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BrĂĽckenschlag Band 11, 1995

Leseprobe

Sanna Radizi

Ganz zu Anfang

Tagebuch 2.12.1983

Nun ist der glorreiche Monat zu Ende. An seinem tatsächlichen Ende, am 30sten um Mitternacht, ist mir etwas Seltsames passiert – im Augenblick des Geschehens hat es auf mich einen wahnsinnigen Eindruck gemacht. Und wenn ich sage: wahnsinnig – dann meine ich es wörtlich.
Ich las noch im "Mann im Jasmin" , schaltete das Licht dann aus und dachte: Halluzinationen, so wie Unica sie beschreibt, sollte ich auch einmal erleben, um sie hinterher niederzuschreiben. Ich duselte langsam ein, die üblichen unbewußten Gedanken und Bilder liefen ab, irgendwann stieg das Bild eines Duetts auf, vielleicht ein Hollywood-Film der vierziger Jahre. Ich hörte die beiden Stimmen singen! Sie klangen ganz natürlich, und ich wußte die Abfolge der Strophen in der Schnulze. Die Melodie habe ich nie gehört, auch jetzt, zwei Tage später, weiß ich sie nicht mehr.
Ich war überrascht und geschockt. Das gibt’s doch nicht, dachte ich, und hatte im ersten Moment Angst vor der Verrücktheit, die sich da auftat. Aber sie reizte mich ungemein, und ich versuchte aus eigenem Antrieb, sprechende Stimmen zu hören. Es klappte nach Belieben. Natürlich wollte ich mich darauf konzentrieren, Monikas geliebte Stimme zu hören. Wer weiß – vielleicht hatte sie mir etwas mitzuteilen?
Es funktionierte nicht. Ich gab auf. Naja – die Feigheit war zu stark, ich wollte mich nicht vollständig auf dieses Experiment einlassen.
Ich stand auf und suchte den Himmel nach Sternen ab. Zwei oder drei waren zu sehen, der hellste stand über einer auffallend hellen Straßenlaterne. Der Schein der Laterne schien nach links zu weisen, genau in Richtung Süden, der saarländischen Heimat zu ...
Ohne viel Nachdenken bildete sich ein ungewöhnliches Gedicht unter meinen Händen. Ich schrieb darunter: "Ist es mein Wille, der die Fragen stellt und die Antworten finden wird? (Mein Glaube an meine Stärke:) Ja."
Licht aus. Ich würde die Antworten, die Monika mir gäbe, nur im Traum hören können. Etwas unheimlich war mir die Situation schon, aber ich schämte mich für meine unbegründete Feigheit. Der Wecker zeigte halb eins und bestätigte, daß die Halluzinationen um Mitternacht begonnen hatten – genau am Ende des glorreichen Monats – sie hatten eine Bedeutung.
Am nächsten Morgen war ich enttäuscht. Keine Antworten im Traum. Die Schlußzeilen des Gedichts habe ich geändert, weil ich selbst nichts erfahren habe: "Ist es dein Wille, der die Fragen stellt und der die Antworten finden wird? (Mein Glaube an die Liebe:) Ja."



Hartwig Hansen

„Das ist doch normal im Westen...“

Ein fast wörtlicher Erlebnisbericht von der A1, Richtung Hamburg, am 31. Juli 1992

