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Wir sind weit miteinander gegangen

Leseprobe

Fritz Bremer: Lasst uns einen Moment bei der Zeit verweilen. Ist sie nicht „zurzeit“ die knappste Ressource überhaupt?

Renate Schernus: Das angebliche oder tatsächliche Fehlen von Zeit ist eine Seite des Problems. Aber das ganze Problem scheint mir mit einem generellen Missverständnis davon, was Zeit eigentlich ist, zusammenzuhängen. Wenn man in der Psychiatrie nur einen physikalischen Begriff von Zeit hat, wo sich eins ans andere reihen lässt, wie die Dinge im Raum, dann kann sich daraus ja gar kein biografisches Verständnis entwickeln, denn in einer gelebten Geschichte gibt es solche abgehackten Bausteine oder Module in einem reinen Nacheinander nicht. In gelebter Zeit ist nichts ganz vergangen, ist in Gegenwart und Zukunft immer mitgegeben. Eben deshalb ist das Erzählen von Geschichten viel wichtiger als jedes Messen oder sonstige lineare Konstruktionen.

Fritz Bremer: Also – es läuft auf die Frage hinaus, was Zeit im subjektiven Erleben überhaupt ist? Depressive Zeit? Normalzeit? Wohlbefinden-Zeit? Psychotische Zeit? Was sagt deine Erfahrung, Sibylle?

Sibylle Prins: Ein verändertes Zeiterleben ist eines der hervorstechendsten Merkmale meiner Psychosen. Ich hatte schon mal den Gedanken, ob Psychosen etwas damit zu tun haben könnten, mit gelebten oder vorgegebenen Zeitstrukturen nicht zurechtzukommen. In der Phase nach der Psychose ist Zeit noch mal ein ganz anderes Problem: mein ganzes Tun und Denken läuft dann quasi in Zeitlupe ab. In meiner Umgebung scheint mir alles viel zu schnell zu gehen, ich habe dann das Gefühl, sehr unter Druck zu geraten, bei diesem Tempo mithalten zu müssen. Der eigentlich drängendste Punkt war aber die Frage: womit verbringe ich meine Lebenszeit? Mit Nichtstun, mit für mich sinnlosen Beschäftigungen, mit dem, was andere für mich vorgeben – oder kann es gelingen, das bisschen Zeit, das ich habe, zu nutzen für etwas, was mir am Ende meiner Zeit das Gefühl geben wird: ich habe gelebt!

Fritz Bremer: Von der einfach erscheinenden Kritik über den Mangel an Zeit sind wir bei einem philosophischen Thema angekommen. Sind es aber nicht einfach äußere Zwänge, die bewirken, dass Mitarbeiter, ganz gleich in welcher Profession, immer weniger Zeit haben für den Umgang mit Menschen, für Gespräche? Sie stehen unter Druck. Sie haben Tag für Tag so unglaublich viel zusätzliche formale, bürokratische Aufgaben zu erledigen ...

Renate Schernus: Na ja, das stimmt einerseits. Ich beobachte das auch und bedaure es. Aber es gehören zum Druck immer zwei. Einer, der Druck macht, und einer, der sich unter Druck setzen lässt. Um damit klarzukommen, brauchen wir mehr tieferes Nachdenken. Ein Zenmeister würde vielleicht sagen: Hast du keine Zeit, dann mache einen Umweg.

Sibylle Prins: Oft können sowohl Behandelnde als auch Angehörige die in ihren Augen zu langen Zeiträume, die ich oder andere Psychiatrie-Erfahrene für eine Besserung brauchen, nicht gut aushalten. Die Kostenträger schon mal gar nicht, denn diese wandeln die Zeit um in etwas anderes. Für sie gilt der Satz: „Zeit ist Geld“. Und das eben ist völlig fatal. Zeit ist eben kein Geld, sondern ganz etwas anderes. Das sind eigentlich zwei völlig verschiedene Lebenskategorien. Es müsste klar werden, dass in manchen Bereichen dieser Satz nicht gelten darf, und die reine, nicht in Geld konvertierbare Zeit die eigentlich wichtige und notwendige Ressource ist, alles andere Unmenschlichkeit bedeutet. Zeit, die man einem Menschen lässt, Zeit, die man ihm gibt und widmet – Geduld ist zum Beispiel manchmal das größte Geschenk, das man einem Menschen machen kann. Was nicht heißen soll, dass es nicht auch Situationen gibt, in denen man die Dinge ein wenig beschleunigen sollte, oder in denen Zeit in ungutem Sinne verschwendet wird – für mich zum Beispiel, wenn ich vier Stunden in einem Wartezimmer warten muss oder mir wurde damals, nach meiner Ersterkrankung, gesagt, auf ein Erstgespräch bei der Rehabilitationsabteilung des Arbeitsamtes müsse ich zwanzig Wochen warten.


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