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Brückenschlag Band 7, 1991

Leseprobe

Andreas Pohl

Lösung

Wenn sie die Bewegung der übereinander liegenden Zeiger nicht mehr aushielt, blickte sie auf die Mitte des Ziffernblattes. Dort standen alle Zeiger still. Selbst der lange dünne. Seine beiden Brüder waren dicker und gemächlicher. Schaute Meta sie an, dann verhielten sie in ihrer Bewegung, wenigst für diesen Moment.
Sie schaute die beiden oft an. Besonders nachts. Dann leuchteten die Phosphorstreifen an ihren Spitzen.
Der lange dünne hatte keinen solchen Streifen. Dafür hörte sie ihn in der Dunkelheit. Er lief im Kreis, sprang von Strich zu Strich, von Sekunde zu Sekunde. Wenn er sich von einem Strich zum nächsten begab, schien er erst zu zögern, so lange, bis sein Körper genau zwischen zwei Strichen schwebte. Dann sprang er mit einem Zucken weiter. Ein leises Klicken ertönte. Nachts vernahm Meta dieses leise regelmäßige Klicken und sah die Phosphorstreifen. Schon als kleines Mädchen hatte sie dem Rhythmus ihrer Schritte gelauscht, sich zu ihm Melodien ausgedacht und sie laut oder in Gedanken gesummt. Das Klicken ersetzte ihr nun die Schritte. In Gedanken erklangen die alten Melodien.
Manchmal hörte sie nachts im Traum ihr Herz rasend schnell schlagen. Erwachte sie dann schweißgebadet, beruhigte das Klicken ihr Herz sofort. Neben der Uhr stand ein Wasserglas, das aus Kreisen bestand. Ein Kreis, auf dem der Glaskörper stand, einer, der die Oberfläche des Inhalts umschloß und einer, der Trinkrand hieß. Die Gürtellinie, wie Meta den Ring der Oberfläche für sich nannte, sank und stieg, stand in Beziehung zu Neige und Überfluß. Beides waren Extreme, die die Schwestern nicht zuließen. Sie schenkten nach und halfen trinken und erschöpften sich dabei.
Anfangs waren die Schwestern entsetzt gewesen, als Meta jedes Getränk außer Wasser ablehnte. Später hatten sie es hingenommen.
Metas Augen mochten das Wasser. Es fing die Farben des Zimmers in sich und kleidete sie in neue geometrische Formen. Schien die Sonne auf das Glas, strahlten die Farben dort heller, als an ihrem Ursprungsort. Solange Meta ihren Kopf nicht bewegte, waren die Formen im Glas fest. Verrückte sie ihn jedoch, wurden sie flüssig, wie das Medium, in dem sie schwammen, verliefen über- und ineinander, bis Metas Kopf eine neue Position gefunden hatte. Dann war vor ihren Augen ein neues Bild entstanden.
Während der Dämmerung sah Meta jeden Tag für einige Zeit ihr Spiegelbild im oberen wasserlosen Teil des Glases. Ihre Nase erschien ihr darin unnatürlich groß. Die Ohren aber, die, wie sie wußte, im Alter sehr gewachsen waren, nahmen sich nur als Zipfel aus.
Jede Stunde kam eine Schwester, ihr aus dem Glas einen Schluck zu trinken zu geben. Wenn die roten Fingernägel das Glas berührten, löste sich ein heller Klang.
Etwas schräg hinter dem Wasserglas lag ein Buch in einem tiefblauen Kartoneinband. Die Kühle des Blaus paßte gut zu dem Wasserglas.
Auf dem blauen Untergrund stand in weißen, schnörkellosen Buchstaben das Wort „Losung“ und die Jahreszahl.
Morgens wurde das Buch geöffnet und die Schwester las ihr die Losung für den Tag vor.
Meta nahm diese Worte und verwob sie mit dem Rhythmus der zitternden Zeiger, den geometrischen Formen und dem kühlen Blau.

Damit füllte sie ihr Warten aus.



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