (lediglich) die medizinische Sichtweise von Psychosen und Vorbeugungsmaßnahmen – meist medikamentöser Art- vermittelt werden. Mancherorts heißen Psychose-Seminare dann auch Psychose-Forum o. Ä., um auszudrücken, worum es dabei geht: Menschen, die selbst Psychosen erlebt haben, Angehörige von Psychose-Erfahrenen und professionelle Mitarbeiter aus der Psychiatrie – und, falls gewünscht, auch interessierte Bürgerinnen und Bürger aus dem Ort – kommen zusammen, um sich außerhalb eines konkreten Behandlungszusammenhangs über ihre - manchmal sehr – unterschiedlichen Erfahrungen mit Psychosen auszutauschen. Es ist ja so, dass eigentlich in fast jedem Zusammenhang ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Beteiligten unterschiedlich erlebt wird. Bei Psychosen können diese Sichtweisen manchmal (scheinbar) unüberbrückbar auseinanderklaffen. So können z.B. Psychose-Erfahrenen ihre Psychose als beglückend oder sinnhaft erleben, während die Angehörigen diesen Aspekt gar nicht mitbekommen, sondern sich nur die allergrößten Sorgen machen. Psychiatrische Mitarbeiter versuchen zu helfen, stehen aber oft unter Zeit- und Handlungsdruck. In diesem Seminar lernen also alle Teilnehmer voneinander. Insgesamt ist das Thema Psychose für viele Menschen – ob nun selbst davon betroffen oder nicht – sehr angstbesetzt. Zudem findet man für dieses oft massiv verstörende Erleben häufig keine angemessene Sprache, wenn man nicht auf die sehr objektivierende und vom eigentlichen Erleben entfremdete medizinische Fachsprache zurückgreifen will. Psychose-Seminare können beim Umgang mit der Angst helfen – wo offen darüber gesprochen wird, wo man sich als Betroffener oder Angehöriger outen kann, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen ist schon viel gewonnen. Für mich waren die Psychose-Seminare, die ich dann mehrere Jahre mitmoderierte, auch ein Übungsfeld, zu meiner eigenen Sprache über Psychosen zu finden.
Das allererste Psychose-Seminar wurde 1989 in Hamburg von der Psychose-Erfahrenen Dorothea Buck, die ihre ersten Psychiatrie-Aufenthalte in der Zeit des Nationalsozialismus hatte, mit ihrem Buch Auf der Spur des Morgensterns berühmt wurde und heute fast 99 Jahre alt ist, und Prof. Thomas Bock (Psychologe) ins Leben gerufen. Inzwischen gibt es Psychose-Seminare an über 120 Standorten im deutschsprachigen Raum. Die Adressen bzw. Zeiten und Ansprechpartner sind aufgeführt unter www.trialog-psychoseseminar.de . Oft finden sie statt an neutralen, d.h. nichtpsychiatrischen Orten, z.B. Volkshochschulen oder Gemeindezentren, um nicht von psychiatrischen Abhängigkeiten (z.B. der eines Patienten oder eines Mitarbeiters von einer Klinik) betroffen zu sein und um auch andere Bürger, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen wollen, einzuladen. Wie man schon an der Webadresse sieht, sind die Psychose-Seminare auch der Ursprung der Wortkonstruktion Trialog- gemeint ist damit die gleichberechtigte Zusammenarbeit aller drei beteiligten Parteien (Psychose-Erfahrene, Angehörige und Profis). Ursprünglich hießen nur die Psychose-Seminare Trialog- inzwischen gibt es aber neben den Psychose-Seminaren zahlreiche weitere trialogische Projekte und Treffen. Idealerweise werden die Psychose-Seminare auch trialogisch vorbereitet und moderiert.
Einige Psychose-Seminare sind auch von dem Ursprungsmodell, persönliche Erlebnisse auszutauschen, abgewichen und laden z.B. Referenten zu sozialpsychiatrischen Themen ein. Wer jedoch das klassische Psychose-Seminar live sehen will, dem sei der Film empfohlen 20 Jahre Trialog. Das Hamburger Psychose-Seminar und seine Folgen.
Was in den Psychose-Seminar-Treffen, die ich auch nach Jahren noch spannend und immer wieder lehrreich fand, besonders auffällt: Menschen haben mehr Zeit und Geduld, einander zu diesem Thema zuzuhören, als es in ihren aktuellen Beziehungen oft der Fall ist. Betroffene und Angehörige – die meist nicht aus derselben Familie kommen – hören einander besser zu und entwickeln, oft erstmals, mehr Verständnis füreinander als das in der eigenen Familie der Fall ist. Professionelle Mitarbeiter stehen nicht unter Druck, für den Betroffenen irgendetwas veranlassen zu müssen, und Psychose-Erfahrene wie Angehörige lernen die persönliche Sichtweise der Profis kennen, die im Behandlungsalltag oft keinen Platz hat. Und wo eben auch die Meinung, dass eine Psychose eine Bereicherung sei, entwickelt werden kann. Thomas Bock beschrieb es einmal (sinngemäß) so: Psychose-Seminare sind für die Betroffenen Therapie ohne Therapeuten, für die Angehörigen Familientherapie ohne Familie und für die Profis eine Dreifach-Supervision ohne Supervisor.


P – wie Psychotherapie (10. Oktober 2015)
von Sibylle Prins

Über die Psychotherapie will ich gar nicht herziehen, es ist gut, dass es sie gibt und es sollten erheblich mehr Menschen mit schwierigen und langwierigen psychischen Problemen davon profitieren dürfen. Trotzdem gab es in der Zeit, in der ich psychotherapeutische Gespräche wahrnahm, mindestens zwei Eigenheiten, die mir dabei merkwürdig oder im wahrsten Sinne des Wortes fragwürdig vorkamen. Ich habe mich damals nur nie getraut, das auszusprechen. Quasi um diese Fragen jetzt nachzuholen, formuliere ich an dieser Stelle die beiden Probleme nachträglich (und riskiere damit, dass ich mich auf dünnes Eis begebe):
Das Erste ist diese (gewollte) Einseitigkeit der Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin. Also, ich breite da in der Therapiestunde alle meine Alltags- und Lebensprobleme aus, die Therapeutin erzählt so gut wie nichts von sich. Gut, das geht noch, sehe ich irgendwie ein: Es geht ja um mich, sie soll mir mit ihren Problemen vom Leibe bleiben, andersherum will sie in ihrer beruflichen Tätigkeit natürlich auch nicht ihren Klienten zu viele private Details von sich erzählen. Hat sicher alles seine theoretischen Gründe.
In Ordnung.
Schwierig wird es, wenn ich mal die Therapeutin fragen will, wie es ihr denn gerade geht, etwa weil sei einen gestressten oder erschöpften Eindruck macht. Das geht dann schon zu weit. So sitze ich beispielsweise einer Professionellen gegenüber, die tüchtig erkältet ist, vielleicht eher ins Bett gehört – in jeder anderen, normalen Beziehung würde ich jetzt Rücksicht nehmen, mich zurücknehmen, gerade nicht anfangen, meine eigenen Probleme in den Vordergrund zu stellen.
Hier, in dieser Situation wird aber anscheinend erwartet, dass ich so weitermache, wie immer in der Therapiestunde. Hmmh. Das hatte mir damals nicht geschmeckt. Ganz schwierig wurde es in zwei Fällen, in denen ich wusste, dass die Therapeuten was ganz Schlimmes gerade in ihrem Privatleben erlebt hatten. Der eine erlaubte nicht einmal, dass man ihm sein Beileid ausdrückte, die andere, ein sowieso sehr zerbrechlich wirkendes Persönchen, erzählte ganz kurz von dem Schicksalsschlag, der sie getroffen hatte und ging dann zur Tagesordnung über. Mir ging das gegen den Strich. Schließlich bin ich nicht nur Klientin - sondern auch Mitmensch. Und hätte jetzt zwar nicht diese Schicksale meiner Therapeuten bearbeiten, aber wenigstens eine Geste des Mitgefühls, des Trostes zeigen mögen. Und in dieser Stunde vielleicht auch mal was anderes machen wollen, als wie gewohnt in meinem Elend zu rühren und selber Trost und Zuspruch zu erwarten. Irgendwie - ich fühlte mich durch eine so konsequent gehandhabte Einseitigkeit nicht ernst genommen ...
Das andere ist ein noch heikleres Thema. Wie fange ich das bloß an? Also, Psychotherapeuten sollten gut ausgebildet sein. Damit sie weiter sehen als ich in meinen Ängsten und Nöten, um mir dann auch helfen zu können, etwas in meinem Leben zu verändern (oder das Nichtänderbare zu akzeptieren).
Nun kommt aber dazu, dass ich öfter das Gefühl hatte, das seien Gespräche mit doppeltem Boden. Normalerweise denkt man ja in einem Gespräch, dass das Gegenüber einigermaßen offen und ehrlich ist. Oder man geht gleich davon aus, dass er vielleicht andere Absichten verfolgt und deswegen nicht offen sein will oder kann.
Dem Psychotherapeuten erzähle ich viele private Dinge, er sagt etwas dazu. Aber ich zweifele. Ist beispielsweise die freundliche Bestätigung meiner Sichtweise wirklich ehrlich gemeint? Oder rattert in seinem Hinterkopf ein fachliches Programm mit, das einen ganz anderen Blick auf mich erzeugt, als ich es in dem Gespräch mitbekomme? Aber ich soll doch (und will auch ) ihm vertrauen? Wenn das zu rätselhaft klingt, hier ein Beispiel: Ich las einen Bericht eines Therapeuten über seine Arbeit mit einem Patienten, der an Psychosen litt. Der Patient sagte und tat lauter Dinge, die den Therapeuten nervten, aber der wollte ja therapeutisch wirken. Und dann berichtet er an einer Stelle: „Ich tat so, als ob ich ihn (den Klienten, S.P.) ernst nähme.“...und beschreibt weiterhin, welchen guten Erfolg er mit dieser Intervention hatte .... Ja, zum dreifachen Donnerwetter! möchte man da sagen. So tun, als ob man seinen Klienten ernst nimmt, und dann noch bei einem Psychotiker, der sowieso alles erspürt ... na klar bin ich selbst auch psychoseerfahren. Sonst würde ich auf solch misstrauische Zeilen wahrscheinlich nicht kommen.
Geht das, menschlich ehrlich und fachlich fit zugleich zu sein??? Mit diesen Fragezeichen möchte ich enden.
Vor 15 Jahren hätte mein Beitrag so geendet. Damals absolvierte ich meine vorerst letzte Sequenz psychotherapeutischer Gespräche, die ich insgesamt, mit Unterbrechungen, mehr als ein Jahrzehnt wahrgenommen hatte, bei unterschiedlichen Therapeuten und Therapeutinnen. Wunderheilungen erlebte ich nicht, aber ein damals notwendiges Gestärktwerden.
Erst nachdem ich mit diesen Gesprächen aufgehört hatte, änderte sich ganz Entscheidendes in meinem Leben. Ich erlebte viel Neues und lernte viel hinzu. Wenn ich auf die Zeit vor 15-20 Jahren zurückblicke, muss ich über mich selbst ein wenig schmunzeln und auch den Kopf schütteln. Diese hier vorgestelltenFragen kommen mir plötzlich naiv vor. Und entlarvend. Drum stellen sich die beiden obigen Fragen mir nicht mehr. Würden sie sich noch einmal stellen, ich würde anders damit umgehen. Nicht mehr so hilflos und allein damit herumlaufen, denn ich war mir damals nicht sicher, ob sie erlaubt waren. Oder ob man sie schon wieder einer Diagnose zuschreiben würde. Gerade deswegen wärme ich sie hier noch mal auf, um zu zeigen, mit welchen unbekannten und ungeahnten Schwierigkeiten jemand möglicherweise zu kämpfen hat, der eine eigentlich sinnvolle Behandlungsmethode in Anspruch nimmt.


Q – wie Quasselstrippen (17. Oktober 2015)
von Peter Mannsdorff

Quasselstrippen gibt es in allen Schichten, allen Milieus, egal ob bei so genannten Normalos oder bei Psychos. Helga Hannemann singt: Berlin, du bist die reinste Quasselstrippe ...
Auch unter psychisch Kranken gibt es sie. Ob das Quasselwasser, mit dem sie nicht geizen, krankheitsbedingt ist oder rein aus ihrem Naturell entspringt, mögen Fachleute beurteilen – ich als Betroffener sehe es lieber als eine Charaktereigenschaft oder liebe Marotte, die – zugeben – manchmal etwas nervig sein kann.
Als ich vor etlichen Jahren in einer therapeutischen WG zum Vorstellungsessen eingeladen wurde, hieß es, wir könnten schon anfangen, Jonny habe einen Zettel geschrieben, dass er später käme. Kaum waren wir mit dem Essen fertig, hörte ich ein Poltern hinter mir: "Hallö!"
Ich drehte mich um und fühlte mich in ein anderes Jahrhundert versetzt: Ein hageres, dünnes Männlein, mit schwarzen Samthosen, weißem Hemd mit Rüschen und Rosetten, dazu schwarze Kellnerweste und spiegelglatte Lackschühchen, stand in der Eingangstür. Das also war Jonny. Er sah wie ein Hofdiener von Louis Quatorze aus. Seine strähnigen, langen braunen Haare waren hinten schmierglatt zu einem Zopf geflochten, sein Mund mit wulstigen Lippen hing breit wie eine Banane von Ohr zu Ohr. Die obere Zahnreihe war verfault.
Kaum hatte er die TĂĽr hinter sich verschlossen, polterte er los: "Nich mit mir! Die verfluchte Zecker kann wat erleben! Die kann sich schon mal warmloofen. Und mit ihr all die anderen Sesselfurzer."
Jonny war sichtlich erregt. Sein vornehmes Erscheinungsbild und nun dieses schnoddrige Fluchen wirkten auf mich wie ein schlecht synchronisierter Film. Beim Fluchen vergaß er alles um sich herum, guckte starr geradeaus. "Dit janze Sozialamt fliecht heute noch in de Luft. Da kann man ja nur noch zum Anarchisten wer’n. Die Zecker hat ma doch glatt wieda die Sozialkohle nich ausjeliefat. Hat jesacht, ick hab zu den Bürozeiten zu erscheinen. Wat bildet die sich eijentlich ein? Nur, weil ick fünf Minuten zu spät jekommen bin. Sare mal, spinnt die, oder wat?" Jonnys Stimme überschlug sich. "Hat den janzen Tag nischt andret zu tun als Kaffe zu saufen und zu roochen. Na, dit jibt n jewaschnen Brief an den Rejierenden, von mir höchstpersönlich. Oda noch bessa: ick jeh zur Zeitung. Am besten gleich heute noch. Zur BZ. Dit muß anne Öffentlichkeit! Die Zecker wird ma noch kenn lernen. Brooch nur mal mit dem kleenen Finger zu schnipsen und halb Kreuzberg looft zuzammen!"
Er funkelte mit seinen Augen die Wand an. Beim Reden gestikulierte er blitz- und ruckartig mit den Armen so, dass die PlastiktĂĽten wild herumschlenkerten. Ich hatte Angst, er wĂĽrde gleich einen Teller nehmen und ihn durch die Wohnung schleudern. Aber eine Mitbewohnerin lachte nur: "Jonathan, nun beruhigen Sie sich doch. Der Neue ist da."
Jonny nahm mich endlich wahr. "Wat? Du bist der Neue?"
Er strahlte ĂĽber beide Backen. Sein Kinn war unrasiert. Ăśberall standen einzelne Barthaare ab.
Ich habe mir in all den Jahren, die ich in der WG wohnte, nie Gedanken darüber gemacht,ob Jonny psychotisch oder was weiß ich, war. Für mich war er Jonny – eine Quasselstrippe halt.

