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Nerven bewahren

Leseprobe

„Was, denken Sie, hat Ihnen in der Behandlung geholfen, wieder gesund zu werden?“
Antwort: „Drei geregelte Mahlzeiten am Tag.“


Dieser Kurzdialog zwischen mir und einem Patienten kurz vor seiner Entlassung nach langer stationĂ€rer Behandlung gibt mir zu denken. Was hat dieser Patient in den Wochen seiner Behandlung nicht alles von uns bekommen: Eine maßgeschneiderte medikamentöse Behandlung, psychologische GesprĂ€che, kreative Ergotherapie, Sport und Bewegungstherapie, Gruppenangebote, eine Sozialarbeiterin, die sich um die finanziellen Belange kĂŒmmerte, liebevolle Zuwendung, Kontakte, AktivitĂ€tsaufbau, AufklĂ€rung ĂŒber die Erkrankung und so weiter. Und was erlebt er als letztlich hilfreich in seiner Behandlung? FrĂŒhstĂŒck, Mittag- und Abendessen!

In dieser Antwort steckt sicherlich vieles, was die bei uns viel beschworene „Tagesstruktur“ ausmacht. RegelmĂ€ĂŸige Mahlzeiten takten den Tag und helfen bei der zeitlichen Orientierung. Sie wecken Erinnerung an das, was man einmal als Maßstab sogenannter „NormalitĂ€t“ als Kind erfahren hat. HĂ€ufig ist es die unverbindliche Gemeinsamkeit bei den Mahlzeiten, die Ă€ngstliche Menschen behutsam aus ihrer Einsamkeit herauslockt. Die RegelmĂ€ĂŸigkeit, zu essen und zu trinken, geht in psychischen Krisen schnell verloren. Das kann chronisch werden und wird von manchen Patienten ĂŒberhaupt nicht mehr wahrgenommen. Ich habe es mir angewöhnt, Patienten und hĂ€ufig auch ihren ebenfalls belasteten Angehörigen zunĂ€chst einmal regelmĂ€ĂŸiges Essen und vor allem Trinken anzuraten, wenn die Frage nach den ersten Schritten aus einer Krise gestellt wird. Ausreichende FlĂŒssigkeitszufuhr ist fĂŒr viele keine SelbstverstĂ€ndlichkeit mehr und in der Umsetzung anfangs richtig schwere Arbeit.

