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Brückenschlag Band 10, 1994

Leseprobe

Richard von Weizsäcker

„Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein. Manche Menschen sind blind oder taub, andere haben Lernschwierigkeiten, eine geistige oder körperliche Behinderung – aber es gibt auch Menschen ohne Humor, ewige Pessimisten, unsoziale oder sogar gewalttätige Männer und Frauen.
Daß Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefaßt wird, das ist ein Ziel, um das es gehen muß. In der Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja, die bestraft wird. Es ist eine schwere, aber notwendige, eine gemeinsame Aufgabe für uns alle, diese Benachteiligung zu überwinden. (...)
Bei den Ausschreitungen gegen ausländische Mitbürger wurde erkennbar, daß Jugendliche manchmal nur das Denken der Erwachsenen radikalisieren und dann mit Gewalt vertreten. Solche Mitverantwortlichkeit vieler scheinbar Unbeteiligter für die Verbrechen einiger weniger klagt die Gesellschaft an.
Behindertenfeindlichkeit ist nicht das Problem von Sozialarbeitern, von Gerichten und von Jugendgefängnissen, sondern wir alle, jeder einzeln kann bewußt oder unbewußt zu dem Klima beitragen, in dem sie um sich greifen oder überwunden werden kann.“
Aus einer Rede, 1993


Monika Schweinsberg

Kontrolle ist besser

Es handelt sich um die Kleinigkeit, seiner vierteljährlichen Pflicht nachzukommen, bei der Verwaltung der Arbeitslosigkeit den Tatsachen Nachdruck zu verleihen. Zum Beispiel: daß man nicht gestorben ist, noch im vollen Besitz seiner beiden Beine und Arme und im Übrigen noch den Geist für die verbleibenden Kleinigkeiten aufbringt: Sozialversicherungsausweis, Lohnsteuerkarte abzugeben, und es sich möglichst genau zu merken, daß und wann.
Da ich nicht imstande bin, das Plastikgehäuse des Arbeitslosenverwalters PC zu durchdringen, genauso wie der nicht meine Jackentasche durchdringen kann, ob ich auch meinen Personalausweis mit mir führe, kann ich nur phantasieren, was außer den erwähnten Kleinigkeiten er dort wohl über meine Wenigkeit gespeichert haben mag. Die wohl nicht. Sonst müsste er mich ja nicht danach fragen. Zuweilen funktioniert auch mein ganz und gar programmloses Gedächtnis, und ich versichere ihm felsenfest, daß ich den Sozialversicherungsausweis, zwar nicht auf den Tag genau, aber mit Gewissenhaftigkeit, vor anderthalb Jahren ihm daselbst ausge- oder, wie er will, eingehändigt habe. Er geht nach neben-an und kehrt mit einem durchsichtigen Plastiktütchen von der Spurensicherung zurück, worin sich besagter Ausweis und die Lohnsteuerkarte 1993 befinden. Ich bin beruhigt, sie zu sehen, aber offensichtlich beunruhigt ihn mein nun zufriedenes Gesicht, auf das er ab und zu mal einen prüfenden Blick wirft. Er will auch die diesjährige Lohnsteuerkarte ausge-bzw. eingehändigt bekommen. Meine Hand ist in meiner Jackentasche, und in meiner Hand ist mein Personalausweis, den ich schon die ganze Weile, die ich hier sitze, vorzuzeigen geneigt bin. Ich bin fast soweit, ihn zu fragen, ob er den nicht auch einziehen will, für den Fall, ich würde unbotmäßig das Land verlassen wollen, um bei der Weinernte ein paar schwarze Francs zu verdienen. Aber auf solche Ideen soll man die Verwalter dieser und anderer sozialer Probleme nicht bringen. Fiktion und Realität liegen heute so dicht beieinander, daß die letzte die erste erübrigt. Es genügte ihm aber, meine rosa Besucherkarte gesehen zu haben, und außerdem legt er großen Wert auf die Einhändigung der aktuellen Lohnsteuerkarte, die ich vergessen habe. Da er in meinem nun wieder beunruhigten Gesicht nicht sehen kann, dass ich mir gerade die Vorstellung der Lohnsteuerkarte 1994 heraufbeschwöre, die sich daheim, zwischen den anderen Kleinigkeiten meiner Unterlagen, befindet, kann er nicht nachprüfen, dass die entsprechenden Spalten für die Abgaben vom nicht vorhandenen Bruttoeinkommen noch völlig unbearbeitet sind. Er fordert mich, mit dem Hinweis auf die Gefährdung meines steuerfreien Bezuges von Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, nachdrücklich auf, ihm jene sofort beizubringen: "Dann gehen Sie jetzt nach Hause und holen sie gleich!" Offenbar ist ihm klar, dass ich nur einen zwanzigminütigen Fußweg zurückzulegen habe. Ich bin einen Moment lang versucht, dieser Aufforderung auch gleich nachzukommen, besinne mich aber rechtzeitig auf die Tatsache, dass der vierteljährliche Tag X meines Besuches unbedingt in seinem PC gespeichert werden muß. Vorausgestzt ich habe mit der für meine Vermittlung zuständigen Verwaltungsperson Rücksprache genommen, wozu ich bei der die Anmeldung verwaltenden Person gerade vorspreche. Also bestehe ich darauf, umgehend der Vermittlungsverwaltungsperson angemeldet zu werden und versichere ausdrücklich, spätestens übermorgen geforderte Unterlage zwecks Eintütung zur Spurensicherung nachzureichen. Während ich das Zimmer verlasse, um wieder auf dem Flur Platz zu nehmen, gebe ich mir Mühe, meinen inneren Triumph über diesen Erfolg nicht allzu klar zum Ausdruck kommen zu lassen.
Die Gefährdung meiner steuerfreien Bezüge lassen mir bis zum anderen Morgen keine Ruhe, und ich verzichte lieber auf das stoische Übermorgen. Ich bin ja schon froh, meine vorige Lohnsteuerkarte ohne Umstände zurückerhalten zu haben. Da geht es mir wie anderen Menschen auch, die sich beunruhigen, wenn sie persönliche Dokumente aus der Hand geben müssen. Verwaltungspersonen sind auch nur Menschen.
Die Lohnsteuer- und die Besucherkarte – eine Gnade ist es, kommen zu dürfen -, halte ich gut sichtbar für jedermann in der Hand und stelle die obligatorische Frage: "Wer ist der Letzte bei der Anmeldung?" Es schauen mich zwanzig fragende Gesichter an. Das müssen alles Neuarbeitslose sein. Vielleicht hat heute ein kleiner Verlag Konkurs angemeldet. Zögernd gibt sich endlich ein Herr in den Fünfzigern, mit graublauer krawatte, zu erkennen. Das wird der stellvertretende Verlagsleiter sein. Die vor ihm, vom Lektor abwärts bis zur Putzfrau, die als nächste vor der Anmeldung steht, gekommen sind, sind so unsicher wie ratlos, dass sie dauernd aufspringen, wenn die Tür sich öffnet. Die nach mir kommen, können auch nicht ahnen, woher man wissen könnte, wer der nächst bitte sei. Hier könnte man unter der Obhut des allmächtigen Verwaltungsauges gut ein paar schwarze Mark verdienen, indem man sich vor der tür postierte – als inoffizieller Mitarbeiter quasi – und Entreebillets für die Nächsten und Letzten verkaufte. Aber man soll die Menschen nicht auf solche Gedanken bringen.


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