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Maries Mörder

Leseprobe

Teil 1
Spurensuche


Maries Akte fand ich im Staatsarchiv Leipzig. Aus vergilbten BlĂ€ttern, von denen einige dĂŒnn geworden waren wie Pergament, stieg der Geruch von altem Papier. In den letzten Jahren ihres
Lebens war Marie fĂŒr die Behörden nicht mehr als ein Verwaltungsakt, ausgestattet mit Aktenzeichen, Bekleidungsnummer und Sippentafel. Arnsdorf, Hochweitzschen, Großschweidnitz. Die letzten Stationen ihres Lebens, notiert mit akkurater Handschrift in schwarzer Tinte. Ein kurzes, trauriges Leben zwischen angegrauten Aktendeckeln. Ich las, bis es draußen dunkel wurde und ein Archivar an meinen Tisch trat.
Leise, fast entschuldigend, so als spĂŒrte er meine Traurigkeit, sagte er: „Wir schließen jetzt“.

*

Neugersdorf - eine kleine Stadt in der Oberlausitz bei Zittau, einen kurzen Fußmarsch von der tschechischen Grenze entfernt. Hier wurde Marie geboren. Verzierte HolzsĂ€ulen, die das braun gestrichene Bahnhofsdach tragen, grĂŒĂŸen aus einer anderen Zeit. Der Bahnhof ist menschenleer. In der Halle hĂ€ngen vergilbte Gardinen vor den Fenstern. Hinter den Scheiben, die von Staub und Dreck fast blind geworden sind, sitzt schon lange niemand mehr, der den Reisenden sagt, wann der nĂ€chste Zug fĂ€hrt oder wie viel eine Fahrkarte kostet. Das erledigen die Automaten auf dem Bahnsteig.
Kurz hinter dem Bahnhof lockt ein Schild Touristen: „BĂŒrgerhaus – Restaurant und Hotel – 100 Meter“. Die Villa, die frĂŒher einem Webstuhlfabrikanten gehörte, liegt, umgeben von mĂ€chtigen Kiefern, da wie im Dornröschenschlaf. Der Eingang, mehr Tusch als OuvertĂŒre, eine ausgefallene Spielart wilhelminischen Prunks. Auf der schweren EichentĂŒr glĂ€nzen Ornamente in der Sonne.
Über der TĂŒr sind Figuren in den Stein gehauen. DarĂŒber thront ein Balkon, der von SĂ€ulen getragen wird. Ein halbrunder Zweiggiebel krönt das Dach. Das eiserne Tor aber ist verschlossen. Rechts neben dem Balkon ist ein Fenster gekippt. Die Gardine, ein angegrauter Schal, hat sich zwischen Mauerwerk und Scheibe verfangen, weht wie eine traurige Fahne im Wind.
Im Nachbargarten sitzt eine Frau im Lehnstuhl und streckt ihre kalkweißen Beine in die Sonne. Sie trĂ€gt Shorts und ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, das den Blick auf ihr welkes DekolletĂ©
freigibt. Ihr Haar ist ein Feuerwerk von Rottönen. Der schroffgraue Scheitel, breit wie ein Daumen, verrĂ€t, dass es gefĂ€rbt ist. Das Blau ihrer Schminke ist verlaufen und hat sich in ihren Lidfalten gesammelt. Ihre Zöpfe, die ĂŒber zwei verbogene Drahtlockenwickler gerollt sind, lassen sie aussehen wie eine alternde Pippi Langstrumpf. „Das BĂŒrgerhaus steht schon lange leer. Ein richtiges Geisterhaus ist das“, plaudert sie munter drauflos. Ihre Zöpfe wippen bei jedem Wort. „Die Villa gehört einem Österreicher. Ab und an schickt er einen Hausmeister vorbei, der die Fenster zum LĂŒften öffnet.“ Sie beschreibt mir den Weg zum einzigen Hotel im Ort. „Aber erwarten Sie nicht zu viel."
Die Mauern des Hotels dĂŒnsten eine muffige Feuchtigkeit aus, die potentiellen GĂ€sten schon vor der TĂŒr entgegenschlĂ€gt. Wie eine unsichtbare Wand, die vor dem Betreten warnt. Hinter der TĂŒr liegt eine dĂŒstere Kneipe. Getönte Scheiben und dunkel vertĂ€felte WĂ€nde ersticken das Licht. Es riecht nach abgestandenem Bier und dem Schweiß alter MĂ€nner. Die Wirtin, eine dralle Blonde mit toupiertem Haar und blutroten Lippen, empfĂ€ngt ihre GĂ€ste am Tresen. Sie trĂ€gt einen speckigen Kittel, der nicht so recht zu ihren sorgfĂ€ltig nachgezogenen Lippen passen will. Ihre Zimmer sind noch alle frei. „Sind Sie beruflich hier?“ Die Wirtin rollt das „R“, formt mit der Zunge, die steil nach hinten an den Gaumen gepresst wird, den eigenwilligen Dialekt, der hier in dieser Gegend gesprochen wird. „Ich bin Journalistin.“ „Jurrrnalistin“, wiederholt sie und reißt ihre Augen auf. Die Angst, dass sich eine Reiseredakteurin in ihr Hotel verirrt haben könnte, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Nachdem ich ins Zimmer hinaufgegangen bin, verstehe ich, warum. Feuchtigkeit kriecht aus dem Teppich. Die Tapete wellt sich an der Wand. Das Mobiliar, Bett, Schrank, Tisch und Stuhl, stammt aus den frĂŒhen 70ern. Die GĂ€ste teilen sich eine Gemeinschaftstoilette auf dem Flur. Als ich wieder nach unten komme, wartet die Wirtin am Treppenabsatz. Vermutlich um von der SchĂ€bigkeit ihrer Herberge abzulenken, fĂ€ngt sie ein GesprĂ€ch an. „Und was verschlĂ€gt sie hierrrherrr?“
„Eine alte Geschichte.“
„Eine alte Geschichte?“, wiederholt die Wirtin und schweigt einen Moment, wahrscheinlich will sie mir Zeit geben, ihre Neugier zu befriedigen. Doch sie wartet vergeblich darauf, dass ich sie einweihe. Was sollte ich ihr auch erzĂ€hlen? Dass es ein Erbe gibt aus der Vergangenheit. Und dass ich mich aufgemacht habe, das Geheimnis unserer Familie zu lĂŒften.
(...)


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