Peter Mannsdorff
(siehe: Wind um Willi. p.m. www.buchecker-verlag.de)



Quellen der seelischen Gesundheit und des GlĂĽcks (24. Oktober 2015)
von Fanny Seelfin

Was die Quellen persönlicher Gesundheit und Glücks sein könnten, sollte vor allem erst einmal jeder für sich selbst herausfinden. Dazu gehört zu ergründen, was einem selbst wirklich gut tut! (Folgende Punkte könnten nur Anregungen sein:)
Ich musste erst lernen, vor allem mir selbst etwas Gutes zu tun. Und dies alles in Achtsamkeit und im Arrangement mit den Gefahren einer möglichen Erkrankung. Ich habe jahrelang gegen sie angekämpft, dies warf mich eher zurück, als dass es mich vorwärts brachte.
Indem ich irgendwann endlich Geduld mit mir übte und meine Schwächen anerkannte, konnte ich auch wieder erstarken. Akzeptieren Sie ihre Schwächen, dann kommen auch wieder die Stärken, lehrte mich einmal eine Therapeutin. Ich bin sehr dankbar, dass ich dies zu meinem Motto machen durfte. Ich lernte, gut zu mir zu sein.
Jeder sollte nach seinen eigenen persönlichen Glücksquellen forschen! Es macht Spaß, sich diese einfach einmal deutlich zu machen, am besten, indem man sie aufschreibt!
Mir ist in den vielen letzten Jahren das Schreiben immer wichtiger geworden. Ich sehe es als meine Berufung! – Doch genauso gut kann für jeden anderen ein wichtiges Hobby, das er ernsthaft betreibt, eine grundlegende Beschäftigung werden, wie z.B. Malen, Musizieren, Tanzen oder einfach nur Tagebuchschreiben u.v.a.
Früher hat die Musik die oberste Priorität für mich eingenommen, doch dies hat sich etwas verschoben. Musik ist für mich jedoch nach wie vor Seelenbalsam (aktiv wie passiv) und auch solch eine Glücksquelle. Eine aktuelle Studie der FU Berlin hat kürzlich herausgefunden, dass melancholische, traurige Musik (wie auch ich sie gern höre) glücklich macht! Mit ihr empfindet man inneren Frieden und Glücksgefühle und man könne das Traurige sortieren, es würde einen – man staune! - wieder glücklicher machen. Es werden sogar Überlegungen angestellt, melancholische Musik in Therapien für Depressive zum Einsatz zu bringen.
Natürlich sollte auch Bewegung an der frischen Luft, oder Sport dazu gehören. Laufen z.B. lässt den Serotoninspiegel steigen, d.h. fördert die Glücksgefühle – für mich ist es eher Radfahren, Spazieren und Qi Gong – aber es kann auch Schwimmen sein etc.
Genügend Schlaf ist grundlegend wichtig. Wichtig ist es auch, ob man berufstätig ist. In diesem Fall ist es, bei Überlastung, eine Auszeit einzulegen. Jeder braucht Ruhezeiten (kürzere oder längere), in denen er neue Kräfte schöpfen kann. Dabei können Entspannungsübungen helfen (Positive Muskelentspannung nach Jacobsen, Yoga, Qi Gong oder Meditationen etc.) Ich bin der festen Ansicht, wenn man regelmäßig Entspannungsübungen macht und auch Auszeiten einlegt, könnte man einer eventuellen Neuerkrankung vorbeugen.
Ein gutes Essen mag bestimmt jeder gern, noch mehr Spaß kann es machen, wenn man sich dieses selbst kocht (auch für sich allein). Manche kochen für ihr Leben gern. Gesundes Essen ist dabei sehr wichtig. (Viel Obst und Gemüse; Fisch ist übrigens gegen Depressionen sehr förderlich, genau wie Vitamin B usw.)
Soziale Kontakte zu pflegen ist mindestens genauso wichtig wie alles andere. Einsamkeit kann zu Depressionen führen. Wenn man wenige Kontakte hat, kann eine Selbsthilfegruppe helfen. In ihr kann man sich mit seinen Problemen auseinandersetzen und in Spiegelung mit anderen reflektieren. Aber auch eigene Hobbys können einen in Kreise Gleichgesinnter bringen, in denen man Freundschaften entwickeln kann.
Kontakte und Freundschaften sind mir sehr wichtig, sie wollen auch gepflegt werden. Menschen, die mir gut tun, sind meine persönlichen Glücksquellen.
AuĂźerdem ist mir die Natur sehr wichtig. Ein Spaziergang in der Natur, im Wald oder am Wasser bewirkt fĂĽr mich Wunder!
Auch der Kopf/Verstand sollte nicht zu kurz kommen! Für mich gehört Lesen zu einer grundlegenden Beschäftigung, es ist, wie Schreiben und Musik, meine Leidenschaft.
Kultur kann verhelfen, die Freude am Leben nicht zu verlieren, bzw. sie wiederzugewinnen. Zum Beispiel mit Freunden ins Kino, Theater oder ein Konzert gehen, dies kann auch in trĂĽben Wintertagen helfen, die Stimmung aufzuhellen.
Ich könnte noch vieles aufzählen, aber eine ganz besondere persönliche Glücksquelle für mich ist: Ich habe gelernt, mein Leben mit allen Höhen und Tiefen anzunehmen, und dafür bin ich sehr dankbar, für jeden kleinen, glücklichen Augenblick!
Ich bin sicher, jedem fallen weitere Dinge ein, die für einen wichtig sind, und so soll es auch sein. Wenn man sich erst klar macht, wie viele schöne Dinge, wie viele Quellen des Glücks und der Gesundheit es gibt, kann man nur dankbar sein! Viel Spaß dabei!


R – wie Reizabschirmung (31. Oktober 2015)
von Peter Mannsdorff

Ich sitze im Garten und schreibe auf einer alten, klobigen Schreibmaschine. Ein schnauzbärtiger Mann schleicht sich von hinten an meinen Tisch. "Darf ich sehen, Herr M.?"
"Das sind nichts weiter als Erinnerungen."
"Lassen Sie mich bitte lesen!" Der Mann nimmt, ohne eine Antwort abzuwarten, ein Blatt und überfliegt einige Zeilen. "Mmmh, so weit ich das übersehe, sind das gefährliche Gedanken ..."
"... ich schreibe nichts Gefährliches."
"Doch! Emotionen könnten mit den Erinnerungen aufkommen, Emotionen, die Sie seit je her aus dem Gleichgewicht brachten und Sie irgendwann zerstören werden. Sie wissen, dass wir Sie mit der Methode der Reizabschirmung behandeln. Alles rings um Sie herum, jedes gesprochene Wort, jede Bewegung, jedes zufällig gehörte Lied im Radio sind Reize, die Ihre seelische Verfassung in Extreme putschen können. Das wollen wir zu Ihrem Schutz verhindern. Verstehen Sie? Sie befinden sich zurzeit in einem psychischen Zustand, in dem Sie Scheuklappen wie ein Pferd brauchen.“
„Aber ich sitze doch nur harmlos im Garten“, protestiere ich. „Ich lausche den Vögeln und tippe ein paar Erinnerungen in die Schreibmaschine. Ab und zu schaue ich vom Blatt auf und beobachte einen Eichkater, der von Ast zu Ast springt. Wo sind da Ihre berühmtberüchtigten Reize, Herr Doktor? Was soll daran alarmierend sein?“
„Die Reize, Herr J, vor denen wir Sie auch abschirmen wollen, sind unter anderem die vierundvierzig Tasten Ihrer Schreibmaschine. Das sind alles Reize, die Ihre Fantasie in Wallung bringen können. Sie sind potentielle Wörter, Sätze. Sie werden mit Hilfe Ihrer Fantasie zu in Schrift gebrachten Gedanken, und das ist für Ihren Gesundungsprozess gefährlich. Denn Sie schreiben erfahrungsgemäß gegen die Realität an und richten sich in Illusionen ein, die Sie in Traumwelten versetzen. Dabei wissen Sie ganz genau, es ist vorbei, sie hat sich von Ihnen vor Jahren getrennt und will nichts mehr von Ihnen wissen. Wann begreifen Sie das? Sie können sie sich nicht mehr herbei schreiben. Ich werde die Schreibmaschine, so Leid es mir für Sie tut, jetzt wegschließen und veranlassen, dass Ihnen die Schwestern kein Papier und keine Stifte mehr aushändigen. "
Ich versuche den Arzt umzustimmen. „Nur noch diese wenigen Seiten, dann höre ich auf ... dann brauche ich sie nicht mehr, die Schreibmaschine“, lüge ich. „Dann habe ich alles abgearbeitet.“ Meine Argumente sind schwach, der Arzt lässt sich nicht umstimmen. Er bearbeitet mich mit Logik: „Ein Maurer, der krank ist, darf auch nicht auf den Bau gehen, und Sie als Schriftsteller dürfen jetzt nicht schreiben.“
Er bittet mich, in mein Zimmer zu gehen. Ich hätte Zimmergebot, das sollte ich nicht vergessen, ich dürfte nur alle Stunde in den Park, eine Zigarette rauchen.
Ich werde irre hier! Zimmergebot, Reizabschirmung! Ich muss schreiben. Es muss alles raus. Von drinnen nach drauĂźen. Auf Spurensuche gehen, Seelenarbeit leisten!
In einem unbeobachteten Augenblick greife ich im Aufenthaltsraum nach einem Stapel Blätter und einem Kugelschreiber. Hastig knülle ich die Zettel zusammen und stopfe sie unter mein Hemd. Im Zimmer lege ich mich auf mein Bett, das Papier ist unter dem Kopfkissen versteckt. Auf dem Bauch liegend formuliere ich den ersten Satz aus. Dann fließen die Gedanken über das Blatt Papier. Wie ein Fluss.
Ohne anzuklopfen, wird die Tür geöffnet. Schnell verstecke ich die Zettel unter dem Bett. Ich höre die Stimme von Schwester Edel. „Zeigen Sie bitte her, Herr J.! Ich habe genau gesehen, Sie haben da etwas versteckt.“
Die Schwester tritt an mein Bett und lässt sich von mir die voll geschriebenen Blätter geben. „Darf ich lesen?“
Sie liest, überfliegt die Zeilen. "Sie werden doch nichts dagegen haben, wenn ich das mit Ihrer Erlaubnis dem Doktor gebe. Er wird es dann bis zu Ihrer Entlassung in Verwahrung behalten.“
„Aber Schwester, das sind nur abgetragene Erinnerungen. Lassen Sie mich bitte weiter schreiben. Es tut mir gut, ich schwöre es Ihnen. Es werden keine Emotionen hochkommen. Nur Erinnerungen wie grelles Flimmern in meinem inneren Kino, in das ich mich im Laufe der Jahre immer seltener begebe, aber wenn der Film abgespult ist, höre ich auf! Ich schwöre es ihnen!"
Schwester Edel verlässt den Raum mit den Zetteln. Ich muss schreiben! Ich brauch das jetzt! Ich könnte irrewerden ... und das in einer Irrenanstalt!

Peter Mannsdorff
siehe: ‚Klare Wasser’ in: ‚Der implodierte Mann’, p.m. www.shift-selbstverlag.de



Religion und Psychose (7. November 2015)
von Sibylle Prins

In meinen Fortbildungen, in denen ich Menschen ohne Psychose-Erfahrung das psychotische Erleben nahe zu bringen versuche, gibt es für die Zuhörer durchaus auch was zu lachen. Schließlich enthalten meine Psychosen auch viele komische Momente. Ich könnte einen Kabarettabend daraus basteln. Die Betonung liegt hier auf Ich. Es ist nämlich ein Unterschied, ob ich selbst meine Erfahrungen zur Belustigung freigebe, oder ob ein anderer mich zum Lachobjekt macht. Jedenfalls: weil ich diese komische Seite durchaus sehe und auch vermittle, weil ich an einigen anderen Stellen durchblicken lasse, dass ich nach den Psychosen über viele Dinge anderer Meinung bin als während der Psychose, sind manche Zuhörer einem Trugschluss aufgesessen: sie glauben dann, ich sei völlig krankheitseinsichtig und würde mich von den Inhalten meiner Psychosen gänzlich distanzieren (einige andere Zuhörer aber riechen schon den Braten und fragen dann gezielt nach, welche Inhalte auch heute noch für mich Gültigkeit haben). Insbesondere warten diese Zuhörer dann darauf, dass ich mich von meinem religiösen Wahn distanziere und mich über diesen vielleicht auch noch lustig mache. Also, liebe Leser-Gemeinde, fangen wir hier mal mit den verwendeten Begriffen an: das Wort Wahn verwende ich höchst selten und auch ungern. Ich finde, es hat einen abwertenden Beigeschmack - das, was Inhalt dieses Wahns ist, entbehrt angeblich jeder objektiven Wahrheit, selbst eine subjektive Wahrheit ist nur schwer zu finden, das Ganze ist reine Täuschung und Unsinn, schädlicher oder gefährlicher Unsinn noch dazu, und muss irgendwie aus der Welt geschafft werden. So will ich aber meine religiösen Psychose-Inhalte nicht behandelt wissen. Zum einen spielt Religion in meinem Leben – auch ohne und vor den Psychosen- eine wichtige Rolle, wenn auch nicht mit besonderer Erwartung mystischer Erfahrungen oder Gottesbegegnungen. Und ich habe keine so extreme religiöse Biografie, dass diese schnurstracks auf eine religiöse Psychose zuläuft, unweigerlich nur darin münden kann. Ich wäre wohl eher die typische Kirchentagsbesucherin – wenn ich denn Kirchentage besuchen würde. Natürlich ist mir klar, dass Menschen in Psychosen kulturell vorhandenes Material aufgreifen und verarbeiten. Und es ist auch richtig, dass ich mich von einzelnen Aspekten der psychotischen Religiosität hinterher durchaus distanziere: ich gehe nicht hin und behaupte hinterher immer noch steif und fest, die Stimme, die ich gehört habe, käme von Gott direkt. Dazu ist vieles zu zweifelhaft. Zweifelhaft, wenn nicht gar peinlich ist es auch, wenn ich in der Psychose glaube, dieser Gott würde alberne, pubertäre Scherze mit mir, mit uns treiben. Oder Gott wäre selbst verrückt. Das entspricht, wenn ich wieder nüchtern bin, keineswegs meiner Ansicht. Auch glaube ich dann nicht länger, ich sei ein weiblicher Messias (obwohl, ich muss sagen: das Gefühl, höchstpersönlich zu den Auserwählten zu zählen ist etwas ganz Besonderes. Das sollte jedem einmal vergönnt sein). Die Idee, ich müsste mich zur Rettung der Welt opfern oder meine Unverwundbarkeit beweisen, halte ich hinterher eher für selbstgefährdend. Ich weiß dann ja auch, dass das Paradies nicht Einzug auf Erden gehalten hat.
Aber da stellen sich dann auch die ersten Fragen an die Wirklichkeit, in die die Psychiatrie mich zurückgeholt hat: kann es nicht sein, dass Paradies und Hölle statt fest im Jenseits befindlicher Orte eher Qualitäten sind, die man auch in dieser Welt erspüren kann? Und dass ich besonders empfänglich für diese Aspekte bin? Ich weiß dann auch, hinterher, dass Vieles längst nicht so einfach ist, wie es mir in der Psychose vorkommt – oder ist es nicht eher so, dass ich im angeblich gesunden Zustand alles verkompliziere? Ich rücke dann auch davon ab, zu behaupten, die jenseitige, göttliche Welt steuere unsere hiesige Wirklichkeit und sende uns geheime Botschaften über Werbeplakate, TV oder Radio. Die Frage aber, die in mir bleibt, ist, ob wir nicht durch das, was wir Realität nennen, schon längst blind und taub für irgendwelche Zeichen aus anderen Dimensionen geworden sind.
Das beschäftigt auch andere Betroffene.
Das Erfahren anderer Wirklichkeiten, die sich mindestens genauso real anfühlen (oder noch realer) als unsere normale Wirklichkeit, lässt viele Betroffene nicht mehr los. Sicher, man kann auch in der Oberfläche der psychotischen Erfahrung gefangen bleiben. So glaubt eine Freundin von mir seit 6 Jahren, sie sei die Muttergottes, die Jungfrau Maria. Abgesehen davon, dass sich im Gespräch mit ihr alles nur noch darum dreht – das wäre nicht das wirklich Schlimmste. Aber sie kann sich, weil sie so von ihren Marien- und Erlösungsideen eingenommen ist, nicht mehr selbst versorgen. Oft vergisst sie, zu essen und zu trinken, kann nicht mehr mit Geld umgehen oder ihre Behördenangelegenheiten regeln, usw. Auslöser für ihre Vorstellungen war übrigens eine Jesus-Begegnung, die sie während eines spirituellen Seminars hatte.
So denke ich, man kann sich sicherlich von vielen Aspekten seiner Psychose distanzieren. Aber wenn man darin etwas Wertvolles gefunden hat – was längst nicht allen Psychose-Erfahrenen vergönnt ist – sollte man es nicht verraten. Deshalb kann und werde ich mich auch nicht selbstironisch lächelnd von meinem religiösen Wahn distanzieren.
Und Sie? Haben Sie nicht auch Überzeugungen, von denen Sie sich nicht distanzieren wollen oder können? ...

