Suche:     

Hier bin ich für mich und zusammen mit anderen

Rezensionen

Ilse Eichenbrenner, in: Soziale Psychiatrie:
Von der Vielfalt profitieren
Es geschieht nicht häufig, dass ich durch das Schreiben einer Rezension getriggert werde. Doch die vielen Beschreibungen von Pflegewohngemeinschaften haben es geschafft. Ich fühlte mich zurückversetzt in meine letzten Jahre als Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst. Ich litt nicht unter der Schwere der Aufgabe: der Prüfung des ergänzenden Pflegebedarf nach SGB XII. Ich litt an deren Unsinnigkeit. Da es die Thematik des rezensierten Bandes betrifft, sollte ich es vielleicht ausführlicher erklären: Die Bewohner dieser Berliner Demenz-WGs waren bereits vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet und eingestuft. Unsere Aufgabe war es nun, mit der Pflegefirma entweder die insgesamt erforderlichen Leistungskomplexe auszuhandeln und mit ungeheuren Mengen von Papier zu befürworten oder – bei anerkannter Demenz oder Pflegestufe II – die in Berlin ausgehandelte Pauschale in einer Pflege-WG zu bestätigen. Ich habe also unzählige Pflege-WGs und ihre Bewohner gesehen und gesprochen. Nicht immer sind es die mit großer Hoffnung begrüßten innovativen, die Selbstbestimmung fördernden Projekte. Der vorliegende Band berücksichtigt fast alle Aspekte, also auch diesen. Klaus-W. Pawletko, der in Berlin vor 20 Jahren die erste Pflege- WG mitbegründete, meint dazu: „Viele dieser Wohngemeinschaften sind bei näherer Betrachtung vom Organisationsprinzip her als Kleinstheime zu bewerten, die von einem betreibenden Pflegedienst dominiert werden und bei denen das Hausrecht – leider – nicht von den dort wohnenden Menschen ausgeübt wird.“ Doch in diesem Band herrscht noch Aufbruchsstimmung, vermutlich zu Recht. Initiatorinnen und Kommunalpolitiker berichten über den langen Atem, den sie bis zur Eröffnung einer Hausgemeinschaft für behinderte Menschen haben mussten. Es erzählten Eltern und ihre Kinder Leidens- und Erfolgsgeschichten; Töchter pflegebedürftiger Mütter, leitende Pflegekräfte, Vertreter von Wohnungsbauunternehmen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband, ein Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, eine Professorin für Architektur und ein einschlägig erfahrener Rechtsanwalt nehmen aus ihrer Perspektive zum Thema „Gemeinsames Wohnen“ Stellung und geben Tipps. Besonders erfrischend ist der Bericht einer juristischen Betreuerin (Elke Heyden-Dahlhaus) mit dem Titel „Ecki – mein Wanderpokal „. Für diesen extrem schwierigen Klienten suchte und fand sie immer wieder neue Wohnmöglichkeiten. Bei einer neuen Pflege – WG ging organisatorisch von vorne bis hinten alles schief; aber aus Fehlern lernt die neugierige Leserin ja am meisten. Beim nächsten Projekt klappte es schon besser, aber die Skepsis der Autorin bleibt. Und es ist schon toll zu erleben, wie es sich für Außenstehende anfühlt, wenn die Pflegewohngemeinschaft plötzlich zum Arbeitsplatz der Patienten der örtlichen Psychiatrie wird, die dann allesamt von der ambulanten Ergotherapeutin in der WG betreut werden. Insgesamt enthält das Buch 24 unterschiedlich lange Beiträge. Glücklicherweise wurde darauf verzichtet, alles einer einheitlichen Struktur zu unterwerfen. So bilden unterschiedliche Sprachen, Stile und Perspektiven eine bunte Vielfalt. Natürlich wird jedes Mal neu in die Thematik eingeführt, was ein wenig redundant ist. Deshalb kann aber auch jeder Beitrag ganz für sich gelesen werden. Überhaupt empfehle ich die Lektüre in Etappen. Man kann dann immer wieder Neues entdecken und lernen und ist so letzten Endes sehr gründlich eingeführt. Einige Details wären nach aktuellster Gesetzeslage zu prüfen, vor allem bei paralleler Gewährung von Leistungen der Pflege und Teilhabe, je nach Alter der Bewohner. Das Buch ist eine hervorragende Anregung für alle, die mit der Gründung einer Wohnmöglichkeit - für sich selbst oder andere – liebäugeln. Aber auch Studierende werden fündig, denn es enthält Verweise auf zahlreiche Studien und Forschungsprojekte.