Angesichts der oben geschilderten Antwort liegt die Frage nahe, was in einer komplexen Behandlung wie unserer stationĂ€ren eigentlich heilsam wirkt und wie man das feststellen kann. NatĂŒrlich sieht jeder Beteiligte am Ende einer Gesamtbehandlung vor allem seinen eigenen Beitrag als besonders bedeutsam an. „Endlich wirken die Medikamente“, sagt der eine; „Gut, dass wir drĂŒber gesprochen haben“; „Intensives Konzentrationstraining macht sich bezahlt“, „Der Patient hat in der kreativen Arbeit zu sich gefunden“, die anderen. Sozialarbeiterische Interventionen, die offene finanzielle oder Wohnungsfragen klĂ€ren können, ermöglichen hĂ€ufig nicht mehr geglaubte Spontanremissionen. Und so mancher Patient oder so manche Patientin muss sich einfach nur verlieben. Oft haben wir den Eindruck, dass Patienten untereinander viel intensivere GesprĂ€che fĂŒhren als mit uns. Und manchmal, um ehrlich zu sein, wollen wir vielleicht gar nicht alles wissen, was sich hinter den TĂŒren der Patientenzimmer abspielt. HĂ€ufig sind es wichtige VerĂ€nderungen zu Hause, mit denen die Klinik gar nichts zu tun hat, die sich auf das Befinden unserer Patienten massiv auswirken.
Die Psychotherapieforschung nennt solche Effekte indirekte oder außertherapeutische Wirkfaktoren und weiß, wie viel Einfluss sie auf therapeutische VerlĂ€ufe ausĂŒben. Wir sollten uns schlichtweg nicht einbilden, allzu viel Einfluss auf das zu haben, was im Laufe einer stationĂ€ren Klinikbehandlung mit Patienten geschieht. Überhaupt ist angesichts der KomplexitĂ€t therapeutischer Prozesse der Mythos der gezielten „Intervention“ kaum noch haltbar. Zu sehr greifen die feinen Dynamiken auf allen Ebenen auch zeitlich ineinander, als dass von einer linearen Abfolge von therapeutischen Instruktionen und entsprechenden Reaktionen der Patienten darauf ausgegangen werden darf.
So bahnt sich beispielsweise hĂ€ufig bereits im Vorfeld einer sogenannten therapeutischen Intervention eine relevante VerĂ€nderung beim Patienten an („pre-session-changes“). Familientherapeuten haben immer schon beschrieben, dass es hĂ€ufig bereits vor der allerersten Sitzung zu Verbesserungen im familiĂ€ren Klima kommt. Man nimmt an, dass die Entscheidung zur Therapie, die ersten telefonischen Kontakte mit den Therapeuten oder ihren SekretĂ€rinnen oder die Vorbereitungen innerhalb der Familie vor der ersten Sitzung bereits erste VerĂ€nderungen hinsichtlich Motivation, Bereitschaft zur VerĂ€nderung oder der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern anstoßen konnten. Die moderne Hirnforschung könnte als Modell dienen, um zu zeigen, wie in komplexen Netzwerken, also zum Beispiel im Gehirn und in einer Therapie, Verhaltensmuster entstehen, nĂ€mlich nicht an einem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt, und nicht durch ein zeitliches Nacheinander von A und B, sondern ĂŒber ein Zusammenspiel von kleinen und grĂ¶ĂŸeren Netzwerken oder Teilen von Netzwerken ĂŒber das ganze System hinweg. Das ist von einer einzigen „Kommandozentrale“ aus nicht zu beobachten und schon gar nicht zu kontrollieren.
Entscheidet sich ein Therapeut fĂŒr eine Intervention, mag er Informationen der Patienten erspĂŒren, die deren Aufnahmebereitschaft fĂŒr die Absichten des Therapeuten signalisieren. Er mag die kritischen Fluktuationen wahrnehmen, die sich im Zusammenspiel vieler Einzelfaktoren einstellen, bevor das ganze System einer relevanten VerĂ€nderung zustrebt. Und dann springt er eben auf den schon fahrenden Zug auf. Manchmal treffen Therapeuten mutige Entscheidungen, ohne zu wissen, was genau daraufhin geschieht. Und sie machen hĂ€ufig die Erfahrungen, dass „Àhnliche“ Entscheidungen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen fĂŒhren. Die Chaostheorie stellt dafĂŒr den Begriff des Schmetterlingseffekts zur VerfĂŒgung, der sensiblen AbhĂ€ngigkeit von den Anfangsbedingungen. Da die Ausgangssituation niemals genau dieselbe ist, ist das Ergebnis eines therapeutischen Inputs eben nie vorherzusehen.
Man sollte sich dieser Begrenztheiten bewusst sein, ohne sich in seinem Einfallsreichtum bremsen zu lassen. Wir pflegen unseren Patienten zu sagen, dass bei uns eben vieles zusammen wirkt, und man das nicht scharf voneinander abgrenzen kann. Das Beste ist, wenn es uns gelingt, die vielen Behandlungsbausteine wirklich ineinandergreifen zu lassen. Ist etwa Selbstbewusstsein ein Thema, kann das sowohl im Umgang mit Medikamenten (sich grĂŒndlich aufklĂ€ren lassen und informiert bleiben, mit dem Arzt ĂŒber Nebenwirkungen sprechen) geĂŒbt werden, als auch in der Ergotherapie (etwas Schönes fertigstellen können, etwas Neues lernen können, „zeigen, was man kann“), beim Sport (sich „freilaufen“ oder durchbeißen), in der Tanz- und Bewegungstherapie (sich „prĂ€sentieren“), in der Gruppentherapie, im FamiliengesprĂ€ch usw. Und auch hier bestĂ€tigt uns die Gehirnforschung: Je vielfĂ€ltiger etwas im Gehirn vernetzt ist, also von vielen Seiten her gelernt oder geĂŒbt wird, umso stabiler wird sich das Verhalten etablieren.
Von daher ist jedes Konkurrenzdenken bei der Frage nach der ausschlaggebenden therapeutischen Wirkung fehl am Platz. FĂŒr alles, was wir anbieten, muss die PrĂŒffrage lauten: Inwiefern kann es dem Patienten helfen, (s)einem Therapieziel nĂ€her zu kommen?


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