Sibylle Prins
(siehe: Armbruster, Ratzke, Petersen (Hg.): Spiritualität und seelische Gesundheit, Psychiatrie-Verlag 2013)



S – wie Schizophrenie (14. November 2015)
von Arnhild Köpcke

Ich schreibe bewusst nicht mit einer objektiven Herangehensweise, sondern aus der Sicht einer Betroffenen.
Das Konzept lautet: biopsychosozial.
Erkrankung auf allen drei Ebenen.
Biologisch beinhaltet eine Verletzbarkeit, die den Organismus als Ganzes schädigt. Kränkungen führen zur Erkrankungen, die in einer schizophrenen Psychose gipfeln können. Psychisch haben diese Verletzungen Ausnahmeerscheinungen zur Folge. Das, was man Identität nennt ist entzwei gegangen, der Bezug zur Welt zerbrochen, das Ich ist dünnhäutig und kränkbar geworden, antwortet mit Halluzinationen und Wahn. Visionen steuern das Innenleben, entspringen dem Nichts und der Betroffene schreit zum Himmel oder wendet sich an die Menschen, dass er gerettet werde.
Existenzielle Fragen ringen um Antworten - Antworten fĂĽhren zu weiteren Fragen.
Für gar manchen ist die Psychose Erfüllung von Sinnhaftigkeit. Für andere ist es ärgste Pein. Psychose kann Höhepunkt des Herzens oder dessen Tiefpunkt sein. Die Integration des Erlebens in den psychischen Haushalt ist dabei notwendig.
Heilende Kräfte entspringen aus den Abgründen der Seele und ringen darum, sichtbar zu werden und eine Identität zu erlangen, die mehr ist als das Psychotikersein.
Wie soll man mit dem Stempel der Schizophrenie leben? Kann ich mich nicht auch kreativ verwirklichen?
Dann bin ich mehr als meine Psychose.
Die Erkrankung selbst kann mit viel Leid verbunden sein, aber ebenso schlimm ist oft die soziale Frage, der gesellschaftliche Tod, aus dem nur mit vielen Mühen eine Wiedergeburt möglich ist.
So ist auch dem Schizophrenen nicht Ekstase und Trübsinn fremd, weder Erhöhung noch Erniedrigung, Hochgefühl und Abgrund. Mancher hört Stimmen zu seinem Leidwesen oder seinem Glück, oft beides miteinander verwoben.
Manch einer wähnt sich als bedeutende Persönlichkeit, Jesus, Gott, Maria aus dem religiösen Bereich, der oft das ganze Erleben dominiert. Viele Betroffene finden deshalb Halt in Freikirchen und Charismatischen Bewegungen.
Nicht vielen gelingt es, die soziale Isolation, die oft mit der Psychose einhergeht zu überwinden und sich ein soziales Netz aufzubauen. Zugang zum Arbeitsmarkt finden nur wenige, deren Erkrankung nicht zu zerstörerisch ist.
Schizophrene sind Menschen mit einer erhöhten Anfälligkeit für Stress und Verletzbarkeit und man ist gut beraten, sich ein dickeres Fell anzueignen, was nicht immer gelingt.
Schizophrenie, Erfüllung oder Qual – oft beides.
Für viele Betroffene ist das Psychotischsein eine auf kurze Zeiträume beschränkte Erscheinung. Vielen und das mag die Mehrheit sein, gelingt es ein symptomfreies Leben zu führen, nicht zuletzt auch mit Hilfe von Psychopharmaka (von manchen als Chemische Keule verschrien). Basaglia sagte: Neuroleptika richtig angewendet seien ein wahrer Segen.
Dennoch gibt es auch die langfristig Beschädigten und für die möchte ich hier sprechen, für die Menschen, die den Weg in die Gesundung nicht schaffen, die den Point of no return überschritten haben, für die es aber dennoch Trost gibt, dass das Dasein nicht umsonst ist.
Selbst der unscheinbarste Mensch kann doch eine groĂźe Bedeutung haben und ist dort wichtig, wo er steht.
So erzähle ich bewusst keine Erfolgstory, sondern fühle mich solidarisch mit jenen, die am Rande der Gesellschaft von Ausschluss bedroht sind. Dennoch habe ich eine Botschaft der Hoffnung und weiß, dass es immer lohnt nicht aufzugeben, sondern zu streiten für ein besseres Leben.
Ein jeder von uns, krank oder gesund, hat zu lernen, sich zu verantworten und sich zuständig zu fühlen für den Nächsten in Not.
Das schizophrene Erleben ist eine zutiefst menschlich Möglichkeit, und keinesfalls uneinfühlbar oder unheilbar. Es ist auch sinnstiftend, wenn man denn nur gewillt ist, in der Dunkelheit das Licht zu finden.
Dass immerhin ein Drittel aller schizophren Erkrankten, den Weg zur Genesung nicht beschreiten können, ist ein großes Unglück, das nicht schöngeredet werden darf.
Mein Anliegen ist es denen Gehör zu verschaffen, die gefangen in den psychotischen Welten, keinen Ausweg finden.

Arnhild Köpcke, Jg. 1952, malt seit über 30 Jahren Figuren, Menschen und Landschaften. Sie erkrankte während ihrer Ausbildung zur Fachärztin. Die Künstlerin ist heute in der Bewegung der Psychiatrie- Erfahrenen engagiert und versteht ihre Werke und Texte als Eintreten gegen die Diskriminierung von psychisch erkrankten Menschen. Lebt bei Hannover. (arnhildkoepcke@htp-tel.de)


S – wie Schlaflosigkeit (21. November 2015)
von Fanny Seelfin

Du liegst nachts wach, wälzt dich hin und her, von einer Seite auf die andere, zurück auf den Rücken, machst das Radio an, damit du nicht dieser gähnenden Leere ausgesetzt bist, machst es wieder aus, weil du es nicht ertragen kannst und nur, nur schlafen willst! – Aber nein, die Gedanken fließen durch deinen Kopf, halten nicht vor deiner Bettdecke, die dir doch nur Ruhe, ja Ruhe und Wärme spenden soll, damit du endlich schlafen kannst!
Die Nacht schleicht vor sich hin, um die Häuser und Ecken, es ist kalt und dunkel. Und du willst nur schlafen! – Du stehst auf, weil du es nicht aushältst, gehst in die Küche, zündest dir eine Zigarette an und wartest umsonst auf den Schlaf.
Du versuchst es wieder, gehst ins Bett und nimmst dir vor, nun endlich weg sein von dieser Welt!
Langsam dämmert es. Die Vögel beginnen, zu singen, die Sonne geht auf, und du wälzt dich hin und her – hast immer noch nicht eine Sekunde geschlafen.
Die vielen Ratschläge deiner Familie kannst du nicht mehr hören: „Nimm ein Buch. Vom Lesen wird man müde!“
Ja, das tue ich sowieso, denkst du, denn schlieĂźlich liebst du das Lesen, doch am Ende sieht es ganz anders aus. Die kriechenden Gedanken kommen nach dem Lesen wieder, kreisen im Gedankenkarussell durch deinem Kopf!
Und so vergehen die Tage und Nächte, manchmal kannst du schlafen, meistens nicht. So vergehen Wochen und Monate und irgendwann hast du kaum Kraft mehr. Manchmal kannst du dich nicht mehr aufrecht halten. – Die vielen Schlaftabletten haben leider oft nicht gewirkt. Oh, wie stark ist doch der innere Wille, aller Medizin zum Trotz wach zu bleiben. Die Augenringe, deine fahle Gesichtsfarbe sprechen Bände! Die Schlaflosigkeit kann dich schon sehr in die Knie zwingen. Irgendwann vegetierst du nur noch.
Bis du lernst, fĂĽr dich zu sorgen. Gut fĂĽr dich zu sorgen! Gut zu dir zu sein! Wie die Psychohygiene letztendlich fĂĽr jeden Einzelnen aussieht, mag fĂĽr jeden anders sein. Auf jeden Fall, sollten wir gut zu uns sein und uns vor krankmachenden Faktoren schĂĽtzen!
Wie die Wissenschaft inzwischen erkannt hat, liegen die Ursachen für Schlaflosigkeit viel tiefer: In unserer Seele und den äußeren Bedingungen, in dieser stressbelasteten Zeit, in der von Informationen überfrachteten Welt und dem Druck ständiger Verfügbarkeit durch die Technik! – Innerer und äußerer Druck, emotionaler und äußerer Stress lassen uns oft nicht mehr zur Ruhe kommen, so dass wir nachts nicht schlafen können.
Gegen die kriechenden Gedanken kann auch sehr gut helfen, alles, was einen bewegt, in einem Tagebuch niederzuschreiben. Das kann befreiend sein! Andere gehen zu einer Psychotherapie – wie gesagt, jeder muss für sich herausfinden, was einem hilft.
Ich wünsche euch viel Glück und vor allem einen guten Schlaf, der euch erholen lässt!