Alexa Köhler-Offierski auf: www.socialnet.de
Thema
Eine zentrale Frage im Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist die nach der Wohnsituation. Die Herausforderungen bestehen in der Ermöglichung von Teilhabe für Menschen mit und ohne Behinderung, in unterschiedlichen Lebensaltern. Wie wir aus vielen Befragungen wissen, heißt das, möglichst Heimunterbringung zu vermeiden und Wohnen im bisherigen Umfeld ermöglichen. Es gibt inzwischen Modelle von Quartiersprojekten und Hausgemeinschaften, die zeigen, „wie inklusive Wohn-, Pflege- und Betreuungsformen realisiert werden können und wie bestehende Versorgungsstrukturen weiterentwickelt werden sollten.“ (Rückseite Einband)
Herausgeberin und Herausgeber
Beide Herausgeber haben langjährige Erfahrung in der Altenhilfe in unterschiedlichen Funktionen. Beide arbeiten derzeit am Aufbau der Paritätischen Pflege Schleswig-Holstein insbesondere im Bereich innovativer Wohnformen.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist aus der Zusammenarbeit der Paritätischen Pflege Schleswig-Holstein gGmbH und des Paranus Verlags der Brücke Neumünster, letztere seit langem sozialpsychiatrisch und trialogisch engagiert, entstanden. Ziel ist, „Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen dazu an(zu)regen und ein(zu)laden…, aktiv an dem Ausbau einer sozialraumorientierten Pflege- und Betreuungslandschaft mitzuwirken und sich bei der Gestaltung von neuen Versorgungsformen einzubringen.“ (S. 9)
Aufbau und Inhalt
In insgesamt 23 Artikeln werden unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf neue Wohnformen von den unterschiedlichsten Akteuren und Akteurinnen entfaltet. Ich greife einige heraus.
Den Anfang macht die Politologin Ulrike Petersen mit einer konstruktiv-kritischen Zeitreise in den Bereich ambulant betreuter Wohn-Pflegegemeinschaften, gefolgt von einer differenzierenden Darstellung der unterschiedlichen Wohntypen durch den Mitherausgeber Rüdiger Waßmuth.
Katharina Weresch nähert sich dem Wohnen im Alter aus der Perspektive einer Architektin. Aus der Sicht einer engagierten Mutter schildert Christine Burdorf den Weg zu einer außergewöhnlichen WG und den bis dahin zu meisternden Stolperstellen.
Über das subjektive Erleben im Rahmen eines Auszugs der Tochter berichten Mutter und Tochter Krupski unter dem zitierenden Titel „Es ist die beste Zeit meines Lebens“. Birka Jahnke stellt den Start desselben Wohnprojekts als pädagogische Leitung dar.
Die gesetzliche Betreuerin Elke Heyden-Dahlhaus berichtet über die verschiedenen – schwierigen – Stationen ihres „Wanderpokals“ Ecki, bis er schließlich in einer Pflegewohngruppe zuhause wird. Dies liegt wesentlich auch an der guten Pflege, die eine akzeptierende Atmosphäre vermittelt, allerdings auch ihren Preis hat: die Kosten. Auch Gisela Peters, Angehörige, hebt in ihrem Beitrag die Bedeutung der individualisierten Pflege hervor.
