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Fredi Saal

Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?

Erfahrungen eines Behinderten

ISBN 978-3-926200-85-3
240 Seiten
Preis 19,95 EUR
zzgl. Versandkosten, inkl. 7,00 % MWSt
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Neuauflage 2011
 
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Über das Buch

Fredi Saal, Jahrgang 1935, hat uns mit diesem Buch seine Lebensgeschichte geschenkt: Als Kind in eine Anstalt für geistig Behinderte gesteckt, als nicht bildungsfähig eingestuft, fand er schließlich als Schriftsteller für schwierige ethische Fragen die richtigen Antworten.
Die Lektüre seiner Geschichte ist atemberaubend – zugleich ein Sittengemälde der Nachkriegsjahrzehnte in der Bundesrepublik: Wie er unter unendlichen Mühen zwischen ebenso vielen behindernden wie hilfreichen Menschen seinen Weg zu sich selbst und seinen Standort in dieser Gesellschaft findet. Im Kampf gegen das Mitleid mit Behinderten hält er den Nichtbehinderten ebenso schonungslos wie liebevoll den Spiegel vor. So wurde er zum Vorkämpfer und Sprachrohr für das Selbstbestimmungsrecht Behinderter.
Dies ist keine Pflicht-, sondern eine Lustlektüre – eben ein Geschenk – für alle, die darum kämpfen, mit ihrer körperlichen, psychischen oder geistigen Behinderung als gleichberechtigte Bürger anerkannt zu werden, für ihre Angehörigen, und für alle Professionellen, die von ihnen leben und als Gegenleistung bereit sind zu lernen, sie nicht ändern zu wollen, sondern sie auf ihrem Weg zu begleiten.

Im September 2010 ist Fredi Saal gestorben. Die Neuauflage seines Buches soll auch helfen, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.

Nachruf Fredi Saal
von Günter Dörr, Köln

Ein Mensch, der tiefe Spuren hinterlassen hat und zuletzt nur noch eines wollte: „Nach Hause“
So teilte uns Helene Saal den Tod ihres Mannes mit, der am 2. September 2010 kurz vor seinem 75. Geburtstag verstorben ist.

Der Tod des Autors gibt dem Verlag Anlass, seinen biografischen Essay von 1992 wieder aufzulegen. Fredi Saals autobiografische Lebensbeschreibung wird nicht ergänzt. Das ist auch nicht nötig, denn seine Aussagen bleiben gültig in einer Gesellschaft, für die der Weg zu Integration und Inklusion immer noch das Ziel ist.
Wer sein Buch in die Hand nimmt, erfährt von den Nöten und von der Befriedung eines Menschen, der sich in einer fremden Welt zurechtfindet und sie zu seiner eigenen macht. Der sprachlose Idiot, dem Ärzte und Pädagogen die Würde nehmen wollten, kommt dank des unerschütterlichen Vertrauens der Mutter zu Wort und Verstand. Jürgen Habermas, selber geburtsbehindert durch eine Gaumenspalte, schildert die Wirkung der Sprachverweigerung und der Kränkungen durch die Umwelt auf den heranwachsenden Menschen: „Der Mensch ist ein Tier, das dank seiner originären Einbettung in ein öffentliches Netzwerk sozialer Beziehungen erst die Kompetenzen entwickelt, die ihn zur Person machen ... Zur Person wird er mit dem Eintritt in den öffentlichen Raum einer sozialen Welt, die ihn mit offenen Armen erwartet. Und dieses Öffentliche des gemeinsam bewohnten Interieurs unserer Lebenswelt ist innen wie außen zugleich.“1

Fredi Saal wurde nicht mit offenen Armen erwartet, seine Familie war erschrocken, seine Umwelt besessen vom tödlichen Mitleid (Klaus Dörner). „Gerade so, als wären behinderte Menschen schon per Definition der Inbegriff geschundener Daseinsbedingung. Weit entfernt davon zu fragen, ob nicht vielleicht erst die allgemeine Einstellung eine Behinderung zur Behinderung macht, vor der dann selbst der Behinderte davonlaufen möchte.“2 Er läuft davon zu den Büchern, wird zum Intellektuellen, der sich einmischt in Debatten, die Andere später zu einer konsistenten Wissenschaft weiter entwickelten. Und immer stand für ihn fest, dass seine Behinderung untrennbarer Bestandteil seines Menschseins ist: „Weil für mich die Behinderung eine Voraussetzung meines individuellen Daseins bedeutet, kann ich gar nicht anders, als sie in jeder Hinsicht auch zu wollen.“3 Er dachte eben weiter. Heute nimmt die Forderung nach ‚Empowerment‘ für Menschen mit Behinderung in der Fachdiskussion einen breiten Raum ein. ‚Die Menschen stärken‘, ‚Ressourcen fördern‘, ‚personale Kompetenzen entwickeln‘ sind Schlagworte, die auf veränderte Handlungskonzepte in der Behindertenversorgung verweisen. Wissenschaftliche Durchformung finden diese Gedanken in den Grundannahmen der Disability Studies. Dafür hat Fredi Saal mit seinem Werk Voraussetzungen entwickelt. Er folgte damit einem Hinweis, den Habermas zur Rolle des Intellektuellen gibt: „Der Intellektuelle soll ungefragt, also ohne Auftrag von irgendeiner Seite, von dem professionellen Wissen, über das er beispielsweise als Philosoph oder Schriftsteller, als Sozialwissenschaftler oder als Physiker verfügt, einen öffentliche Gebrauch machen. Ohne unparteiisch zu sein, soll er sich im Bewusstsein seiner Fallibilität äußern. Er soll sich auf relevante Themen beschränken, sachliche Informationen und möglichst gute Argumente beisteuern, er soll sich also bemühen, das beklagenswerte Niveau diskursiver Auseinandersetzungen zu verbessern.“4