S – wie Selbsthilfegruppen (28. November 2015)
von Sibylle Prins

Ein kleiner Cartoon zeigt einen Menschen, der vor einer Tür steht, an der ein Plakat hängt. Auf dem Plakat wird geworben für eine Selbsthilfegruppe für Selbsthilfegruppengeschädigte. Damit wird das Selbsthilfewesen ein bisschen durch den Kakao gezogen, zum einen damit, dass es inzwischen fast für jedwede Problemlage Selbsthilfegruppen gibt. Zum anderen wird vielleicht auch das manchmal sehr starke und für Außenstehende möglicherweise eher penetrant wirkende Engagement von manchen Selbsthilfegruppenmitgliedern aufs Korn genommen? Ich weiß es nicht, nur der im Cartoon gezeigte Einfall war mir als Vorstandsmitglied eines Selbsthilfevereins (höhere Stufe als die bloße SH-Gruppe) auch schon gekommen. Man entwickelt doch so seine speziellen Eigenheiten, und irgendwie einen leicht hervorzurufenden missionarischen Drang.
Aber im Ernst: Als ich Mitte der 1980er Jahre in die Psychiatrie kam, gab es noch keine Selbsthilfegruppen zum Beispiel für Menschen mit Psychosen. Man glaubte vielmehr, Psychose-Erfahrene seien zur Mitarbeit in und eigenverantwortlicher Gestaltung solch einer Gruppe gar nicht fähig. Von überregionalen Verbänden ganz zu schweigen. Die 1990er Jahre haben dann das Gegenteil bewiesen. Das, was eine Selbsthilfegruppe von einer Therapiegruppe unterscheidet, habe ich soeben schon erwähnt: die Gruppe wird von Betroffenen selbst geführt und gestaltet, ohne Anleitung durch Fachleute. Manchmal gibt es allerdings auch Gruppen, die zu Beginn professionell angeleitet werden, später dann allein weitermachen. Die Selbsthilfegruppe, in die ich damals kam, wurde zwar nicht von psychiatrischen Profis angeleitet (diese nahmen unsere Existenz mit großem Erstaunen wahr), wohl aber unterstützt von einer lokalen Selbsthilfekontaktstelle, die die Aufgabe hatte (und hat), alle Selbsthilfegruppen in der Stadt bei der Gründung, der Mitgliederwerbung, der Raumsuche, der Geldbeschaffung, bei Konflikten und durch Fortbildungen zu unterstützen. Solche Selbsthilfebüros gibt es in vielen Städten, oft angesiedelt bei einem großen Träger wie zum Beispiel dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Inzwischen gibt es für den Bereich psychische Krisen/psychische Belastungen eine große Vielfalt an Selbsthilfegruppen. Welche man vor Ort konkret vorfindet, ist jedoch regional sehr unterschiedlich. Es gibt Gruppen, die diagnosebezogen sind, zum Beispiel für Menschen mit Depressionen, mitÄngsten und Zwängen, Psychosen oder bipolaren Störungen. Andere Gruppen sind offen für Menschen mit jeder Diagnose. Manche richten sich darüber hinaus an bestimmte Personengruppen, wie etwa psychiatrieerfahrene Eltern oder Frauen mit Psychosen. Auch die ideologische und politische Haltung kann sich unterscheiden: es gibt Selbsthilfegruppen Psychiatrie-Erfahrener, die eine nicht nur psychiatriekritische, sondern deutlich antipsychiatrische Einstellung haben. Sie lehnen das Konzept der psychischen Krankheit ab und kämpfen für die Abschaffung der Psychiatrie. Dementsprechend suchen sie auch keinen Kontakt zu psychiatrischen Einrichtungen. Andere Gruppen, in denen u. U. das Krankheitskonzept bejaht wird, versuchen gerade durch eine Zusammenarbeit Einfluss auf die Psychiatrie zu nehmen.. Aber manche Formen der Zusammenarbeit, werden nicht nur von antipsychiatrisch Engagierten kritisch gesehen: so gibt es SHGs (nicht nur im Bereich Psyche), die sich von Pharmafirmen finanziell unterstützen lassen. Das ist wirklich fragwürdig, weil Pharmafirmen grundsätzlich ganz andere Ziele haben als Selbsthilfegruppen, und Letztere dann sehr leicht missbraucht werden können. Erwähnt werden kann noch, dass manche Selbsthilfegruppen einem größeren Verband nahe stehen oder angehören, wie etwa dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener oder der Deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen – andere wiederum ganz unabhängig arbeiten.
Was bringt denn nun eigentlich die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe? Ist das nicht bloß ein Jammerclub, in dem man andauernd über seine Probleme redet und sich so richtig im Elend (dem eigenen und dem der anderen Teilnehmer) suhlt? Ich habe das ganz anders erlebt. Ich fand in der Selbsthilfe ein Forum, in dem ich erstmals offen und ungezwungen über das, was ich in der Psychose und der Psychiatrie erlebt hatte, reden konnte. Wo ich erlebte, das es mehr Menschen gab, die sehr Ähnliches erlebt hatten, aber auch Menschen mit derselben Diagnose, denen es ganz anders gegangen war. (In unserer SHG für Menschen mit Psychosen fragten wir einmal, wer denn in seinen Psychosen schon die Welt gerettet hätte, weil das ein häufiges Thema in Psychosen ist. Da gab es in der Gruppe sechs Jesusse und zwei Buddhas – und natürlich ein großes Gelächter).
Ich konnte lernen, wie andere mit ihren Krisen und dem Bruch im Lebenslauf umgingen, und psychotische Krisen bei anderen und somit als Außenstehende erleben – wenn auch als Außenstehende mit eigener Erfahrung. Schnell wurde in unserer Gruppe deutlich, dass wir viel mehr machen wollten als uns nur über unsere persönlichen Angelegenheiten auszutauschen. Im Gegensatz zu einigen anderen Selbsthilfegruppen, die zum Beispiel auch Referenten zu interessanten Themen einladen oder regelmäßig gemeinsame Freizeitaktivitäten anbieten (Frühstücken, Wandern, Kegeln etc.), wollten bei uns viele Mitglieder (psychiatrie-)politisch tätig werden und auch Öffentlichkeitsarbeit machen. So dass aus der Selbsthilfegruppe nach einigen Jahren ein Verein wurde, der bis heute aktiv ist, u. a. mit einer eigenen kleinen Zeitung, Mitwirkung beim Psychose-Seminar, in der unabhängigen Beschwerdestelle, bei den Trialog-Gesprächen, bei der Vorbereitung der Woche der seelischen Gesundheit, mit regelmäßigen Sprechstunden in der Klinik u. v. a. m. Darüber hinaus habe ich in diesem Kreis auch Freunde und Bekannte gefunden, und in unseren Freundschaften spielt der ursprüngliche Anlass des Kennenlernens, die Psychiatrie-Erfahrung, nur noch eine Nebenrolle. Wie man sieht, kann Selbsthilfe sehr viel mehr und ganz anders sein als bloß ein Stuhlkreis voller niederschmetternder Probleme – und auch mehr als ewiges Blitzlicht: „Wie geht’s mir denn heute?“ Womit wir wieder beim Anfang, nämlich den Karikaturen von Selbsthilfe wären. Die Selbsthilfe aber kann das gelassen hinnehmen, dass sie auch mal auf die Schippe genommen wird, denn wenn sie auch nicht für jeden das Passende ist- ihre Vorzüge sind unbestritten und vielfach erfahren, ihre Bedeutung für das Gesundheitssystem unübersehbar! Und sollte es Ihnen in der SHG gar nicht zusagen, bleibt immer noch die eingangs erwähnte Gruppe für die Geschädigten ...

www.bag-selbsthilfe.de
www.bpe.-online.de
www.dgbs.de


S – wie Spurensuche durch Schreiben (5. Dezember 2015)
von Peter Mannsdorff

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch sagte einmal: Schreiben heiĂźt, sich selbst lesen. Schreiben als Selbsttherapie ist der Zugang zu sich selbst. Wer Probleme, Ă„ngste und Sorgen zu Papier bringen oder sogar literarisch verarbeiten kann, findet Distanz zu ihnen und kann sich besser ordnen.
Schreiben ist nicht nur eine Form der Selbsthilfe, sondern auch ein wertvoller gesellschaftlicher Beitrag. Leidensgenossen oder Fachleute können über die entstandenen Texte dankbar sein, geben sie doch einen Einblick in das Gefühls- und Seelenleben der Kranken, den wissenschaftliche Fachliteratur nie leisten kann.
Schreiben von Betroffenen schafft Verständnis und Empathie.
Es kann ein geeignetes Mittel sein, bei seelischen Erschütterungen – und nicht nur dann – auf eigene Spurensuche zu gehen.
Sabine Wilde, eine Berliner Autorin, sagt dazu: Ich glaube, dass die Verarbeitung seelischer Erschütterung nur mittels Sprache geleistet werden kann, ob es nun das mündliche oder das schriftliche Wort ist, wobei das Geschriebene überdauert das gesprochene Wort. Schreiben ist eine gute Möglichkeit, das Erleben von Psychosen aus der Distanz darzustellen. Wenn du merkst, es sprudelt aus dir heraus, die Gedanken fließen und werden auf dem Bildschirm zu Sätzen, dann fühlst du dich wie unter Strom. Wirklich, du kommst dir vor wie eine Batterie, die sich nie entladen soll. (In: Von drinnen nach draußen, p.m. Shift-Verlag)
Für Sabine Wilde ist es ein Dilemma in der Psychiatrie, dass in der Ausbildung zum Ergotherapeuten das Schreiben so sehr vernachlässigt wird. Durch das Motivieren zum Schreiben, könnte man Mut machen und Verständnis durch Sprache schaffen. Wenn Patienten über ihre seelischen Erschütterungen in Ruhe schreiben, setzen sich Ideen und Gedanken frei und geben den Ärzten und Psychologen mehr Einblick in das Seelenleben ihrer Patienten.
Die Wichtigkeit des Schreibens könnte man mit einem Bild veranschaulichen: Vor dem Schreibprozess ist der Kopf aufgewühlt wie ein modriger Teich. Wenn ich Erinnerungen und Gefühle schwarz auf weiß abtrage, setzt sich der Schlamm auf den Grund, und dann ist das Wasser wieder klar. Nur, und das ist das Gefährliche – darf jetzt niemand kommen und mit einem Stock im Schlamm herumrühren. Das heißt irgendein unvorhergesehenes Ereignis könnte die Seele wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Und nicht nur ein Ereignis: Auch beim Schreiben können gesundheitsgefährdende Emotionen hoch kommen. Besonders, wenn man auf der Suche nach biografischen Unfällen ist, die einen vor Jahren aus der Bahn geworfen haben.
Schreiben ist ein langer Kampf gegen die Krankheit, bei dem auch RĂĽckschritte hingenommen werden mĂĽssen.
Sibylle Prins, Autorin aus Bielefeld, bestätigt durch eigene Erfahrung diese Behauptung. Für sie war das Schreiben zunächst mehr ein Ordnen und ein Es-nach-außen-tragen. Sie hatte nicht so sehr das Gefühl, dass das Schreiben für sie therapeutische Qualitäten haben könnte. Wenn sie zum Beispiel versuchte zu schreiben, um aus einer schlechten Stimmung herauszukommen, konnte es sein, dass sie sich damit noch tiefer hineinritt.
Wenn ich an einer Sache emotional noch sehr dicht dran bin, sagt sie, kann ich meistens nicht darüber schreiben. Das muss erst ein wenig ‚abkühlen’. Natürlich ist da auch ein Gefühl von Erleichterung, besser noch Befreiung, wenn man einen Text, der lange in einem rumort, endlich zu Papier gebracht hat. Früher geriet ich manchmal auch in regelrechte ‚Schreibräusche’, die nicht ungefährlich für mich waren. Das hat sich jetzt Gott sei Dank gelegt. Inzwischen habe ich ein nüchterneres Verhältnis zum Schreiben bekommen. (s.o.)
Sie hat erst angefangen über ihre Psychosen und Psychiatrieaufenthalte zu schreiben, als sie schon ein ganzes Stück verarbeitet und eine Haltung dazu gefunden hatte, die sich übrigens inzwischen auch noch einmal verändert hat.
Es gibt nach Meinung von Sibylle Prins sehr wohl eine Verbindung zwischen Kreativität und Psychose, aber ihr ist ihre nichtpsychotische Kreativität inzwischen lieber. Die psychotische Kreativität wird in der Wiederholung doch einigermaßen stereotyp, und was man in der Psychose als großartige und tiefgründige Gedanken oder Zusammenhänge betrachtet, wirkt bei klarem Verstand dann oft recht banal.
Ein anderer Grund, weshalb ein Autor aus dem Gleichgewicht geraten kann, zeigt das Beispiel von Hans Fallada. Für ihn war der plötzliche Welterfolg nichts Angenehmes. Ich sollte auf einmal da reden und dahin zu Besuch kommen, dort etwas eröffnen und für diese und jene Zeitung einen Artikel schreiben oder irgendeinem Verlag meinen nächsten Roman geben.
Das Schlimmste aber war das Geld. Noch vor kurzer Zeit hatte er von einem sehr bescheidenen Einkommen leben mĂĽssen und kaum etwas besessen. Man muss auch mit Geld umgehen lernen, so Fallada, und das hatte ich in meinem Leben bisher nicht getan. Er war auf dem besten Wege dabei, die Ehe mit seiner Frau, seine Arbeitslust und seine Gesundheit zu ruinieren.
Und – er begann wieder zu trinken, was der erste Schritt zu seinem Ende war.


S – wie Stimmenhören (kindgerecht erklärt) (12. Dezember 2015)
von Peter Mannsdorff

15% aller Menschen haben außergewöhnliche Wahrnehmungen, 3-5% hören Stimmen, das heißt real gesprochene Worte.
Jesus hörte Stimmen, Hildegard von Bingen, Jeanne d’Arc sowieso, auch Lessing, C.G. Jung und Andy Warhol.
Das Einzige, was wir Ihnen hier bieten können, ist eine der vielen Möglichkeiten darzustellen, das Phänomen des Stimmenhörens Kindern zu erklären:
Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihrem fünfjährigen Sohn zu Besuch bei einem befreundeten Ehepaar, wo die Frau unter Stimmenhören leidet. Sie werden freundlich bewirtet, nach etwa einer halben Stunde fragt Ihre Bekannte: „Na, Kleiner, gefällt es dir bei uns?“
Und plötzlich, ganz unvermittelt, donnert es aus ihr heraus: „Du bist ein ungezogener Bengel, weißt du das? So schlecht über mich zu sprechen! Deine Mutter sollte dich besser erziehen.“
Sofort eilen Sie hinzu. Ihr Sohn sitzt erschrocken am Tisch, er guckt die Gastgeberin mit großen Augen an und beginnt zu weinen. Ist die jetzt total verrückt geworden!, denken Sie. Der Junge bekommt am Ende auch noch eine seelische Störung. Was genug ist, ist genug. Sie brausen auf: „Frauke, mach den Jungen nicht an. Er hat dir nichts getan! Wenn du Stimmen hörst, geh zum Arzt und lasse dir mehr Pillen geben, aber hör endlich auf, den Jungen zu tyrannisieren!“
„Ich brauche keine Medikamente“, keift Ihre Bekannte. „Medikamente sind Nervengifte, und Nervengifte bringen mich um!“ Sie stopft den Rest ihres Kuchens in den Mund.
„Was hat sie denn?“, fragt Sie Ihr Sohn. „Warum ist sie immer so oll zu mir und sagt, dass ich Sachen sage, die ich gar nicht gesagt habe?“
Sie versuchen, ihm zu erklären, dass Frauke jemanden sprechen hört, doch in Wirklichkeit spricht niemand mit ihr, aber Ihr Sohn guckt Sie nur fragend an. Jetzt wissen Sie, dass Sie sich total verfranst haben und wissen nicht, was Sie weiter sagen sollen. Zum Glück kommt Bill, der Mann Ihrer Bekannten.
Ob er es dem Kleinen erklären könne? Bill krault sich die Barthaare am Kinn und überlegt eine Weile, dann sprudelt es aus ihm heraus: „Jut, Willi. Det krieg’n wa hin. Stell dir vor, du wärst schon jrößer und müsstest zu Hause bei deine Mutti ooch den Putzdienst machen. Janz schöner Mist, wa? Aber wat muss, das muss. Also stell dir vor, heute wärste mit Saugen dran. Du knüpfst dir det Teil vor und saugst und saugst und dit Schärfste, es macht dir sojar Spaß. Du saugst den Teppich und nich nur den, ooch die Couch, die Kissen, sogar die Gardinen saugste uff, und dit macht so schön ploff, ploff. Aba dit alles erst, wenn du älter bist, noch is det Jerät viel zu schwer für dich. Nich, dass du uff eenmal mit dem Ding hier durch die Bude peest!“
Willi ist voll bei der Sache. Bill macht weiter: „Dann stellste den Apparatschik hintern Vorhang und plötzlich ... weeßte, wat da passiert? Nee? Kannste ooch nich wissen. Hatschi, passiert da. Da niest eener. Immer wieder hatschi! Du weeßt nich, wer dit war. Vielleicht ’n Einbrecher? Zwischen zwei Niesern jibste Gas: ‚Zeigen Sie sich sofort, oder ick rufe meene Mutter.’ Und wieder: Hatschi. Endlich ’ne Piepstimme: ’Eine Unverschämtheit, mich so einfach mirnischtdirnischt aufzusaugen!’
Oh Jott! Der Staubsauger! Schnell rennt Kleen-Willi hinter den Vorhang, öffnet den Apparat und kippt den Staubbeutel uff’n Teppich aus. Eine graue Wolke schwebt durch das Zimmer und legt sich uff alle Möbel. Nichts kannste erkennen. Aba da! Ne kleene graue Maus schüttelt eine Staubwolke ab. Jetzt erst siehste dit Männekin: Unglücklich steht es uff der Teppichkante und blickt traurig zu dir hoch, es hört gar nicht auf zu niesen und klopft dabei seinen Anzug sauber.
Dann verbeugt es sich höflich: ‚Darf ick mir vorstell’n. Mario Maroni mein Name. Jetzt haste mir aus meene Wohnung verjagt. Aber macht nischt. Det war mir in dieser Höllenmaschine sowieso zu kneterich. Bloß jetzt hab ick ’n Problem.Ick bin obdachlos jeworn. Kannste mir nich Unterschlupf jewähr’n?’
Und eh de dir versiehst, haste ’nen Untermieter im Ohr. So ’nen richtjen kleenen Zwerg, der dir später inne Schule allet vorsagt, der mit dir spricht, mit dem de selber sprechen kannst. Jar nich mal so übel, wa? So war dit bei Frauke auch. Der is ooch so’n Zwerg rinjekrabbelt.“
Willi klatscht vor Freude in die Hände. „Ich will auch, dass bei mir ein Zwerg wohnt.“
So weit, so gut. Hier müsste Schluss mit dem Anschauungsunterricht sein, denn als pädagogisches Vorbild sollte man bedenken, dass es nicht erstrebenswert sein kann, einen Zwerg im Ohr zu haben, sprich eine Stimme zu hören. Dass dies nicht angenehm ist, sollte man auch einem Kind sagen, zum Beispiel, indem man ihm erklärt, dass der Zwerg andauernd fiese Sachen sagt, wenn man sich mit einem Freund unterhält ...

