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Brückenschlag Band 21, 2005

Leseprobe

Andreas Gehrke & Jürgen Blume

Editorial: Stimmen – Hören

Zunächst: Wir sind überwältigt. Überwältigt von der Anzahl und der Vielfältigkeit der Beiträge, die uns zum Thema „Stimmen hören“ erreichten. Und betrübt darüber, dass wir viele Texte
nicht veröffentlichen können, die auch lesenswert gewesen wären.

Beim Lesen erlebten wir dann wohl etwas Ähnliches, wie es Marius Romme und Sandra Escher vor zehn Jahren erging, als sie im Fernsehen Stimmenhörende aufriefen zu berichten und ebenfalls von der Vielfalt und individuellen Besonderheit der Erfahrungsberichte überrascht wurden.
Wir haben versucht, eine Auswahl zu treffen, die möglichst viele Aspekte des Themas vorstellt und auch der Form nach auf unterschiedliche Lesebedürfnisse eingeht:
Da sind Therapievorschläge, die helfen sollen, zum Verständnis der Stimmen zu gelangen. Und Grundsätze zum Umgang mit ihnen.
Da sind historische Rückblicke zu Woyzek und zu Bernadette, auch auf biblische Geschichte. Sie machen deutlich, dass Stimmenhören überhaupt kein neues Phänomen ist.
Andere Beiträge zeigen aber, dass wir seit einigen Jahren einen neuen Umgang mit diesem Phänomen lernen und erarbeiten.

Viele Menschen leben mit Stimmen. Insbesondere auch Kinder sind betroffen. Die Stimmen verschwinden wieder oder begleiten Menschen über viele Jahre. Bei manchen Menschen gibt es Verbindungen zu Psychosen, treiben Stimmen in die Krankheit. Zuweilen macht aber auch die psychiatrische Behandlung erst krank.

Sie werden in diesem Brückenschlag eine breite Palette von Umgangsweisen mit Stimmen kennen lernen: Versuche, die nach mancher Mühsal zum individuell angemessenen Umgang geführt haben. Auch Texte, in denen die Angst vor der Rückkehr der Stimmen die Sätze durchzieht, u.a. weil die Berichtenden die Erfahrung machen mussten, dass Therapeuten, Ärzte u.a. (und auch die Angehörigen) zu wenig zuhörten, die Stimmen nicht ernst nahmen. Nicht ernst nahmen, was die Stimmen sagten. Der Respekt fehlte. Und wenn man in einer solchen Umgebung mit Stimmen effektiv umgehen will, dann ist das kein leichter Weg.

Verschiedene Beiträge zeigen, dass sich in den letzten Jahren viel getan hat in Bezug auf ein neues Verständnis des Stimmenhörens – in und auch jenseits psychiatrischer Institutionen.
Vorreiter in Deutschland war und ist dabei das Netzwerk Stimmenhören e.V. In ihm gibt es mittlerweile diverse Anlaufstellen in Deutschland. Das Besondere: Diese Selbsthilfeorganisation ist von Anfang an als „Trialog“von Stimmenhörenden, ihren Angehörigen und den Profis gedacht und gelebt worden.

Medikamente können hilfreich sein, wenn die Stimmen allzu heftig, aggressiv, bestimmend werden. Die persönliche Auseinandersetzung mit ihnen, ihren Aussagen und Forderungen, auch ihrem Verwirrspiel im Kopf, können sie nicht ersetzen.

Wir möchten in diesem Brückenschlag die Türen öffnen für die vielfältigen Wahrnehmungsformen von Stimmen hörenden Menschen und Äußerungen übers Stimmenhören.

Der Alltag wird zunehmend durch die Auseinandersetzung mit Stimmen und durch die Verständigung der Stimmenhörenden untereinander geprägt, aber auch durch das Zuhören und Sprechen mit ihren Angehörigen, sowie das sich Einlassen der Profis auf dieses besondere Phänomen. Eine solche Arbeit findet auch international in verschiedenen Netzwerken statt. Unter anderem kann man diese Arbeit in Deutschland im vierteljährlich erscheinenden „Kleinen Stimmenhörer-Journal“ des Netzwerk Stimmenhören e.V. nachlesen.