Eine zentrale Frage der Daseinsvorsorge, nämlich „Alt werden auf dem Dorf“, greift Ministerialdirigent i.R. Andreas Fleck auf. Voraussetzung aus seiner Perspektive seien „viel Information, Bürgerbeteiligung und möglichst viel politischer Konsens“ (S. 130). Es handele sich um einen Lernprozess, in dem Daseinsvorsorge neu begriffen werden muss, zu dem auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Modellen neuer Wohnformen gehört und die Suche nach Kooperationspartnern. Schleswig-Holstein hat hierfür eine Beratungsstelle eingerichtet, die Irene Fuhrmann vorstellt. Ihr Beitrag leitet über zu dem der zweiten Herausgeberin Irini Aliwanoglou zu neuen Wohn-, Pflege- und Betreuungsformen.
Abschließend positionieren sich VertreterInnen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, der Wohnwirtschaft und eines Leistungsträgers und der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung und es wird ein Bogen geschlagen zu rechtlichen Aspekten bis hin zu dem Beitrag von Bärbel Pook mit dem Titel „Ein Bürgernetzwerk für nachbarschaftliches Wohnen und Leben im gewohnten Stadtteil“.
Diskussion
Die von Aliwanoglou und Waßmuth vorgestellten Neuen Wohn-, Pflege- und Betreuungsmöglichkeiten sind ganz so neu nicht mehr. Allerdings werden Wohnen im Alter und Wohnen von Menschen, die durch die Behindertenhilfe unterstützt werden, häufig separiert behandelt. Und ebenso steht bei neuen Wohnformen häufig die Wohnraumgestaltung im Vordergrund und weniger die Verzahnung zwischen Pflege, Betreuung und Wohnraum. Das Besondere ist, dass hier überwiegend aus einer Region multiperspektivisch und netzartig Einblick in die Entwicklung, Voraussetzungen und geglückte Umsetzungen derartiger verzahnter Projekte gegeben wird. Am Rande werden auch missglückende Projekte gestreift sowie die Mühen und der lange Atem, den derartige Initiativen benötigen, benannt. Wenn dann „die beste Zeit in meinem Leben“ herauskommt, ist das Ergebnis, alles in allem, ermutigend für Folgeprojekte.
Die Artikel sind nun nicht thematisch geordnet, sondern umkreisen das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Überschneidungen sind nicht ganz zu vermeiden. Das Buch ist eher zum Einlesen geeignet und weniger als Handlungsanleitung, wie nun eine neue Wohnform gegründet werden kann. Dazu scheinen mir die lokalen Bedingungen zu unterschiedlich.
Bezüglich der an sich informativen Grundriss-Abbildungen wäre eine nicht nur lupenlesbare Darstellung wünschenswert.
Fazit
Neue Wohn-, Pflege- und Betreuungsmöglichkeiten für Menschen im Alter und für solche, die als behindert gelten, ermöglichen sowohl Teilhabe wie auch Rückzugsraum ins Private. Wohnen, Pflege und Betreuung sind dafür miteinander zu verzahnen und erfordern nicht nur einen langen Atem in der Entwicklung der Projekte, sondern auch qualifizierte Professionelle, die neben den Angehörigen und der möglichen Nachbarschaft Kontinuität gewährleisten.
Der regionale Schwerpunkt der vorgestellten Projekte liegt in Schleswig-Holstein, sie werden sowohl aus Nutzerperspektive wie aus der von unterschiedlichsten Professionellen bis hin zur Landesverwaltung dargestellt. Damit gibt der Sammelband über insgesamt 23 Beiträge einen facettenreichen Einblick bisheriger Erfahrungen und zeigt: es geht doch.

Prof.em Dr. Alexa Köhler-Offierski
Seniorprofessorin Evangelische Hochschule Darmstadt


zurück  zurück