Peter Mannsdorff
Szene aus ‚Wind um Willi’ p. m. www.buchecker-verlag.de
siehe auch: Die SternenpflĂĽckerin, p. m. www.ewk-verlag.de

Netzwerk Stimmenhören: siehe
www.stimmenhoeren.de



S – wie Sucht (26. Dezember 2015)
von Sabine Wilde

Zwei Monate habe ich bis zum Umfallen durchgesoffen. Anrufe von Freunden, ob es mir wieder besser ginge, empfand ich als verwirrend, weil ich gar nicht mehr wusste, mit wem ich telefoniert hatte. Mit dem Trinken aufzuhören, war für mich längst zur Illusion geworden. Um fünf Uhr brauchte ich bereits den Sprit, um wegen der Entzugssymptome nicht durch die Hölle zu gehen.
Die Hölle sind nach dem Rausch die Depressionen und Schuldgefühle, die wegen ihrer Heftigkeit sicher schon so manchen Alkoholiker in den Freitod getrieben haben, besonders wenn er schon längere Zeit trocken gewesen war und jetzt einen Rückfall erlitten hatte.
Im Rausch und vor allem später im Entzug ist der Gleichgewichtssinn des Trinkers gestört, er torkelt, ihm ist schwindlig, als wäre er schwer seekrank.
Ich setzte alles daran, mich durch mehr Alkohol aus diesem Zustand zu befreien. Damit beginnt der Teufelskreis. Nur von den wenigsten kann er durchbrochen werden, indem sie beispielsweise diszipliniert ihre Alkoholdosis von Tag zu Tag herunter trinken.
Hast du einen Freund, der sich nicht nur co-alkoholisch um dich kümmert und dich vom Supermarkt mit Bier- und Wodkaflaschen versorgt, sondern dich motiviert, eine psychiatrische Entzugsstation aufzusuchen, dich sogar noch hinfährt, hast du großes Glück.
Was einem dort passiert, wenn die Promille für einen beängstigend niedrig werden: Man wird gescort. Das heißt, Ärzte untersuchen dich nach einem Punkteprinzip, um die Schwere deines Entzuges festzustellen. Liegt die Punktzahl über einer bestimmten Grenze bekommst du sofort Dystaneurin. Das Zeug schmeckt widerlich, doch bald geht es dir besser. Zittern und andere Beschwerden verschwinden nicht ganz, aber du fühlst dich erheblich wohler.
Alle zwei Stunden, auch nachts, wird gescort, du bekommst das Medikament nur bei noch hoher Punktzahl. Später wird seine Einnahme zeitlich hinausgezögert, bis man es nicht mehr benötigt wird. Manche Patienten, die im Entzug schwere Ängste haben und zu Halluzinationen oder Krampfanfällen neigen, bekommen auch andere Medikamente außer Dystaneurin. Dies sind in der Regel Tranquilizer, die aber bis zur Entlassung abgesetzt werden.
Wenn ich im Entzug war, zitterten mir die Hände so stark, dass ich Schwierigkeiten mit dem Greifen hatte und nicht einmal meinen Schlüssel ins Schloss stecken konnte.
Liebe Mitalkoholiker, beherzigt den eindringlichen Rat, nach eurer Entlassung in eine Suchtgruppe zu gehen, denn auch wenn ihr jetzt symptomfrei bleibt, alkoholgefährdet seid ihr immer. Reden hilft mehr als Pillen. Wenn ihr es wollt, könnte ihr es schaffen.
Die bekannteste Suchtgruppe sind die Gesprächsgruppen der Anonymen Alkoholiker
www.anonyme-alkoholiker.de
Aber es gibt auch so genannte Spiegeltrinker, die ständig einen gewissen Spiegel an Alkohol intus haben müssen. Sie können ihr Suchtproblem weitgehend vor anderen verbergen, da sie nicht (oder nur selten) durch unangenehme Rauschexzesse auffallen. Sie suchen – süchtig - ständig Lokale auf, in denen sie Wein oder Bier konsumieren können. Haben sie die Wahl, mit Freunden in eine Konditorei oder zum Italiener zu gehen, überreden sie – aus eigennützigen Interessen – die anderen, beim Italiener etwas zu trinken und belügen sich damit selbst.
Anbetracht der Tatsache, dass Alkohol das meist verbreitete Suchtmittel in Deutschland ist, erscheint es mir immer wieder unfassbar, dass im Gegensatz zu Zigaretten die Werbung fĂĽr Alkohol gestattet ist. Ganze Sportereignisse wie FuĂźballturniere werden von groĂźen Biersorten gesponsert.


T – wie Tagesklinik (2. Januar 2016)
von Peter Mannsdorff

Tageskliniken (das Gegenteil: Nachtklinik mit stationärer Behandlung) für Psychiatrie und Psychotherapie geben Patienten zumeist nach einem stationären Aufenthalt Raum für eine Behandlung der Krisenbewältigung mit täglichen Gesprächsgruppen und ergotherapeutischen Maßnahmen. Ziel soll es sein, den Patienten wieder für den eigenständigen Alltag fit zu machen.
Es gibt oft mehrere Arbeitsgruppen, für die sich die Patienten entscheiden sollen, z.B. eine Töpfergruppe oder die Kochgruppe. Für manche Patienten ist es ungewohnt, in der Kochgruppe mitzuarbeiten. Bereits im Vorfeld stöhnen sie: "Jeden Tag für zwanzig Leute kochen, jeden Tag zehn Mal fragen, wo das Salatsieb hinkommt, wo die Töpfe verstaut werden. Schließlich: Abwaschen, Abtrocknen, den verkrusteten Bräter vom angebrannten Reis befreien."
(Es gibt Patienten, denen das private Kochen durch das Massenkochen verleidet worden ist.)
Das Krankenhaus Neukölln in Berlin hat drei Tageskliniken. Eine davon liegt mitten im Kiez. Ich betrete den Hausflur einer uralten Mietskaserne. Mit ganz normalen Mietern. Hinter der linken Tür höre ich einen Papagei schnattern. Mittendrin die Tagesklinikpatienten mit ihren Systemfehlern im Kopf. Schön ausgeklügelt vom Chefarzt. Weg vom Ghetto des Krankenhauses, rein in den gewöhnlichen Kiez.
Dieter, ein Krankenpfleger, den ich im Krankenhaus kennen gelernt habe und zu dem sich eine richtige Freundschaft entwickelt hat, begrĂĽĂźt mich mit seinem breitem Grinsen: "Tag, Micha. Biste also doch zu uns gekommen? Wie geht`s dir, altes Haus?"
Auf die Frage nach meinem Befinden mache ich meine typische Bewegung, wenn ich ausdrĂĽcken will, dass es mir so lĂ  lĂ  geht. Ich winkele meinen Arm an und lasse die Finger vibrieren. Dieter versteht: "Michael, lass man. Die Tagesklinik wird dich schon aufbauen. Ich entlasse dich jetzt zu den anderen in den Aufenthaltsraum. Keine Angst, die beiĂźen nicht."
"Und du? Kommst du mit?"
"Vorstellen kann ich dich ja."
Der Krankenpfleger öffnet die Tür und bleibt eine Weile mit mir und meinen neuen Mitpatienten. Nach einer Weile verabschiedet er sich. "Also, Michael, ich lasse dich erst mal mit den anderen allein. Falls wir uns heute nicht mehr sehen, macht nichts. Ab jetzt sehen wir uns jeden Tag. Und bald gehen wir mal wieder eine Pizza zusammen essen."
Eine bereits schon ältere Patientin mit aufgeplatzten Äderchen im Gesicht lässt Dieter so einfach nicht gehen. "Herr Meyer", ereifert sie sich, "sind Sie etwa als Spezialtherapeut auf den Neuen angesetzt? Dass Sie ihn duzen und sogar noch eine Pizza mit ihm essen wollen, kommt mir doch recht befremdlich vor."
Dieter muss jetzt alles erklären. Er erzählt, wie wir Freunde geworden sind, als ich ihm in der Klinik ausbüchsen wollte. Ich hatte die Nase voll vom Krankenhaus, sollte aber noch vier Wochen bleiben. Parkausgang hatte ich nur in Begleitung von Herrn Meyer. Einmal lotste ich ihn zur Mauer, von der es zwei Meter hinunter zur Straße ging. Plötzlich sprang ich und bahnte mir humpelnd einen Weg durch den fließenden Straßenverkehr.
Diese Geschichte gibt Dieter jetzt zum Besten. "Erzählst du, Micha, oder soll ich?".
Mir ist die Geschichte äußerst unangenehm ist, Dieter findet sie komisch. "Nachdem Micha von der Mauer gesprungen war, konnte er auf seine Pizza doch nicht verzichten und ging sofort zum Italiener. Da wartet er nun auf die Bedienung. Endlich kommt der Ober in weißer Jacke. Adrette Haltung, wie es sich gehört. Und Michael: 'Herr Ober, una Pizza Mozzarella, prego.' Aber ... und jetzt kommt die Pointe: Der Ober war kein anderer als ich, der Krankenpfleger Meyer in weißem Kittel, der seinen getürmten Patienten wieder einfangen wollte. Jedenfalls haben wir viel gelacht und einen Spezi getrunken. `Ich heiße Dieter`, sagte ich, und dabei entstand wohl dann das `Du`, nicht wahr, Michael?"
Die anderen lachen, doch mir ist nicht nach Lachen zu Mute. Welcher Krankenpfleger geht mit einem Tagesklinikbesucher schon Pizza essen? Und wer von ihnen darf einen Pfleger duzen? Die anderen werden mich jetzt möglicherweise schief ansehen.
Der beste Einstieg, den ich liefern kann ...