„Wo fährste denn hin?“
„Nach Altona, durch’n Elbtunnel.“
„Naja, das is nich so gut, ich müsste nach Stillhorn.“
Er riecht recht streng, seine Brille hat mindestens sechs Dioptrin, und sein Pubertätsflaum im Gesicht kennt noch keinen Rasierapparat. „Wie lange stehste denn schon?“, frage ich wie immer.
„Och, noch nicht lange, vier Stunden so.“
„Na, das ist doch schon ganz schön.“
„Ach, das ging gut, seit gestern morgen aus Lörrach, nicht länger als zwei Stunden gestanden. Ich hatte schon mal sechzehn Stunden.“
„Und haste nicht bei der Tankstelle gefragt?“
„Nee, lieber nicht, da riecht es immer so gut. Weißte, wenn de Hunger hast. Kann ich mal ’n Keks nehmen?“
„Du kannst auch das Stück Apfelkuchen.“
„Mensch, danke, das is ja ’n Geburtstagsgeschenk, ich werd nämlich heute neunzehn. Genau heute, 31. Juli.“
Er schlingt und schmatzt.
„Herzlichen Glückwunsch! Und was willste in Stillhorn?“
„Na, da schnapp ich mir ’n LKW, weil, die kommen nämlich so über die Fähre. Die Firma bezahlt für den Wagen, Fahrer egal. Ich will nach Finnland. Zwei, drei Tage arbeiten.“
„Wieso denn in Finnland?“
„Na, hier krichste doch keinen Job, hab ich doch zwei Monate lang probiert.“
„Und was willste drei Tage in Finnland arbeiten?“
„Na, irgendwas, ich brauch doch das Geld. Ich muss doch neue Papiere haben. Das hab ich genau ausgerechnet. Passbilder, Antrag, Bahnfahrt zum Amt und zurück. Das macht 84 Mark. Genau genommen 84,60. Und die muss ich kriegen.“
„Wieso, haste keine Papiere?“
„Sind mir doch geklaut worden, in Würzburg, im Obdachlosenheim. Ham sie gesagt, pass auf, wird viel geklaut hier. Aber wer weiß, wofür es gut ist. Vielleicht konnte er sich ’n guten Tag machen. Nur wegen der Isomatte ist es Scheiße. Isomatte brauchste.“
„Haste denn keine Eltern?“
„Nee, beide tot. Unfall. An der Auffahrt Burg, kamen zwei tschechische LKW entgegen, hatten wir keine Chance. Meine Freundin war auch drin, mich haben sie rausgeholt hinten, hatte geschlafen. Und dann eine Woche, sechs Tage Koma, viertel Jahr Krankenhaus.“
„Ja, wie?“
„Ja, Lebensversicherung von den Eltern ging mit dem Waisenheim drauf. Hab zwei Lehren angefangen, beide Betriebe von der Treuhand dichtgemacht. Wieder Essig. Ich will jetzt Zimmerer werden. Hab auch zum August ’n Platz zugesagt gekriegt, aber dafür brauch ich ja die Papiere.“
„Leiht dir denn keiner was?“
„Wer denn? – Die Freunde sind alle weg, seit ich das Bier nicht mehr für alle zahlen kann. Und beim Pfarrer krieg ich immer nur drei Schwarzbrot, wenn ich komme.“
„Das kann doch nicht angehen, was sagen denn die vom Sozialamt'?“
„Papiere besorgen!“
„Und was willste jetzt in Finnland?“
„Zu meinem Onkel. Der ist ’86 über Bulgarien raus, hat in Fulda ’ne Finnin kennen gelemt und geheiratet. Das ist jetzt ein Ort mit 50.000 Einwohnern. Ich weiß aber nicht, wie der mit Nachnamen heißt.“
„Haste schon mal bei der internationalen Auskunft angerufen?“
„Nee, wieso, die kosten doch was.“
„Ja, dreißig Pfennig.“
„Die hab ich nich, ich hab noch genau neun Pfennig. Äeh, kennste Meiningen? Da komm ich her. Meiningen hat das berühmteste Theater. Da bestellen schon die Westdeutschen Karten, und die Franzosen und Engländer. Und Meiningen hat schon siebzehn Banken.“
„Donnerschlag, und du fährst für drei Tage nach Finnland, um dir 84 Mark für neue Papiere zu verdienen.“
„84,60 DM. Ich hab ja schon da unten bei den Chemischen Werken gefragt. In Weil am Rhein und Basel und so. Weißte, so als Versuchskaninchen. Aber die machen auch nichts ohne Papiere – und das Blut wird erst getestet. Ich dachte, aber immer noch besser als wieder was auf die Fresse zu kriegen.“
„Was heißt das?“
„Das ist doch normal hier im Westen, na, da so in der Drückerkolonne ist doch das Einzige, was de kriegst. Abos an der Tür und so.“
„Haste da mal gearbeitet?“
„Was heißt gearbeitet? Der hat mir 3000 netto versprochen. Der fuhr so’n flotten GTI Cabrio, weißte, war doch ’n Mann mit Erfahrung. Und dann kamen fünf Mann in’ Raum und haben mich verprügelt. Ist doch normal hier im Westen.“
„Haste denn da was unterschrieben?“
„Ja, musste ja, dem andern haben sie die Papiere abgenommen, der hatte schon 20 000 Schulden; Spesen, Essen, Wohnung, alles wird ja abgerechnet. Der hat gesagt: Wenn de noch abhauen kannst, hau so schnell wie möglich ab!
Gegen fünf Mann im dunklen Raum kannste nichts machen. Mein Vater, der war Kampfsoldat, der hätte das mit dreißig aufgenommen, aber ich hab ja nur acht Jahre Kampfsport gemacht. Da kannste nichts machen.“
„Und wie biste da rangekommen?“
„Na, der hat mich doch hier an der Raststätte – wie heißt die denn – Langwedel oder so, mitgenommen und 3000 netto und so.“
„Da haste ja Glück gehabt, dass sie dir nicht die Papiere abnehmen konnten.“
Er lacht.
„Wie man’s nimmt. Aber jetzt geht’s mir gut. Hab ja ’n schönen Apfelkuchen im Bauch. Das Wichtigste sind die Papiere und ’ne Isomatte. Mal so richtig ausschlafen, mal wieder.“
„Soll ich dir eine schenken?“
„Das würdste machen, echt?“
„Ja, ich hab eine hinten drin vom Campen.“
„Ja, wär ja toll.“

Pause.

