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Schlaflos mit Kleopatra

Leseprobe

Aus dem ersten Kapitel: Der erste seltsame Tag:

Ich spaziere am Strand entlang und entferne mich immer mehr von meiner Freundin. Sie rückt immer weiter in die Ferne. Ich biege um einen Felsen. Dort ist niemand, und ich frage mich, ob es mir besser ginge, wenn ich ganz alleine am Strand wäre. Vielleicht könnte dann niemand sehen, woran ich denke? Blödsinn, niemand weiß, was ich denke! Wirklich niemand, und wenn doch? Nein, das darf nicht sein, niemand soll es wissen!
Und wieder findet ein Gespräch mit meiner Freundin in meinem Kopf statt:
'Worüber denkst du nach?', fragt sie mich.
'Ich ... ich denke gar nicht nach', sage ich verlegen. Sieht sie mir meine Verlegenheit an?
Ich weiß, dass es nicht wahr ist. Weiß sie das auch?
Sie kann es nicht wissen, aber sie könnte es mir ansehen. Wie sehe ich gerade aus? Blass oder ...? Und wenn sie es doch weiß?
'Irgendetwas geht in dir vor? Das sieht man dir an!'
Es ist, als ob ich diesen Gedanken hören würde.
Das sieht "man", wer ist dieser "man"? Ach so, es ist irgendjemand: man sieht es einem halt an! Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Es ist anders als sonst. Irgendwie anders, aber warum? Ich muss aufhören, mich mit ihr über die Gedanken in meinem Kopf zu unterhalten! Telepathie funktioniert ohnehin sehr schlecht. Besser ist es, wenn ich mit ihr spreche und ihr sage, dass ich zurückgehen möchte. Zurück, aber wohin? Einfach so meinen Urlaub abbrechen? Es hätte keinen Sinn. Deshalb bin ich doch hier: um Urlaub zu machen!
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Warum lässt mich diese furchtbare, falsche Inspiration nicht ruhen? Ich denke gerne nach, aber diese Gedanken sind falsch. Warum sagte mir ein Kommilitone vor etwa zwei Monaten, als ich ihm eine Anekdote erzählte, dass ich verrückt sei? Bin ich das wirklich? Nein, ich denke jetzt nicht darüber nach, aber warum hat er das gesagt? Weil man es einfach so sagt, gerade dann, wenn es sehr lustig wird. Verrückt zu sein ist nicht jedermanns Sache. Es gehört eine bisschen Talent dazu. Eine besondere Lobpreisung kann sich zum Beispiel so anhören: Mann, bist du verrückt! oder: So einen Verrückten wie dich lerne ich zum ersten Mal kennen! Es ist, sozusagen, eine lieb gemeinte Schmeichelei, fast wie ein Kompliment.

Ich vergesse besser das Verrücktsein, denn es macht mir Angst. Kenne ich einen wirklich Verrückten, also einen, dem das bescheinigt worden ist? Zum Beispiel durch einen Aufenthalt in der Psychiatrie, oder einen, der von allen gemieden wird? Ich überlege und überlege. Ja, ich kenne Leute, die gemieden werden, aber soweit ich weiß, waren sie nie in der Psychiatrie. Oder waren sie es und keiner hat es je erfahren, weil die Ärzte zum Schweigen verpflichtet sind und weil die anderen, die auch in der Psychiatrie gewesen sind, genauso ein nicht unterschriebenes Schweigegelübde einhalten? Diese anderen sind die wirklich Verrückten, also diejenigen, die ihre Verrücktheit durch ein Gutachten bescheinigen können. Aber sie möchten es nicht, denn sie stehen nicht auf solche Komplimente wie: Du bist so was von verrückt!
Ich möchte solche Komplimente auch nicht aufgetischt bekommen. Ich bin lieber so normal, wie ich es bin. Bin ich denn normal? Diese Gedanken in mir über das Urururururururuuuuuuuuuuuuurwesen – sind die normal? Die Gedanken über das Nichts vor dem Urknall, und was davor war, sind die normal? In meinem Fall ist es unerheblich, denn ich weiß nicht einmal, wer mein Ururururugroßvater gewesen ist. Ich kann sieben Generationen meiner Vorfahren aufzählen. Ich habe das Aufzählen meiner Vorfahren wie ein Gedicht auswendig gelernt. Dann stoße ich auf den Letzten und es geht nicht weiter. Also, ich kann nicht beweisen, dass ich ein Abkömmling des Urururururuwesens bin! Egal, denn ich bin ein Individuum, und deshalb ist es unwichtig, wessen Nachkomme ich bin. Aber, warum versuchen wir Menschen immer einen ersten Menschen auszumachen? Du, lieber Adam, hättest du dir je vorstellen können, dass du so viele Nachfahren haben würdest?