T – wie Therapeutische Wohngemeinschaft (9. Januar 2016)
von Peter Mannsdorff

Eine therapeutische WG (TWG) ist von der Konzeption als Alternative zur Klinik oder einem Heim gedacht und trägt zur Enthospitalisierung bei. In einer Wohngemeinschaft leben ca. 4-5 Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Krankheiten. Jeder hat ein eigenes Zimmer, das er individuell einrichten kann.
In der WG ist alles erlaubt, außer Alkohol und Aggressivität. Gruppengespräche und Einzel bilden den strukturellen Rahmen des WG-Leben.
Manche, die mehrere Jahre in einer therapeutischen WG gelebt haben, sagen: „Wer das hinter sich hat, hat einen dickeren Nashornpanzer als so manch ein Normalo mit Auto und gut funktionierender Zweierkiste.“
Begleiten wir Thommy bei seinem Vorstellungsgespräch in eine Berliner TWG:
"Das ist Tommy. Er will sich heute bei euch vorstellen." Tommy klopft auf den Tisch und setzt sich. Er ist nervös.
Fünf Gesichter gucken ihn prüfend an. Gleich muss er von sich erzählen, aber zum Glück wird erst einmal gegessen. Eine Frau erhebt sich und holt Töpfe und Pfannen aus der Küche. Es gibt Gemüsepfanne mit Champignons. Ein sympathischer Empfang. Tommy guckt sich in der Wohnung um. Neben der Ecknische schließt sich gleich das großräumige Wohnzimmer an. Mit Ledercouchgarnitur, Farbfernseher und Stereoanlage. Der Wintergarten ist voller Pflanzen.
Zuvorkommend bietet Tommy einer blonden, etwas breitschultrigen Frau, schick aufgedonnert, mit glitzernden Ohrringen, weitem Dekolleté und grellrotem Lippenstift, die Schüssel an. "Bitte, bedien dich," sagt er in ordentlicher Gentlemanmanier, doch sein Vorhaben geht prompt daneben. Die Schüssel wird ihm zu heiß, er muss sie abstellen, verbrennt dabei den Arm der Aufgedonnerten, die Schüssel muss aber irgendwo hin, endlich findet Tommy eine geeignete Stelle, schiebt aber dummerweise den türkisfarbenen Tonaschenbecher vom Tisch. Die Kippen verteilen sich mit der Asche auf dem Boden, Tommy druckst etwas von "Tschuldigung" herum, aber ihm fällt ein Stein vom Herzen, als er sieht, dass es keine Scherben gibt. "Ist ja Gott sei Dank alles heil geblieben", sagt er erleichtert. "Nur hier ist ein bisschen Farbe abgeplatzt."
Die Besitzerin des Aschenbechers, die sich mit Frauke vorgestellt hat, reißt Tommy energisch den Ascher aus der Hand, guckt sich die Stelle entsetzt an und bekommt gläserne Augen: "Die schöne Glasur! Und ich habe mir solche Mühe gegeben. Das kann mir keiner ersetzen! Den kann ich jetzt wegschmeißen." Ihre Stimme klingt hart, fast fanatisch.
Lotte, eine korpulente Frau mit Nickelbrille und kurzen Haaren, hilft Tommy aus der Patsche: "Der Tommy hat das sicher nicht mit Absicht gemacht. Die Stelle kann man doch gut ĂĽbermalen." Sie holt Handfeger und Schippe und kehrt den Dreck weg.
Frauke heult weiter. Tommy kommt sich vor, als hätte er die ganze Wohnungseinrichtung zertrümmert, aber mehr als sich drei Mal entschuldigen, kann er nicht. Bevor er überhaupt einen Satz gesagt hat, wird er zum Problemfall der Gruppe. Die Betreuer schalten sich ein: "Wie können die anderen damit umgehen?" fragt Paula und fordert den sorgfältig rasierten Gerd mit dem Kaiser-Wilhelmschnauzer zum Reden auf, doch der unterbricht die therapeutischen Strategien von Harry und Paula. "Wir beide haben noch eine Rechnung zu begleichen!“, schnauzt er einen anderen Mitbewohner an. „Du musst dich endlich dafür entschuldigen, dass du vor zwei Monaten einfach, ohne mich zu fragen, meinen Liegestuhl aus der Abstellkammer mit auf den Balkon genommen hast." Gerds Stimme wird beißend. "Du weißt, ich warte immer noch auf eine Entschuldigung, hier vor Zeugen, von dir persönlich, hier in aller Öffentlichkeit. Vorher bin ich nicht länger gewillt, mit dir zu reden, geschweige denn dich morgens zu grüßen."
Er besteht auf der Entschuldigung, Der Mitbewohner denkt nicht daran, und Lotte schlägt endlich vor, die Streitigkeiten auf die Donnerstagsgruppe zu verschieben. Jetzt solle man sich doch ein wenig mit dem Neuen beschäftigen.
Empört schaut Frauke auf. "Und was ist mit meiner Demonstration? Das ist aber fein! Ihr entzieht euch mal wieder! Und dabei hattet ihr in der letzten Gruppe noch extra gesagt, dass ihr mitmachst!"
Lotte mit der Nickelbrille klärt Tommy auf. Frauke habe eine Demonstration angemeldet. Die Gruppe hat versprochen, sie zu unterstützen. Und heute gehe es mit großem Polizeiaufgebot los. Bei großem macht Lotte eine übertriebene Handbewegung und kichert in sich hinein.
"Und um was geht es?" fragt Tommy verunsichert und ist froh, dass die Sache mit dem Aschenbecher erst einmal vergessen ist. Frauke betrachtet Tommy plötzlich mit freundlichen Blicken. "Um Meinungsfreiheit und gegen das Abhören von Gedanken in der U-Bahn. Willst du nicht auch mitmachen? Wir können dir noch ein Transparent malen. Wir müssen uns endlich gegen diesen Abhörfaschismus in unserer Stadt wehren!"
Tommy will schon eine Ausrede suchen, da wird er Gott sei dank erlöst: Lotte schlägt vor, sich endlich um den Neuen zu kümmern. Sie meint ihn! Jetzt wäre er dran. Er ruckt sich auf seinem Stuhl zurecht und lächelt Lotte erwartungsvoll an. Lotte ist anspruchsvoll. Das spürt er.
Um überhaupt etwas zu sagen, lobt er erst einmal die Köchin. Lottes Essen schmeckt wirklich gut. Lotte blickt Tommy skeptisch an und stellt jetzt eine dieser kritischen Fragen, vor denen er sich in der U-Bahn schon gefürchtet hatte. "Sie wollen also mit uns in der WG wohnen? Wie stellen Sie sich dieses Leben vor? Worin sehen Sie Ihre Bringepflicht an die WG?"
Bringepflicht? Was soll denn das schon wieder? Lotte kommt gleich auf den Punkt. "Ich sehe zum Beispiel meine Bringepflicht darin", erklärt sie und schlürft dabei ihren Tee, "der Gruppe sonntags manchmal Kuchen zu backen, damit der Gemeinschaftsgeist in diesem zusammen gewürfelten Haufen nicht ganz verloren geht, und dann muss ich hier für die Sauberkeit sorgen. Denn wäre ich einigen nicht mit Handfeger und Schippe hinterher, würden wir bald meterdick im Staub versinken. Sie müssen wissen, Tommy, das Sauberkeitsbedürfnis Ihrer neuen Mitbewohner lässt einiges zu wünschen übrig. Ich hoffe doch sehr, in Ihnen einen Bündnisgenossen gefunden zu haben!"
Tommy bekommt einen Frosch im Hals. Für wen hält sie ihn? Er nuschelt etwas, das weder ja noch nein bedeuten kann. Aber Lotte versteht wohl mehr ein zustimmendes Ja. "Das ist ja fein. Dann bin ich nicht mehr die einzige, die die Wohnung auf Vordermann bringen muss!"
Tommy beginnt zu schwitzen, aber wenigstens erkundigt sich keiner nach ihm. Bevor jemand dies tun könnte, fragt er schnell, wie Lotte ihren Tag verbringt. Bald weiß er, dass sie alle Erledigungen mit dem Fahrrad macht, U-Bahnfahren ist ihr ein Gräuel. Er hört, dass die Todesstrafe für Tierquäler eingeführt werden muss, und wird auf den gesonderten Müll der WG hingewiesen, an den Tommy sich halten solle. "Also wenn Sie sich mit Ihrem Dreck lediglich an unsere Müllregelung halten, haben Sie einen Teil Ihrer Bringepflicht bereits absolviert. Den Rest mache ich ja sowieso alleine. Hier tut ja keiner mehr als das Nötigste. Und nicht einmal das." Sie guckt bissig ihre Mitbewohner an.
Tommy wird es unbehaglich. Schon wieder diese Bringepflicht! Er bekommt Schuldgefühle und sieht sich schon verpflichtet, sich freiwillig für die Müllentsorgung auf der Rudower Müllkippe zu bewerben, doch Lotte redet weiter: "Für mich ist es schon immer ein Alptraum gewesen, mit anderen Menschen zusammen zu leben. Ich hatte aber damals keine Alternative. Entweder mit meinen Sachen unter den Brücken zu schlafen oder mich dem Diktat der bundesdeutschen Rehabilitationspolitiker zu beugen: Ohne therapeutische WG keine eigene Wohnung. Also musste ich notgedrungen hier einziehen, und ich schwöre Ihnen, es waren bisher die schlimmsten drei Monate meines Lebens. Solange hause ich nämlich schon in dieser seelischen Gesundungsfabrik."
Lotte lacht bitter beim Aussprechen dieses Wortes und guckt abwechselnd vorwurfsvoll auf die Betreuer Harry und Paula.
"Wieso? Was ist hier so schlimm?" fragt Tommy.
"Was hier so schlimm ist?" Lotte bekommt fast einen Lachkoller. "Das werden Sie noch früh genug mitbekommen. Ich will Ihnen nicht Ihr Essen verderben. Aber so viel können Sie ruhig wissen: zehnmal am Tag wirst du beschuldigt und angeschrieen, dass du anderer Leute Gedanken liest, dann vierundzwanzig Stunden am Tag dröhnende Musik. Zumindest bei uns in der Weiberetage. Ich halte mich ja inzwischen nur noch in meinem Zimmer auf ..." Lotte guckt Frauke schon lange giftig an, die tut aber so, als höre sie nicht zu, betrachtet sich in einem Taschenspiegel und drückt sich einen Aknepickel aus. Schließlich guckt sie auf die Uhr und beginnt mit schneidiger Stimme zu drängeln: "Die Demonstration fängt bald an. Die Polizei wartet unten schon."
Und so weiter und sofort.

Peter Mannsdorff
(s. auch: "Wind um Willi" www.buchecker-verlag.de)


U – wie U-Bahnängste (16. Januar 2016)
von Sabine Wilde

Zehn Jahre litt ich unter U-Bahnängsten. Ich konnte in keine U-Bahn mehr steigen, denn ich befürchtete, sobald die Bahn im Tunnel stecken bliebe, würde ich eine Panikattacke bekommen und nie wieder normal werden. Dem ging so eine Schlüsselerlebnis voraus: Während einer U-Bahnfahrt hatte ich aus heiterem Himmel das Gefühl, lebendig in einem Sarg zu liegen und keinen Kontakt mehr zur Außenwelt aufnehmen zu können. Das Gefühl der totalen Isolation.
Schon das Denken an eine U-Bahnfahrt verursachte ein unangenehmes Kribbeln in meinen Armen, dem Vorläufer von Panik. Am Anfang der Erkrankung hielt ich es für ein harmloses Handicap und benutzte als dankbare Lösung ein Mofa. Mit diesem Gefährt machte es viel Spaß durch die Gegend zu kurven und so vermisste ich keine anderen Verkehrsmittel. Dann konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr damit fahren und war auf Taxis oder Busse angewiesen. Taxis kosteten enorm viel Geld und die Fahrt mit dem Bus war oft anstrengend, da sie mit Umsteigen und Wartezeiten verbunden war.
Schließlich weiteten sich meine Ängste auch auf Fahrstühle aus. Ich wusste, hier konnte man ebenfalls stecken bleiben. So manches Mal musste ich acht Stockwerke zu Fuß steigen, um den Fahrstuhl zu vermeiden. Das Leben wurde umständlich. Zum Glück war wenigstens meine Wohnung in der ersten Etage gelegen. Die Angst vor der Panik hielt mich in ihrer eisernen Faust. Mein konsequentes Vermeidungsverhalten verstärkte die Katastrophenphantasien und weitete sie auch auf das Bahnfahren und Fliegen aus. Ich wurde zum Knecht meiner Fantasien.
Erst als ich daran arbeitete meine Ă„ngste zu beherrschen, nahm ich ihnen langsam die Macht ĂĽber mich.
Durch Verhaltenstherapie, die mich mit den Angst auslösenden Faktoren konfrontierte, ohne mich zu überfordern, lernte ich, mich Schritt für Schritt von meinen Einschränkungen zu befreien. Jedoch war dies Kräfte zehrend, da ich meine Ängste aushalten musste. Das Ergebnis aber war: weder starb ich, noch wurde ich verrückt. Nach dieser Erkenntnis nahmen meine Befürchtungen immer mehr ab. Heute bin ich froh, dass ich damals meinen Mut zusammen nahm und mich meinen negativen Gefühlen aussetzte. Inzwischen ist U-Bahnfahren kein Problem mehr für mich.
Ein Begleiter, der Zuversicht und Sicherheit ausstrahlt ist für Klaustrophobiker oft eine große Hilfe. Mit den Worten: Reiß dich mal zusammen, deine Befürchtungen sind doch Quatsch, verstärkt man jedoch nur das Leid des Betroffenen, denn niemand schränkt sich grundlos so ein wie ein Phobiker.
Es besteht eine Theorie, die besagt, dass starke Ängste, die bei Panikattacken aufkommen, früher für die Menschen einen Überlebenszweck hatten. Unsere Vorfahren waren bereits schon massivem Stress ausgesetzt und so häufig in einer generalisierten Angstbereitschaft. In den archaischen Teilen unseres Gehirns ist diese noch vorhanden. Stress ist häufig der Auslöser von Ängsten.


U – wie Ursachen- versus Symptombekämpfung (23. Januar 2016)
von Peter Mannsdorff

Erkenne dich selbst – dieser Spruch steht im Orakel von Delphi. Ihn zu beherzigen, wäre die Kunst der Spurensuche nach dem eigenen Ich, sich zu ergründen, zu verstehen, zu erklären. Gelänge es, würde man sich mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten lieben lernen, und hätte, fände man den Schlüssel zum eigenen Ich, auch den Zugang zum Nächsten.
Ein Stück weit, sich selbst zu erkennen, zumindest, sich zu lieben, könnte gelingen, wenn man auf einen Menschen trifft, den man abgöttisch liebt, man wäre dann eine harmonische Symbiose. Doch die wahre Reise ins Ich beginnt erst, – eine Theorie (!) – wenn man auf einen Dritten trifft, der einem die geliebte Person abspenstig macht. (Dieser Dritte muss nicht unbedingt eine Person sein, die in einem Eifersuchtsdramen auslöst, er kann auch ein schicksalshaftes Ereignis wie der Tod sein). Man beginnt, in einem egozentrischen Trip, sich in sich selbst zu vergraben, lernt seine seelischen Abgründe und Höhenflüge kennen und unternimmt allmählich, schrittweise, eine spannende, mitunter lebensgefährliche, weil nahe am Suizid gelagerte Abenteuerreise in sein Selbst und damit erlernt man sich und andere zu verstehen.
Die meisten Menschen verzichten auf die Abenteuerreise ins Ich. Sie haben Angst vor den Flurschäden, die böse Depressionen nach sich ziehen können. Sie zerstreuen sich mit oberflächigen Amüsements, verlieren sich in mehr oder weniger sinnlosem Konsum, und auch Ärzte lassen sich bei ihren seelisch erkrankten Patienten von der Symptombekämpfung durch Medikamente verleiten, was insofern etwas mit Konsum zu tun hat, weil bei dieser Behandlungsweise Unmassen an Psychopharmaka konsumiert werden.
In der Regel kennen Ă„rzte keine Einzelheiten von den SchlĂĽsselerlebnissen ihrer Patienten, die zu den psychischen Defekten gefĂĽhrt haben, aber sie behandeln sie mit Haldol und anderen Medikamenten.
Wunder Punkt auf der Seelenhaut? Pflaster drauf!
Und die Patienten selbst wagen nicht den Schritt, die Medikamente abzusetzen, wenn sie meinen, genĂĽgend Seelenarbeit geleistet zu haben, fehlt ihnen doch das Wissen der Ă„rzte.
Das Risiko ist hoch, einen Rückfall zu erleiden – also erdulden sie weiterhin die tückischen Nebenwirkungen der Medikamente.


