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Brückenschlag Band 30, 2014

Leseprobe

Andreas Manteufel

Ich glaube, ich arbeite in einer Nische

Von außen sieht die Klinik, dieses große Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie, nicht nach einer Nische aus. Die Anlage ist weitläufig und nimmt viel Raum zwischen viel befahrenen Straßen ein. Das Krankenhaus hat eine eigene Straßenbahnhaltestelle und ist einer der größten Arbeitgeber dieser Stadt.
Gleichzeitig kennt jeder das unverhohlene Zusammenzucken, wenn über Psychiatrie gesprochen wird, ein immer noch schambesetztes Thema. Der Volksmund erfindet daher ausweichende Namen für die „Anstalt“. So wurde bei uns früher die Postadresse als Synonym ausgesprochen. „Der muss mal in die Kölnstraße“ hieß beispielsweise, dass jemandem eine fachpsychiatrische Behandlung gut tun würde. Auch wenn sich die Adresse vor Jahrzehnten schon geändert hat, wissen die meisten Bonner noch genau, was mit „Kölnstraße“ über den seelischen Zustand eines Mitbürgers ausgedrückt werden soll – obwohl „Kaiser-Karl-Ring“ doch eigentlich viel schöner klingen würde! Aber Nischen sind ja häufig unscheinbare oder gar hässliche Orte, zu denen es die einen hinzieht, während sich andere abgestoßen fühlen. Die Drogenszene am Bahnhof, der Punkertreff am flaschenübersäten Brunnen sind Beispiele oder auch die Erfahrung, dass auf einer Party nicht das festlich bereitete Wohnzimmer, sondern die unaufgeräumte Küche der beliebteste Treffpunkt zum Small Talk ist.

Damit wären wir auch schon bei der Innenperspektive der „LVR-Klinik Bonn“. Natürlich verfügt eine so große Anlage, die in über hundert Jahren aus allen möglichen Bestandteilen, von der Backsteinhütte bis zum Betonklotz, zusammengewachsen ist, über unzählige abgelegene, versteckte und eng umgrenzte Nischen, für die gilt: Die einen zieht es dorthin, die anderen machen einen Bogen darum. Seit die Klinik im Inneren rauchfrei ist, finden sich im Gelände kleine, überdachte „Pavillons“, die zum Rauchen, auch bei Wind und Wetter, einladen, sogar eine Patientin unserer Station, die inmitten dieses asthmatischen Binnenklimas ihren ehemaligen Mitraucherinnen und Mitrauchern stolz von den Erfolgen ihrer neuen Abstinenz berichtet. Solche Nischen haben etwas mit Gruppenerfahrung zu tun. Auch meine rauchenden Kolleginnen und Kollegen genießen ihre Zigarette in der Regel im Kollektiv, egal wie eng der Platz zwischen Feuertreppe und Notausgang auch sein mag. Als die Leitung vor vielen Jahren das Rauchen in den Aufenthaltsräumen der Stationen, in denen auch die Mahlzeiten eingenommen wurden, untersagte, beklagten viele erfahrene Pflegekräfte, dass sie dadurch den Kontakt zu den Patienten verlieren würden. Die Raucherzimmer, die es damals noch gab, wurden zum beliebtesten Aufenthaltsraum und die Patienten verschwanden tatsächlich aus dem Blick des Personals.

Wir kennen auch die Suche nach einer „einsamen Nische“. Viele Menschen bei uns finden solche Orte, die ihnen, auch ohne Platzkarte, intuitiv von anderen zugestanden werden. Das gilt auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Einige nehmen zum Beispiel ihr Essen in der Kantine bewusst abseits der anderen ein. Beliebte Rückzugsorte für unsere Patienten sind die Sitzecken der Vorräume zwischen den Stationen. Wer hier sitzt, verpasst nichts, ohne sich beteiligen zu müssen. Diese Nische signalisiert vielleicht das Dilemma zwischen Dazugehören-Wollen und Distanzbedürfnis.

Löst man sich von der geografischen Realität einer Nische, so ist zum Beispiel für mich die kleine Kaffeepause zwischendurch eine Nische, eine „Zeitnische“ zwischen den großen Terminen, ein Innehalten und Durchatmen, sei es im Rahmen eines fachlichen Kurzaustausches, sei es auch mal alleine. Mit dieser „Espresso-Strategie“ (Hans Kreis: Die Espresso-Strategie, oder wie ich lernte, das Leben wieder zu lieben. Vom großen Geheimnis der kleinen Pause. Bielefeld, Kamphausen-Verlag, 2010) gewinnen der Arbeitstag Struktur und Rhythmus und mein Kopf eine immer wieder erforderliche Auffrischung.
Von unseren Patientinnen und Patienten weiß ich, dass einzelne therapeutische Angebote immer wieder als „heilsame Nische“ erlebt werden. Das mag die Vertiefung in handwerkliches Arbeiten sein, die Genuss- oder Achtsamkeitsgruppe, natürlich auch der Sport oder das Angebot eines ruhigen Einzelgesprächs.

In meinen ersten Berufsjahren in der Klinik staunte ich über eine betagte Patientin, die jahrelang auf einer geschlossenen Station verweilte, ohne sich aber als „Insassin“ zu fühlen. Sie räumte tagein tagaus die Küche auf und war mit dem Status der „Küchenhilfe“ ganz zufrieden. Meistens schimpfte sie dabei über die Unordentlichkeit ihrer Mitmenschen. Das Personal und sie selbst lebten gut mit dieser inoffiziellen Nischenexistenz, für die es im heutigen System einer Akutklinik keinen Platz mehr gibt. Es sei denn, wir sind bereit, so manches Wahnsystem im Sinne einer „Nebenexistenz“ zu bewerten, die zwar nicht im realen Leben, aber immerhin in der subjektiven Vorstellung von Realität einen Platz bekommt.