Was geht mich Adam an, ich möchte mich ausruhen. Deshalb kehre ich um, gehe zurück zu meiner Freundin und lege mich auf mein Handtuch. Sie liest immer noch und sieht sehr entspannt aus. Sie nutzt die Gunst der Stunde und macht tatsächlich Urlaub. Ich aber nicht.
Doch, ich mache auch Urlaub, das tue ich ganz gewiss! Wir haben unser Zelt auf dem Campingplatz aufgeschlagen. Abends sitzen wir davor, und grillen, und trinken Wein, und lachen manchmal, und manchmal streiten wir auch. Vorgestern haben wir wieder gestritten, und sie sagte: „Ich habe mir diesen Urlaub anders vorgestellt!“
Ich habe nichts dazu gesagt, weil ich nicht wusste, wie sie sich den Urlaub vorgestellt hatte. Wir hatten darüber nicht gesprochen. Warum auch? Einen Urlaub stellt man sich nicht im Voraus vor, sondern lässt sich überraschen, oder?
Sie sieht mich an und fragt: „Ist etwas mit dir? Du bist heute so seltsam, irgendwie anders ...“ Was soll ich dazu sagen, etwa, dass ich über die Leere vor dem Urknall nachdenke, oder über Adam, oder über meine Vorfahren, oder über unseren Urlaub, der eigentlich kein Urlaub ist?
Sie würde nicht sagen: 'Du bist so was von verrückt', sondern eher: 'Deine Gedanken machen mich verrückt. Sind wir nicht im Urlaub?'
'Doch, das sind wir', würde ich dann sagen, aber ich sage es nicht, weil es absurd wäre. Wir würden uns im Kreis drehen, so wie vorgestern. Das heißt, ich würde mich im Kreis drehen, weil ... Eigentlich weiß ich nicht, warum ich mich im Kreis drehe. Ich schlage mein Buch auf und versuche zu lesen. Es klappt nicht, deshalb tue ich so, als würde ich es tun. Ich schlage anständig eine Seite nach der anderen um, damit nicht auffällt, dass ich mich nicht auf das Buch konzentrieren kann. Meine Freundin hat sich auch wieder in ihr Buch vertieft.

Dann stehe ich doch wieder auf und verstecke mich hinter dem Felsen. Es könnte auch den anderen am Strand auffallen, dass ich heute anders aussehe, oder dass ich heute seltsam bin. Niemand darf wissen, was ich heute denke, auch meine Freundin nicht! Die anderen am Strand sowieso nicht. Das sind mittlerweile hier am Nachmittag eine ganze Menge Menschen. Was, wenn ich ausgemustert werde und nicht mehr als normal gelte? Als verrückt, als wirklich verrückt abgestempelt zu werden, ist wohl ein schweres Los. Es ist jedenfalls kein Sechser im Lotto. Aber ich bin doch normal, so normal wie ihr alle auch, sage ich mir und kehre wieder zurück zu meinem Handtuch. Meine Freundin nickt mir diesmal nur kurz zu und liest weiter. Was denkt sie wirklich über mich?
Ich schwitze. Irgendwie strahlt die Sonne heute stärker als sonst. Ich setze meine Sonnenbrille auf und sehe mir die anderen am Strand an. Vor allen Dingen muss ich wissen, ob ihnen etwas auffällt. Nein, keiner weiß, was ich denke. Sonst würde ich es ihnen ansehen. Also, ich lege meinen Kopf auf das Handtuch und wiege mich in Sicherheit: Es ist alles in Ordnung mit dir, flüstere ich mir in Gedanken ein.


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