V – wie Vater-Sohn-Konflikt (30. Januar 2016)
von Peter Mannsdorff

Sigmund Freud prägte in seiner Psychoanalyse den Begriff Ödipuskomplex, hergeleitet aus der griechischen Mythologie, wonach König Ödipus laut Orakel seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen sollte.
Freuds Theorie besagt, dass das Kleinkind bis zur ausgehenden Pubertät den Vater als Konkurrenten ansieht und sich zur Mutter hingezogen fühlt. Im günstigsten Fall wird diese Konkurrenz im Erwachsenenalter überwunden, wenn nicht, entstehen Neurosen bis hin zu Perversionen.
Stellen wir uns eine Kleinfamilie vor. Vater, Mutter, Sohn. Der Vater ist vernunftsbeladen, kopflastig – die Mutter eher gefühlsbetont. Während sie das Kind zum Lachen bringt, sagt der Vater: „Du kannst dein Kasperletheater vor dem Jungen spielen, wann immer du willst, aber nicht, wenn ich etwas Vernünftiges mit ihm machen will!“
Häufig streiten sich Vater und Mutter und versuchen dabei, den Sohn auf seine Seite zu ziehen. Oft sagt der Vater: „Ich weiß schon, was ich mache.“ Die Mutter: „Du machst ja immer alles richtig. Nie unterläuft dir ein Fehler.“
An anderer Stelle, wenn der Sohn mit dem Vater streitet, sagt er zum Vater: „Du bist ja so perfekt wie Jesus am Kreuz.“
„Musst du deiner Mutter immer alles nachplappern.“
Der Sohn fühlt sich ungerecht behandelt. Nie hatte seine Mutter das mit Jesus gesagt. Das ist seine Idee gewesen. Später, während seiner Krankheitsphasen, möchte er dem unerreichbaren Vater ebenbürtig sein und selbst Jesus sein.
Als der Sohn sagt: „Das mit Jesus hat nicht Mutti gesagt“, meint der Vater schroff: „Hast Recht, du bist der Größte.“ Später, in seinen Psychosen, ist der Sohn tatsächlich der Größte.
Der Vater sagt im Beisein des Sohnes zur Mutter: „Kein Wunder, dass er einen Ödipuskomplex hat.“
Das erste Fremdwort, das der Siebenjährige in seinem Leben mitbekommt.
Die Mutter hat Probleme. Die dunklen Kiefern vor dem Haus im Winter, die Einsamkeit als Hausfrau am Vormittag, wenn der Sohn in der Schule, der Vater im Büro ist – sie hat Phasen, da trinkt sie.
Eines Tages tut sie völlig betrunken das Essen auf die Teller, die angebrannten Bratkartoffeln in die Schalen für den Nachtisch, das Fleisch auf die Tischdecke.
Der Sohn weiĂź, Mutter ist jetzt nicht so, wie sie sein mĂĽsste, aber er begreift nichts.
Der Vater ist verzweifelt.
Als die Mutter in die Küche torkelt, flüstert er zu dem Jungen, immerhin so laut, dass sie es hört: „Wenn das so weiter geht mit Mutter, kommt sie noch in die Anstalt.“
Anstalt!
Der Sohn weiĂź nicht, was das ist, aber es muss etwas Schlimmes sein. Vater will mir meine Mutti wegnehmen. Vater ist mein Feind.
Die Mutter wurde nie in die Anstalt eingeliefert, symbolisch opferte sich der Sohn für sie, indem er sich durch seinen Lebenswandel dorthin manövrierte.
Der Vater sagte bei Entscheidungsfragen zum Sohn: „Du kannst machen, was du willst, du bist ein freier Mensch. Aber wenn du mich fragst ... frag den, frag die, alle würden mir Recht geben.“
Der Sohn war orientierungslos. Er mĂĽsste so werden wie sein Vater, wenn er im Leben etwas werden wollte, aber das wollte er nicht. Also entschied er sich immer fĂĽr den entgegen gesetzten Weg des Vaters, und es wurde der falsche.
Der Sohn ging auf Opposition.
Aber er war in sich gespalten. Auf der einen Seite hasste er ihn, auf der anderen war er stolz auf ihn. Der Vater war politisch nicht konservativ wie die Eltern seiner Freunde; er war Verfolgter des Naziregimes, der Sohn schmĂĽckte sich im Ausland mit dessen Federn.
Aber irgendwann geriet er in eine Krise und stĂĽrzte ĂĽber eine Stolperschwelle, die seinem Leben eine abrupte Wendung gab.
Er unternahm eine Reihe von Suizidversuchen, eher Gesten an seine Umwelt.
Eines Tages ritzte er mit einem Essmesser an seinem Handgelenk, eine leichte rote Spur war über der Pulsader zu sehen. Als der Vater, mit den Nerven am Ende, das Blut bemerkte, schrie er: „Dann mach es doch, Feigling! Dann sind wir dich und dein Gejammer endlich los!“
Ein Satz, von einem Profi mit Fingerspitzengefühl geäußert, ein Meisterwerk, als Explosion eines erregten Angehörigen ein großes Risiko – es hätte schief gehen können.
Dem Sohn gab der Wutausbruch einen Impuls: „So schnell wirst du mich nicht los, Vater. Ich schaffe es, schon allein dir zum Trotz.“ Und er beendete seine Serie an Selbstmordversuchen.
Nie wollte der Sohn seinen Vater töten, nie hätte er den Kontakt zu ihm abgebrochen. Er wollte mit seiner Vergangenheit, mit seinem Vater gesunden, eines Tages als Gleichberechtigter neben ihm dastehen, ohne an den Minderheitskomplexen zu leiden, die ihm sein Vater in den Jahren seiner Krankheit einzureden versuchte.
Heute, da der Vater über 90 Jahre alt ist, der Sohn fast 60, setzt sich junior souverän mit senior auseinander. Der Vater ist geistig noch so fit, dass er Gespräche über die Vergangenheit nicht scheut. Nur, wenn der Sohn versucht, vergangene manische Gebärden ohne nachträglichen Argwohn zu analysieren und sagt: „Unbewusst hatte ich vielleicht noch eine Rechnung für Unverdautes offen, wenn ich nachts mit meinen Psychokumpel bei euch aufkreuzte und Sturm klingelte, dann braust der Vater auf: „Ich habe es nur gut mit dir gemeint, und das wirfst du mir jetzt vor!“
In einem Punkt hatte der Vater aber schon damals Recht: Der Sohn litt scheinbar tatsächlich unter einem Ödipuskomplex, denn der Mutter krümmt er, was die Vergangenheit betrifft, nie ein Haar.
Die lange Geschichte dieser Kleinfamilie ließe sich mit einem Bild illustrieren: Italien. Die Familie fährt nach Deutschland zurück. Plötzlich Menschenaufruhr auf der Autobahn. Die Mutter: „Halt an! Das muss ich knipsen.“
„Ich bin ja ihr Sklave. Ich tue immer, was das Weib sagt.“
Plötzlich, aufgebrachte Arbeiter errichten mit Betonplatten Barrikaden. Zu spät. Die Kleinfamilie an vorderster Front. Eine Atmosphäre zwischen Angst und Neugier. Die Eltern streiten sich. Er: „Nur deinetwegen sitzen wir hier jetzt fest.“ Sie: „Das konnte ich doch nicht wissen.“ Sie winkt zwei Arbeiter heran: „Bambino malade. Hospitale.“ Der Sohn muss das kranke Kind mimen, damit sich Vater und Mutter wieder vertragen. In harmonischem Einklang fährt die Familie auf der leeren Autobahn in Richtung Brenner ...
Heute, im Alter, vertragen sich die Eltern tatsächlich, und der Sohn braucht – toi toi toi – hoffentlich – die Klinik nicht mehr.


V – wie Vorausdenker (6. Februar 2016)
von Peter Mannsdorff

Wie viele psychisch Kranke haben Träume, Fantasien für die wahre Wirklichkeit gehalten, obwohl sie zu ihren Lebzeiten noch keine Realitäten waren. Sie wurden für verrückt erklärt, geketzert, verbrannt, geächtet.
Ein Beispiel ist der Schneider von Ulm. In dem Gedicht von Bert Brecht heiĂźt es:
„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach’!“
..:
„Das sind lauter Lügen!
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen!“,
Sagte der Bischof zum Schneider.

Der Schneider ist beim Sturz vom Ulmer Dom auf dem Marktplatz zerschellt, aber Recht hat er gehabt: Der Mensch konnte weit nach seiner Zeit fliegen – er baute Flugzeuge.
Nun wird der Schneider aus Brechts Gedicht in der offiziellen Interpretation nicht als ein psychisch Kranker genannt, aber wer den Film Mister Jones gesehen hat, erinnert sich bestimmt an die Szene, wo der psychotisch Erkrankte auf dem Balken eines Baugerüstes steht und glaubt, er könne fliegen. Über ihm der ohrenbetäubende Lärm eines landenden Flugzeuges, unter ihm der Abgrund.
Ist diese Szene nicht die passende Illustration zu Brechts Gedicht?
1985 machte eine Gruppe von Patienten einer Westberliner Psychiatrie einen Dampferausflug auf der Havel. Ein einäugiger, völlig durchgeknallter Patient stieg hoch zur Kabine des Kapitäns, hielt ihm von hinten den Zeigefinger an der Rücken und sagte: „Das ist ein Überfall! Fahren sie sofort in den Ostberliner Müggelsee!
Vier Jahre später war dies möglich.
Psychisch kranke Menschen haben oft die Gabe und den Mut, mittels Fantasie und Inspiration die allgemein ratifizierte Realität wegzudenken und ihr eine noch nicht existente Wirklichkeit in einer utopischen Zukunft entgegen zu setzen.
Thomas Morus (1478 – 1535), von dem allerdings nicht bekannt ist, dass er psychische Ausnahmezustände hatte, beschrieb in seinem Utopia einen Sonnenstaat, der hinter Mauern existiert, die von der anderen Seite bunt bemalt sind. Ein Bild, das 600 Jahre später an die Berliner Mauer erinnert.
Edgar Allan Poe, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Alkoholrausch gestorben ist, antizipierte in seinem Pendel – so könnte man es interpretieren – eine Zeit der zunehmenden Schizophrenie.
Die Guillotine der Französische Revolution trennte den Kopf vom Körper, symbolisch also den Verstand vom Gefühl; Poe lässt in seiner Novelle ein Pendel langsam aus der Höhe auf den Fixierten niedersinken, bis es irgendwann Nase, Kinn, Kopf, schließlich die Psyche längst spalten wird.
Sollte man diese Deutung vom Pendel ernst nehmen, so hätte Edgar Allan Poe im Wahn eine Ära vorausgedeutet, die in diesem und Ende des letzten Jahrhundert, bedingt durch Anonymisierung, Arbeitslosigkeit und damit ungewisser Zukunft immer mehr zur traurigen Wirklichkeit wird.


V – wie Vorurteil (13. Februar 2016)
von Daniel GieĂźer

Als es mir gut ging, dachte ich: Was haben nur die Kranken? Gott ist mit den Starken, sollen sich die Schwachen doch ein bisschen anstrengen. Ebenso gut hätte ich mir die Uniform eines Herzlosen anziehen und durch die Straßen marschieren können.
Als es mir dann schlecht ging, dachte ich: Was haben nur die Normalos, wie unsensibel sie sind, wie oberflächlich und verurteilend? Ebenso hätte ich mich der Welt als Opferlamm verkaufen können.
Beide Wahrheiten basieren auf Vorurteilen und schaffen Trennung. Der Normale mauert sich ein, um sich vor dem Leid des Betroffenen zu schützen. Der Betroffene schützt sich durch Vorurteile vor seinen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen. Bei den Nichtbetroffenen leidet die Spontaneität im Umgang mit den Betroffenen durch Befangenheit. Es kann sein, dass sie helfen wollen, aber nicht wissen wie und dass sie sich nicht in die sensitive Eigenwelt des Betroffenen einfühlen können. Sie erleben die Menschen in Krisen als schwierig, ihre Welt ist einfach anders. Wird das Vorurteil gegenüber Ver-rückten nicht hinterfragt, kann dies in Ausgrenzung und gesellschaftlicher Isolation enden.
Betroffene, die sich um einen Job oder eine Wohnung bewerben, stehen oft vor der Frage, wie offen sie über ihre Erkrankung reden können. Vorurteile können die ohnehin verletzlichen Betroffenen noch mehr in ihrer Krankheit bestärken, daraus entsteht ein Teufelskreis. Man lässt die Erkrankten spüren, dass sie ihrer Meinung nach keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft sind und die Betroffenen identifizieren sich mit diesem Vorurteil. So wird die Etikettierung von gesund und krank perpetuiert.
Vorurteile haben eine Schutzfunktion. Jeder hat sie. Man will sich nicht ständig in Frage stellen und grenzt sich deshalb von Menschen, die anders sind ab. Doch Vorurteile machen starr und entsprechen meistens nicht der Wahrheit. Betroffene haben andere Erfahrungen als Nichtbetroffene, dieser Graben wird immer zwischen ihnen sein, es sei denn, man benützt diese nicht als Barrikade für seine Angst, sondern sucht Kontakt und Wissen über den anderen.

Daniel GieĂźer, Jg. 1977. Nach leidenschaftlichem Langzeitstudium kam er 1998 nach Berlin. Er arbeitet seit 2008 in der Literaturgruppe Funkenflug mit.


W – wie Weihnachten in der Klinik (19. Dezember 2015)
von Peter Mannsdorff

Die Weihnachtszeit ist fĂĽr viele Menschen eine traurige, melancholische Zeit. Gerade jetzt sehnt man sich nach Menschen, Einsamkeit ist jetzt schwer auszuhalten.
Auf einer psychiatrischen Station ist dies umso bedrückender. An einem Tag im Dezember, meistens weit vor Heiligabend, ist das offizielle stationsübergreifende Weihnachtsfest. Pfleger und Schwestern sind besonders liebevoll und herzlich und bewirten ihre Patienten, die an gedeckten Tischen sitzen, mit Kaffe und Tee; Plätzchen und Mandarinen liegen zwischen Tannenzweigen appetitlich in Pappschalen. Sogar die Stationstür ist offen, da das Fest in der Vorhalle stattfindet. An einem Tag im Jahr verwandelt sich die Station von einer halbgeschlossenen in eine offene.
Der Ärzte- und Therapeutenchor singt exzellent einstudierte Weihnachtslieder aus aller Welt, danach geben Patienten Gedichte und selbst geschriebene Geschichten preis. Um acht ist Feierabend. Dann kehrt wieder Stationsalltag ein; der freundliche Ton der Schwestern wird rauer: „Herr Gießer, Ihre Medikamente.“
Der monotone Stationsalltagstrott geht weiter bis Heiligabend. Da sorgt ein Buffet, wenn schon nicht für seelische Sättigung, so doch für leibliche.
Ein in der Gegend aufgegriffener Patient wird am 24.12. nach dem Essen eingeliefert. Hinter ihm schließt sich die Stahltür der 31, ein Pfleger nimmt ihn in Empfang, um das Notwendigste zu klären; ist es 19 Uhr, Zeit der Bescherung. Verwundert fragt der Patient: „So wenig Patienten?“
„Alle im Ausgang, der Rest schläft schon. Unser Weihnachtsbeisammensein war am späten Nachmittag, das kalte Büffet ist schon abgeräumt. So, wir lassen Sie jetzt allein.“
Drei Patienten sitzen im Raucherraum, reden und rauchen. Rauchen! Das würde Alexander jetzt auch gerne tun. Seine Zigaretten sind ihm ausgegangen. Er geht zu den Dreien hin: „Könnt ihr mir unten welche ziehen. Geld habe ich.“
„Keinen Ausgang.“
„Ich gebe euch zwei Euro, wenn ihr mir ein paar von euren gebt.“
„Hier hast du eine. Weil heute Weihnachten ist. Aber das wird keine Dauereinrichtung, ja?“
Alexander nimmt dankbar die Zigarette, lässt sich Feuer geben und inhaliert gierig. Schon nach zehn Minuten fragt er wieder.
„Wir sind nicht das Sozialamt.“
Alexander geht von Tisch zu Tisch, durchkämmt alle Aschenbecher nach noch rauchbaren Kippen. Wenn einer der Drei eine Zigarette im Ascher ausdrückt, eilt er zu ihrem Tisch und zieht an dem noch glühenden Stummel. Sie quälen ihn, wenn sie die Zigaretten bis fast zum Filter aufrauchen und ihm mit Absicht gerade mal einen halben Zug übrig lassen. Alexander ist es egal, wie sehr sie ihn erniedrigen, er will nur rauchen.
Endlich sagt einer der Patienten: „Kerl, ich kann das nicht mit ansehen. Hier, nimm eine richtige“, und er bietet Alexander eine Zigarette an. „Wie heißt du?“
„Alex.“
„Ich bin Felix. Frohe Weihnachten.“
Alexander traut sich nicht, nach weiteren Zigaretten zu fragen. Er schaut durch den Spalt ins Pflegerzimmer. Ein kleiner Baum mit Plastiknadeln blinkt rot und blau und gelb. Drei Pfleger und eine Schwester sitzen an einem gedeckten Tisch, neben ihnen auf einem leer geräumten Medikamentenwagen der Baum, sie essen Käsefondue, dazu grünen Salat. Alexander verspürt plötzlich Hunger, er hat seit dem Mittag nichts mehr gegessen. Er geht zu den Pflegern, fragt aber nicht nach Brot und Aufschnitt, sondern nach dem, was ihm in diesem Augenblick am wichtigsten ist.
„Wir geben prinzipiell keine Zigaretten heraus“, ist die einzige Antwort. „Wenn wir Ihnen eine geben, kommen sie alle.“ Kein freundliches Wort, kein Fröhliche Weihnachten, nicht einmal Weihnachtsplätzchen bieten sie ihm an.
Ihm ist es egal!
Er will nur wieder frei sein! Frei vom engen Klinikkorsett. Er wird es schaffen, das weiß er jetzt. Wenn nicht heute, dann morgen, und wenn nicht morgen, dann sehr bald. Irgendwann wird er wieder ein selbständiges Leben führen, unabhängig von ärztlicher Bevormundung und täglicher Medikamenteneinnahme. Alexander glaubt daran.
Der Aufenthaltsraum ist bullig warm, das Radio spielt Weihnachtslieder. Vom Dorf ist das Läuten der Kirchenglocken zu hören. Alexander muss an seine Familie denken.
Er geht wieder auf Pirsch nach Zigarettenstummeln. Felix ruft ihn von hinten an. Alexander dreht sich um. Der Patient kommt auf den Patienten zu. „Hier, ein kleines Geschenk.“ Felix reicht ihm eine Zigarettenschachtel. „Sind noch ein paar drin“, lächelt er.
Zufrieden geht Alexander ans Fenster, er presst seine Stirn an die kühle Scheibe, schaut raus in die schwarze Nacht. Weihnachtsflocken schweben auf die weißen Felder wie Ideen auf ein weißes Blatt Papier. Genüsslich inhaliert er das Nikotin. Das also war sein diesjähriges Weihnachtsfest. Wo wäre er nächstes Jahr? Wieder in der Klink? Wäre er freier? Endlich gesund? So lange er Hoffnung hat, ist nichts entschieden.


