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„Liebster Fabian, deine Mutter ist sehr krank ...“

Leseprobe

Jetzt ist es also so weit
Eines Abends gegen 22.00 Uhr rief Michael an, ich solle Julia bitte sofort abholen. Er hatte genug! Ich lud ihre wenigen noch übrig gebliebenen Habseligkeiten in fünf Plastiktüten in mein kleines Auto und hielt unterwegs bei einem Türken, um ihr einen Döner zu kaufen, den sie zur Hälfte gierig im Auto verschlang, dann konnte sie nicht mehr weiter essen, sie war total ausgehungert, aber ihr Magen war geschrumpft.
Bei Gericht wurde ich befragt, ob ich bereit sei, die Pflegschaft für Julia zu übernehmen – es gäbe leider wenig ehrenamtliche Personen, die dazu bereit wären. Natürlich würde ich das, sie ist ja mein Kind.
Daraufhin wurde ich zu Hause besucht, um festzustellen, ob ich geeignet sei. Der Papierkrieg dauerte schrecklich lange Monate, es war mittlerweile das Jahr 1990 angebrochen. Diese Pflegschaft (heute nennt man es Betreuung) gab mir einige Rechte, u.a. auch, die Einweisung zu beantragen. Ich erhielt einen Termin vom Richter, der bei uns einen Hausbesuch machen wollte. Julia durfte davon nichts wissen, sie wäre sonst geflohen. Meine Mutter war an diesem Tag auch bei uns. Julia schlief noch in ihrem Zimmer, vor dem sich der Balkon mit dem großen Aluminium-Fensterladen befand. Ich entfernte die Kurbel, denn Julia hätte durch das Fenster ihres Zimmers auf den Balkon und von dort (Hochparterre) in die Freiheit gelangen können. Auch die Tür zum Flur hatten wir abgeschlossen. Man muss sich vorstellen, das eigene, viele Jahre gesunde Kind, wie ein Tier einzusperren. Mit hochroten Köpfen vor Aufregung und Herzklopfen im Hals saßen meine Mutter und ich im Wohnzimmer, bis der Richter kam. Er sprach mit Julia alleine und als er aus dem Zimmer kam (sie hatte ihm sofort vertraut und, wie er mir später sagte, hatte ihn sein „Verrat“ sehr belastet), schüttelte er traurig den Kopf über so viel Verwirrtheit eines so schönen Mädchens, sie hatte unzusammenhängende Sätze gesprochen mit wahnwitzigen Ideen. Er versicherte uns, er würde sich um alles kümmern und die Einweisung noch am gleichen Tage veranlassen. (Ich war ihm unbeschreiblich dankbar und schrieb ihm viel später einen Brief, dass er sich keine Vorwürfe machen müsse, denn für Julia sei die Einweisung ein Glück gewesen. Jahre später sah ich ihn auf einem Fest der Klinik, er wollte seine Versetzung – immer könne man das nicht ertragen!) Es verging mindestens noch eine aufregende Stunde, in der wir befürchteten, Julia würde doch noch weglaufen, bis ein Rote-Kreuz-Wagen kam. Die zwei Helfer kamen herein und als Julia sie sah, sagte sie nur: „Jetzt ist es also so weit.“ Es gibt Sätze, die man nie vergisst. Es war in der Umgebung nichts frei gewesen, sie wurde nach Nebenstadt gebracht. Ich durfte im Krankenwagen mitfahren. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung und sie plapperte die ganze Zeit.
Zum ersten (und leider nicht letzten) Mal betrat ich eine Psychiatrische Klinik, ein altes Gebäude in Nebenstadt. Wir klingelten an einer schweren Eisentür (ein Regenbogen war darauf gemalt), die mit Schlüssel geöffnet wurde und krachend hinter uns ins Schloss fiel. Ich war noch dabei, während die Ärztin mit Julia sprach. Julia wehrte sich stundenlang gegen die Medikamente, die sie sich nicht verabreichen lassen wollte. Nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt waren, musste ich sehen, wie ich nach Hause kam. Ich war so erledigt und verzweifelt, dass ich nicht mehr zum Bahnhof laufen konnte. Nach zwei Jahren größter Wirren und Schrecken sollte Julia endlich eine Behandlung zuteil werden. Vor Augen noch das Bild, wie ich sie zurücklassen musste, stand ich nur da, mit zitternden Knien, unfähig eine Richtung einzuschlagen oder eine Entscheidung zu treffen. Endlich riss ich mich zusammen und rief vom Pförtner aus Oma an, um ihr zu sagen, dass Julia angekommen war. Sie riet mir, ein Taxi anzurufen, sie würde es bezahlen, was ich dann tat.
Julia bekam Haldol Depotspritzen und Tavor und Truxal zum Beruhigen. Sie war bereits nach vierzehn Tagen geistig nicht wiederzuerkennen, die Verwirrung war verschwunden, aber körperlich war sie sehr schwach. Ich bekam niemals ein Einzelgespräch mit einem Arzt, wie ich es gewünscht hatte.
Während dieser Zeit und in allen Jahren danach hatte ich das Gefühl, ich sei selbst schizophren geworden, denn morgens erschien ich freundlich lächelnd im Büro, lachte auch fröhlich über die Witze meiner Kollegen und verrichtete meine Arbeit, als sei nichts geschehen. Niemand wusste etwas von Julias schwerem Schicksal. Ich führte zwei Leben, vor allem konnte ich die kleinen Streitigkeiten und lächerlichen Zwistigkeiten vieler Mitmenschen nicht mehr verstehen – irgendwie stehe ich seitdem außerhalb der Gesellschaft, ich lebe in einer anderen Dimension. Was ich auch tue, es gelingt nie, ganz abzuschalten, der Schmerz ist immer da. (...)


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