Norberto Bobbio, der große italienische Rechtsphilosoph, hat im Rückblick auf sein Leben die Summe seiner sich selbst gestellten Erwartungen so beschrieben: „Die Unbeugsamkeit des Glaubens an letzte Begründungen zu beobachten war die wichtigste Lehre meines Lebens. Ich habe daraus gelernt, die Ideen anderer zu respektieren, vor dem Geheimnis innezuhalten, das jedes individuelle Bewusstsein birgt, zu verstehen, bevor ich diskutiere, und zu diskutieren, bevor ich verurteile. Und weil mir gerade nach Bekenntnissen zumute ist, mache ich noch eines, vielleicht ein überflüssiges: Ich verabscheue die Fanatiker aus tiefster Seele.“5

Am Ende dieser Spur, die auch seine gewesen sein könnte, ist Fredi Saal „nach Hause“ gekommen.

Günter Dörr


1 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze,
Frankfurt am Main 2005, S. 17/18
2 (Kapitel 2, Eben Ezer und anderswo, S. 18)
3 Saal, Fredi: Leben kann man nur sich selber, Texte 1960-1994, Düsseldorf 1994, S. 85
4 Habermas: a. a. O., S. 26
5 Bobbio, Norberto: Vom Alter – De senectute, Berlin 1997, S. 133

Inhaltsverzeichnis

Vorwort (Klaus Dörner) ... 5
Brief an einen Unbekannten (Einleitung) ... 7
1. Der Anfang (1935) ... 9
2. Eben-Ezer und anderswo – die heimatlose Kinderheimat (1943-1950) ... 14
3. Ribbesbüttel (1950-1952) ... 38
4. Erster Versuch, eine Kinderheimat wiederzufinden (ca. 1965) ... 46
5. Zweiter Versuch, eine Kinderheimat wiederzufinden (ca. 1974) ... 51
6. Im Lehrlingsheim (1953) ... 54
7. Nicht mehr im Heim (ab 1953) ... 56
8. An der Volkshochschule ... 58
9. Erste Schreibversuche (1955) ... 61
10. Onkel Helmut (ca. 1956) ... 62
11. Auf der Suche nach Erwerbsarbeit (ab 1957) ... 66
12. In der Schweiz (1957) ... 68
13. Der Freundschaftskreis (1958) ... 72
14. Mutter Ãœbel (1958) ... 82
15. Was ist Behinderung? Nachträgliche Reflexion (ca. 1974) ... 84
16. Im Freundschaftsheim Bückeburg (1958) ... 94
17. Aglaja (1958) ... 98
18. Wie erlebt sich der Behinderte? ... 105
19. Immer noch auf der Suche nach bezahlter Arbeit (1959-1960) ... 115
20. Judica (1958) ... 127
21. Sprengel (1960-1974) ... 132
22. Lebensbewältigungsversuche (ab 1960) ... 142
23. Wohn- und Lebensgemeinschaften (1961 und 1978) ... 149
24. Das Spiel als Lebenselement ... 158
25. Behinderung als „Schwarzer Peter“ (ca. 1980) ... 164
26. Unsicherheiten (1965) ... 169
27. Greta oder das große Erschrecken (1969) ... 173
28. Behinderte Freundinnen (seit 1950) ... 181
29. Weitere Reflexionen ... 185
30. Der Schonraum (1972/73) ... 194
31. „Flirtet er schon wieder?“ – Ein Klinik-Tagebuch (1972/73) ... 202
32. Die Zeit danach (ab 1973) ... 222
33. Einige Gedanken zum Schluß ... 231
Nachruf (Günter Dörr) ... 238

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