X – wie Xanthippen im Schwesterngewand I (20. Februar 2016)
von Peter Mannsdorff

„Herr Weber, räumen Sie Ihre Zettel weg, bevor Sie in den Ausgang gehen. Sonst schmeiß ich sie in den Papierkorb.“
Was Schwester Gudrun als Zettel bezeichnet, sind für Herrn Weber wertvolle Manuskriptseiten. Er hat Angst vor Menschen wie Schwester Gudrun, wie Heinrich Heine zögerliche Angst vor den Kommunisten hatte, weil er befürchtete, sie könnten einst ihre Fische in den Seiten seiner Bücher einwickeln.
Da gibt es den Patienten X. Er hat eine wilde Phase hinter sich, musste fixiert werden. 36 Stunden lang. Nachdem er sich in den Augen des Pflegepersonals beruhigt hatte, durfte er mit Schwester Katharina eine Zigarette rauchen gehen. Die Zigarette war kaum im Aschenbecher ausgedrückt, da hieß es: „Zurück ins Zimmer!“
Im Radio spielte gerade das Lieblingslied von Herrn X. Katharina stellte das Radio aus. Scherzhaft drohte X. mit der Faust, wie er seiner Frau und sie ihm mit der Faust drohte, wenn man über etwas leicht missgestimmt war. Schwester Katharina rief laut nach Pflegern: „Patient X. wird aggressiv, er randaliert!“
Das Ergebnis: Drei weitere Stunden gefesselt am Bett.


X – wie Xanthippen im Schwesterngewand II (20. Februar 2016)
von Fanny Seelfin

Und da gibt es Xanthippen im Schwesterngewand, die Frau X verwehren wollten, zum hauseigenen Gottesdienst mit Taizé (kirchliche französische und weltweite Gesänge) zu gehen, obwohl sie Ausgang hatte und das Krankenhaus religiös ist. Als wenn dies nicht reichen sollte, verboten sie Frau X, als sie letztendlich doch erkämpfen konnte, dorthin zu gehen, bis zum Schluss der Gesänge und des anschließenden Dankgebetes zu bleiben, als wenn man dies so einfach mittendrin abbrechen könnte. Selbst die Seelsorgerin des Krankenhauses war schon außerstande, sich zu wehren, da sie sich immer wieder mit dieser besonderen Spezi von Schwestern auseinander setzen musste.
Ein Dankgebet?! Eine Besinnung auf das Wesentliche bei andächtiger Musik, ein Hilfeschrei und Notanker, sollte dies nicht gerade den Kranken in der Not zugestanden sein!!
Aber da gibt es auch Xanthippen im Profigewand, die gezielt und unter Ausnutzung der schweren Krankheit von Frau X in ihrer Hilflosigkeit eine Schweigepflichtsentbindung von 20 Jahre alten Krankheitsberichten erzwangen – von einem völlig veralteten Krankenhaus aus einer 400 km weit entfernten anderen Stadt. Dieses Krankenhaus hatte sie damals bei der Ersterkrankung menschenunwürdig und mit völlig falscher Behandlung und Diagnose lange festgehalten! Eigentlich müssten diese Unterlagen in Anbetracht neuer Erkenntnisse der Wissenschaft, Psychologie und eigenem Entwicklungsverlauf der Frau X nach 20 Jahren schon längst verjährt sein. Besonders in Anbetracht falscher Diagnosen und falscher Behandlungen im Allgemeinen und speziellen Fall der Frau X, die zum Glück inzwischen nach 20 Jahren erstmals die richtige Diagnose erhalten hatte, denn es wurde von ihrer eigenen Psychologin ein Trauma festgestellt, sollten bestimmte Profis ihr Handeln sehr überdenken! Doch darauf legten sie keinerlei Wert!
Ganz zu schweigen – ABER Schweigen sollten wir gerade nicht!! – von den Xanthippen im Schwestern- und Profigewand, die in stillen Kämmerlein und Krankenzimmern zahlreiche Betroffene an Krankenbetten fixieren, festhalten und menschenunwürdig behandeln, und sie zudem mit Medikamenten zupumpen, dass sie gar nicht anders als Zombie ähnlich herumwandeln können.
Es wäre höchste Zeit, diese menschenverachtenden Methoden abzuschaffen, und durch u.a. betreute Soteria und/oder andere kleinere, engmaschigere personenbezogene Behandlungen zu ersetzen! Es gibt zahlreiche positive Beispiele dafür (zum Beispiel die Krisenpension in Berlin, die auch von Profis aus Erfahrung betreut wird oder auch engmaschige, gute medizinische Betreuung im Krankheitsfall zu Hause im gewohnten Umfeld, was zum Teil auch von den Krankenkassen gefördert wird).

Fanny Seelfin, geb. 1967 in Berlin-Köpenick, Studium für Studienrätin in Musik und Deutsch. Tätigkeiten als Lehrerin u.a., Arbeitet heute als Autorin. Zahlreiche Lesungen und Veröffentlichungen in Lyrik und Prosa.


Z – Zoobesuch (Psychose kindgerecht erklärt) (27. Februar 2016)
von Peter Mannsdorff

Nehmen wir an, da ist ein Vater, mag er Herr Ritter heißen, er leidet an einer manisch-depressiven Krankheit. Für seinen 7-jährigen Sohn Robbi sind die Turbulenzen seines Vaters während dessen Manie und die unerträgliche Friedhofsstarre in der Depression schwer auszuhalten. Oft ist er in diesen Phasen bei Bekannten, in einer Pflegefamilie oder bei seiner Großmutter, weil der Vater unfähig ist, sich um seinen Sohn zu kümmern.
Zwischen dem bipolaren Pendel hat der Vater seine Ruhephasen, in denen er mit seinem Sohn kein wirres Zeug redet. Nehmen wir an, in einer diesen Phasen fragt Robbi: „Papa, was ist das, eine Manie?“
Der Vater hat schon lange mit dieser Frage gerechnet. „Sieh mal, Robbi“, antwortet er und legt sich die Worte zurecht. „Im Kopf eines Menschen sieht es ein bisschen wie in einem Zoo aus. In einem Gehege turnen die Affen, in einem anderen die Giraffen und in einem dritten die Elefanten. Wenn es in so einem Kopf krank wird, wenn ich also krank werde, klettern die Tiere aus ihren Gehegen, die Elefanten trampeln durch den Grunewald, die Affen klettern den Funkturm hinauf, und die Giraffen stolzieren über den Ku’Damm und fressen der Witwe Jungnickel im ersten Stock die Geranien aus den Blumenkästen. Das heißt, nichts ist mehr geordnet, dein Papa redet wirre Sachen, die du nicht verstehst.“
Robbi findet das nur geil: „Papa, das ist doch super, wenn die Tiere endlich mal nicht eingesperrt sind, auch wenn es nur in deinem Kopf so aussieht. Elefanten im Grunewald – voll krass!“
Mit dieser Antwort wiederum hat der Vater nicht gerechnet. Er versucht es anders: „Du hast doch von Oma zu deinem letzten Geburtstag einen Computer geschenkt bekommen, weißt du, wie so ein Ding funktioniert?“
Robbi schĂĽttelt den Kopf.
„Er besteht aus lauter 0-1-Kombinationen. Wenn eine 0-1-Kombination in meinem Gehirn falsch gepolt ist, nur eine klitzekleine, gerät in meinem Kopf alles durcheinander, und ich werde krank. Der Computer muss repariert werden, und mein Kopf muss in der Klinik repariert werden.“
Vielleicht hat der Sohn jetzt ein bisschen verstanden, was im Kopf seines Vaters passiert, wenn der krank wird. Das ist eine Sache. Aber wie er dessen nächsten Schub ertragen soll – eine andere!


Z – wie Zwangssterilisation (5. März 2016)
von Sabine Wilde und Peter Mannsdorff

Die in der Psychiatrieszene bekannte Autorin und Bildhauerin Dorothea Buck erkrankte 1936 an einer Schizophrenie Sie wurde daraufhin in den Bodelschwinghschen Anstalten zu Bethel untergebracht und lernte dort die inhumanen Praktiken der Psychiatrie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kennen. Sie erlitt die Sprachlosigkeit unter den Patienten, das auferlegte Sprechverbot und die weit verbreitete Kontaktsperre zwischen Pflegepersonal und Patienten. Patienten mussten monatelang im Bett liegen und wurden zur Untätigkeit ohne Beschäftigung verurteilt.
Dorothea Buck wurde zwangssterilisiert, um – so die nationalsozialistische Ideologie – ihr krankes Erbgut auszurotten. Auch musste sie erleben, wie andere Frauen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden. Für Frau Buck waren dies traumatische Erlebnisse.
1942 hatte sie das Glück, eine private Kunsthochschule besuchen zu können. Dies gelang ihr nur, weil sie ihre psychische Erkrankung und ihre Zwangssterilisation verschwieg. Im Dritten Reich hatten psychisch Kranke keinen Zugang zu höherer Bildung.
Dorothea Buck, geb. 1917, ist heute fast 99 Jahre alt. Sie war aktiv in der Psychiatrieerfahrenenbewegung tätig und war Mitbegründerin der Psychoseseminare, die heute deutschlandweit Fuß gefasst haben. In den 1950er-Jahren heilte sie sich aus inneren Kräften von der Schizophrenie. Bis vor wenigen Jahren lebte sie in einem Hamburger Vorort allein in einem Gartenhäuschen.
In einer ähnlichen Situation befand sich meine Mutter. Aber sie hatte mehr Glück als Frau Buck. 1937, mit 16 Jahren, erkrankte sie an Epilepsie. Sie absolvierte gerade eine Ausbildung zur Stenotypistin. Die Anfälle traten zu ihrem Glück nur nachts auf. So konnte ihre Familie die Krankheit vor Nachbarn und Ausbildern geheim halten, denn sonst wäre sie unter den Paragraphen des 1933 verabschiedeten Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchs gefallen. Der bestimmte, dass psychisch Kranke, geistig Behinderte, auch Epileptiker und Alkoholiker, ohne ihre Zustimmung sterilisiert werden sollten. Zwischen 1934 und 1945 wurde es für 400.000 Frauen in Deutschland ihr tragisches Schicksal.
Für meine Mutter war es demütigend, ihr Leiden nach außen verstecken zu müssen. Es war quälend für sie, in einem Land zu leben, in dem sie per Gesetz nicht wert war, ihr Leben weiterzugeben. Die daraus resultierenden Gefühle der Minderwertigkeit übertrugen sich in manchen Phasen meines Lebens auch auf mich. Trotzdem denke ich, dass ich großes Glück habe, auf der Welt zu sein.
Der Vater meines Arbeitskollegen wurde in der Rassenterminologie der Nazis als Halbjude geführt. Auf der Wannseekonferenz, auf der die Endlösung der Judenfrage beschlossen wurde, gab es eine Auseinandersetzung zwischen SS-Leuten und einem Vertreter des Zivilrechts. Die SS war für die Tötung auch der Halbjuden, der Zivilrechtler dagegen plädierte dafür, die Halbjuden, da auch arisches Blut in ihren Adern flösse, am Leben zu lassen und sie nach dem Endsieg zu sterilisieren.
Wie ich empfand mein Arbeitskollege auch dieses seltsame Glücksgefühl, dass unsere Existenz eigentlich an seidenen Fäden hängt. Unser Dasein also keine belanglose Zufälligkeit?
Weit schlimmere Folgen hatte die Euthanasie. Ein Plakat aus der Nazizeit zeigt einen verkrĂĽppelten Mann in einem Rollstuhl, hinter ihm sein Pfleger. Darunter steht geschrieben: 60.000 Reichsmark kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse, das ist auch dein Geld!
Mit solchen Plakaten hat Ende der dreißiger Jahre das rassenpolitische Amt der NSDAP in der Bevölkerung Stimmung für die Euthanasie machen wollen. Unheilbare Kranke und Behinderte, dazu gehörten auch psychisch kranke Menschen, wurden zum Vorreiter der faschistischen Vernichtungspolitik. An ihnen erprobte man die systematische Anwendung der Gaskammern.“
Nach der Zeit des deutschen Faschismus fanden noch Sterilisationen in Deutschland statt. Bis das neue Betreuungsgesetz griff, wurden jährlich 1.000 Menschen dieser Prozedur unterzogen.
Auch in Kanada und der Schweiz wandte man bis in die 80er-Jahre diese Praktiken an. In den Vereinigten Staaten machte man seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Rahmen des Eugenikprogramms 60.000 Frauen unfruchtbar. Erst 1981 wandte man es nicht mehr an.
Eugenik bedeutet im Griechischen gut. Eugenik steht für eine Gesundheitspolitik, bei sich nur die guten Erbanlagen in der Bevölkerung fortpflanzen sollen.


Und damit hat das kleine ABC der Psychiatrie, das auf dieser Seite Anfang 2015 begann, sein Ende gefunden. Die Buchversion kann nach wie vor käuflich erworben werden, siehe unten.


Um Verwechslungen zu vermeiden und den Trialog zu fördern, sei an dieser Stelle auf das sehr lesenswerte Glossar ABC der Psychiatrie des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden verwiesen, das relevante Psychiatriebegriffe von Abhängigkeit bis Zwangsmaßnahmen fachlich erläutert.

Das kleine ABC – Eine Bestandsaufnahme der besonderen Art ist als Buch im Berliner Shift-Verlag zu bestellen (siehe dort bzw. bitte eine E-Mail an: p.mannsdorff@t-online.de).
(Titelbild rechts von Arnhild Köpcke, Letter bei Hannover)




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