Wir bedanken uns herzlich bei allen, die Ihre Erfahrungen zu diesem Brückenschlag beigetragen haben und freuen uns auf Reaktionen und die weitere Diskusssion.
Es tut sich was, das hoffen lässt – nicht nur in der Psychiatrie ...



Helga Sommer

Es war so anders und doch so vertraut

Seit 1990 sehe und höre ich etwas, was für andere in meiner Nähe nicht wahrnehmbar ist. Diese Wahrnehmungen sind sehr verschieden und finden in großen Abständen statt. Manchmal sind es Stimmen aus meiner Kindheit in Form von Dialogen, die ich einmal erlebt habe. Auch Bilder aus meiner Kindheit habe ich gesehen. Ich habe mich aber selbst gesehen, so, als würde ein anderer mich und mein Handeln betrachten. Dadurch habe ich herausgefunden, dass ich als Kind von meinem Vater sexuell missbraucht worden bin. Später kamen Stimmen von verstorbenen Verwandten, von Maria, Jesus und anderen dazu. Einige Stimmen habe ich erkannt, andere habe ich gefragt, wer sie sind. Die meisten Stimmen wollten mir helfen.
Zuerst habe ich die Stimmen während einer Psychotherapie gehört. Ich wollte mit Hilfe eines Therapeuten herausfinden, warum ich oft in Panik gerate.
Wir haben deshalb in meiner Kindheit nach einem Trauma gesucht. Bis dahin habe ich gar nicht gewusst, wie schlimm meine Kindheitserlebnisse für meine Seele waren. Für mich war meine Kindheit die Normalität. Den Missbrauch durch meinen Vater hatte ich total verdrängt.
Jetzt hatte ich zwar keine Panik mehr, dafür hörte ich Stimmen, wenn ich große Angst hatte. Das bedeutete Psychiatrie. Dort bekam ich dann Neuroleptika, was den Stimmen aber nichts ausgemacht hat.
Erst als ich wusste, dass die Gefahr, in der ich zu sein glaubte, vorbei war, haben sich die Stimmen von mir verabschiedet.
Sie sagten, dass ich sie nun nicht mehr brauche.
Das ist nun fünf Jahre her.
Seitdem habe ich mich mit dem Stimmenhören beschäftigt. Ich habe mich gefragt, was ich während des Stimmenhörens wahrgenommen habe. Wie ich das alles erlebt habe.
Ich wusste die ganze Zeit, wer ich bin und was ich tue. Anfangs hatte ich Angst, verrückt zu werden. Weil das ja eine weit verbreitete Meinung ist. Aber dann habe ich mich entschlossen, die Sache zu ergründen. Ich habe mit den Stimmen geredet. Sie haben mir gesagt, wer sie sind und dass es schwer ist, mich zu erreichen. Manchmal waren die Stimmen sehr leise und ich habe nicht alles verstanden. Außerdem habe ich ein helles Licht wahrgenommen. Meistens hatte ich den Eindruck, dass dort sehr viele Wesen waren. Es ist schwer zu erklären. Es war so anders und doch so vertraut.
Trotzdem habe ich nie den Sinn für die Realität verloren.
Ich habe es auch geschafft, von den Medikamenten wegzukommen. Das ist nicht leicht, die Medikamente haben so ihre Tücken. Deshalb werde ich es nie mehr einem Psychiater erzählen, wenn ich Stimmen höre.
Nach meiner Erfahrung ist Stimmenhören eine Möglichkeit für Wesen aus einer anderen Welt, mit uns Kontakt aufzunehmen. In der Physik ist man dabei zu erkennen, dass es mehrere Dimensionen geben kann. Wir können schon heute über große Entfernungen Bilder und Sprache senden und empfangen. Wir können und wissen heute vieles, was vor noch gar nicht langer Zeit noch Utopie war.
Ich habe auch erlebt, dass es möglich ist, dass die Seele den Körper verlassen kann. Die Ärzte glauben zu wissen, was dabei in unserem Gehirn abläuft. Aber wissen sie auch, was das bedeutet? Und warum das möglich ist?
Stimmenhören gab es schon immer und wird es auch weiter geben. Aber einmal werden wir verstehen, was es bedeutet, was Stimmenhören möglich macht.
Wir wissen viel, aber wir wissen so vieles noch nicht. Vor allem verstehen wir die Zusammenhänge noch nicht.


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