In mancher Hinsicht gewährt die Psychiatrie der Gesellschaft Nischen. „Wenn nichts mehr geht …“, dann wird so mancher von seinen Angehörigen oder ratlosen Ärzten zu uns gebracht. Menschen, die „nicht wissen, wohin mit mir“, suchen von sich aus bei uns „Aufnahme“. Manchmal haben wir den Eindruck, dass der Psychiatrieaufenthalt nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern gerade für diejenigen, die mit ihnen überfordert sind, eine willkommene Lösung sein soll. Das geflügelte Wort vom „Abschieben in die Psychiatrie“ wird leider immer wieder mal bestätigt. Und der Weg zurück ist häufig ungleich schwerer als der Weg zu uns. Aber manchmal ist es auch unumgänglich, eine für alle Beteiligten völlig überfordernde häusliche Situation zu stoppen, und die Klinikaufnahme gewinnt die Funktion des „Unterbrechers“. Das sind die Chancen und auch Gefahren der Nische Psychiatrie.

Die Psychiatrie ist also selbst in vielerlei Hinsicht eine Nische in der Gesellschaft. Und die Psychiatrie gewährt Nischen, für ratlose Menschen ebenso wie für unorthodoxe Behandlungsansätze. Kreativtherapien (Musik, Tanz, Theater, Kunst), Therapiehunde, Hausbesuche, Akupunktur, ein afrikanischer Trommelkurs – das alles haben oder hatten wir schon im Angebot, so wenig es auch mit dem psychiatrischen Mainstream zu tun hat.

Wie steht es mit der Sozialpsychiatrie als Nische? Häufig haben die Treffpunkte für psychisch Kranke räumlich und atmosphärisch diesen besonderen Nischencharakter, der für die einen anziehend, für andere gerade abschreckend ist. „Da gehen ja nur Kranke hin“, so argumentieren viele aus der Zielgruppe eines Sozialpsychiatrischen Zentrums gegen alle Motivationsversuche unsererseits. Und es wird ja auch kontrovers diskutiert, zum Beispiel unter dem Inklusionsgedanken, inwieweit die Nische nicht nur Ruhe und Schutz bietet, sondern auch zur Stigmatisierung und zur „Exklusion“ aus der Gesellschaft beiträgt.

Die Nischen-Metapher lädt, das ist meinem Beitrag wohl anzumerken, dazu ein, die Rolle der Psychiatrie in der Gesellschaft zu reflektieren. Die vielfältigen gesellschaftlichen Bezüge machen das Fachgebiet Psychiatrie, das ja selbst innerhalb der Medizin gegen das Image der Randständigkeit zu kämpfen hat, besonders interessant. Wie geht eine Gesellschaft mit ihren Rändern, mit Abweichungen und Schwäche um? Wie organisiert sie den Spagat zwischen Hilfestellung und Autonomie bei denjenigen Mitgliedern, die nicht mithalten können. Wie zieht sie die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit jenseits körperlich messbarer Kriterien? Welche Rolle spielen übertriebene Erwartungen, Wettbewerb und Leistungsdruck im Beruf und in anderen gesellschaftlichen Bereichen am Zusammenbruch so mancher Nervenkostüme? Wo produziert die Gesellschaft „Krankheit“ als Wirtschaftsfaktor, mit dem sich auch Geld verdienen lässt, und wo ignoriert sie die Hilferufe derjenigen, die ihre Solidarität benötigen, auch wenn sie nichts dafür bezahlen können? Wo grenzt Psychiatrie Menschen aus, wo fängt sie sie ein? Wie zeitsensibel all diese Fragen sind, wird deutlich, wenn man sich mit der Geschichte des Fachs beschäftigt, nicht zuletzt mit der schlimmsten Phase in der Zeit des Nationalsozialismus.

Sozialpsychiatrie ist für mich eine Geisteshaltung, die all diese Fragen mit berücksichtigt. Das bedeutet natürlich auch, die Nische des eigenen Arbeitsplatzes verlassen zu können und den Blick in Richtung dieser sozialen Bezüge des Faches zu richten. Für die Arbeit mit den Patienten bedeutet das auch, auf die Angehörigen, die Familien, die Arbeitssituation, den Freundeskreis, das Lebensumfeld zu schauen, über die Erfahrungen mit Haltungen, Wertungen, Ein- und Ausgrenzungen psychischer Krankheit zu sprechen und im besten Fall all diese vielen Gruppen auch miteinander ins Gespräch zu bringen. Das bedeutet, psychiatrische Themen in die öffentliche Diskussion zu bringen und gesellschaftliche Themen in die Psychiatrie. Jemanden mit einer Tagesstätte in Kontakt zu bringen, so wichtig das ist, ist noch keine Sozialpsychiatrie. Das merke ich an, weil der Begriff Sozialpsychiatrie auch bei uns bisweilen sehr schnell Verwendung findet, wenn es eigentlich erst mal darum geht, wohin man die Zuständigkeit für einen Patientin verlagern kann.

Um den Kreisel der Paradoxie zum Abschluss noch einmal zu drehen: Echte Sozialpsychiatrie, die den Blick über den Tellerrand lenkt, ist selbst eine Nische innerhalb der akademischen und institutionalisierten Psychiatrie, in der viel mehr von ICD und DSM (den wissenschaftlichen Diagnosesystemen), von Synapsen und Genen, von finanziellen Zwängen und zertifizierter Qualität die Rede ist. Das muss zwar auch sein, ist aber ehrlich gesagt viel langweiliger.

Und: Ich glaube, dieser Text erscheint in einer literarischen Nische.


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