„Was machst du denn so?“
„Rate mal.“
„Unternehmer.“
„Nee.“
„Manager.“
„Neenee.“
„Elektromechaniker.“
„Nee. Lektor.“
„Was’n das?“
„Naja, so einer, der entscheidet, was für Bücher gemacht werden.“
„Stehste dann an der Druckmaschine?“
„Nee, vorher.“
„Achso, das heißt Lektor, weil de immer Lektüre hast.“
„So ähnlich... Du siehst aber noch ziemlich heil aus, wenn die dich so verprügelt haben.“
„Na, ich hatte lauter blaue Flecke, und dann bin ich nicht wieder hin. Ich hab ja schon zwei Lehren angefangen, und die Treuhand hat die Betriebe dann dichtgemacht.“
„Und wo schläfste?“
„Im Schlafsack, aber der müsste auch mal gewaschen werden, der stinkt nämlich schon.“
Ich sage nichts.
„Bei der neuen Lehrstelle könnte ich aber im Lehrlingsheim wohnen.“
„Aber dafür brauchste die Papiere.“
„Genau.“
„Und dafür die 84 Mark und die Tour nach Finnland. Haste eigentlich schon mal dran gedacht, ’ner Oma die Handtasche wegzunehmen. In so einer Situation kommt man ja schon mal auf ausgefallene Ideen.“
„Nee, auf keinen Fall, ich hab schon mal gedacht, ’n Einbruch zu machen, aber das ist zu gefährlich. Ich hab mal ein Brötchen mitgenommen und dann haben sie mich erwischt, die Polizei hat mich mitgenommen, aber dann wieder laufen lassen.“
„War das im Heim?“
„Na, ich wollt doch rüber. Da oben am Schalsee, ich könnt’ mich so ärgern. Da war ’n Schild: Vorsicht Minenfeld. Aber da waren gar keine Minen, nur ein Zaun und dahinter ein Schild: Hier beginnt das Land Niedersachsen. Aber ich Trottel lauf noch weiter, und dann fragen mich ganz normale Vopos nach dem Ausweis. Aha, willst wohl abhauen. Dabei hab ich noch gar nichts gesagt gehabt. Nur weil ich aus’m Süden komme. Kennste Erfurt?“
„Naja, mal durchgefahren.“
„Mensch, Erfurt hat einen ganz tollen Zoo, mit ’nem schwarzen Panther. Der hat mal ’nem Kind den Arm abgebissen. Das hat ’nen Knack gemacht, als wenn ’ne Bombe explodiert. Ich stand ja daneben.“
„Kein Wunder, schwarze Panther gehören nicht in den Zoo.“
„Das ist ja das gefährlichste Raubtier, was es gibt.“
„Ja, und du hast gesehen, wie der Panther ’nem Kind den Arm abgebissen hat?“
„Das hat vielleicht geschrien, sag ich dir. Und das ging ganz schnell. Panther sind ja so verdammt schnell.“

Pause.

„Woher weißt du eigentlich, dass du in Finnland über die Grenze kommst?“
„Steht doch überall in der Zeitung: Grenzenloses Europa und so. Dann müssen sie einen doch reinlassen.“
„Da bin ich nicht sicher. Gilt das nicht erst ab ’93?“
„Weiß ich nicht, geht ja nich anders. Aber Meiningen ist toll. Da hat sogar der Orientexpress gehalten, und die Grenze war zu wie Fort Knox, da kamste nich durch. Und dann war ich im Jugendknast, und der Schließer kam auch aus Thüringen und hat mir die beste Zelle gegeben – die hatte keine Gitter vorm Fenster, bloß lag die zehn Meter über der Erde – Scheiße.“

Pause.

„Was würdest du eigentlich machen, wenn ich dir hundert Mark geben würde?“
„Na, nach Hause fahren. Die brauchen fünf Tage für die Papiere, haben sie gesagt, würd ich gleich Montag hingehen.“

Und dann hab ich ihn wieder an der Raststätte Langwedel rausgelassen – Richtung Hannover. „Oder willste da nicht raus?“
„Nee, ja, das war doch auf der anderen Seite.“
Als ich an ihm vorbeifahre, reißt er die Arme hoch wie der junge Gerd Müller nach einem Abstaubertor. Er hat mir versprochen, eine Karte zu schreiben, wenn’s geklappt hat.
Aber die kostet dann ja auch schon wieder achtzig Pfennige...



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