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Mit meinen herzlichen Grüßen! Ihre Dorothea Buck

Leseprobe

Auf gar keinen Fall sollten Sie Ihre Selbständigkeit aufgeben

10. Oktober 1999

Liebe Frau Buck!
(...) Vor ein, zwei Jahren schrieb ich Ihnen einen unverschämt langen Brief über meine psychische Erkrankung und Familiengeschichte. Inzwischen weiß ich, dass mein Vater mich tatsächlich vom 9. – 14. Lebensjahr missbraucht hat. Seit dem 13. August 1999 weiß ich es und erst fühlte ich mich gut, aber zurzeit ist irgendwie der Wurm drin. Ich werde es wohl bald in den Griff bekommen. Es kann sein, dass meine jetzige Beziehung dabei auf der Strecke bleibt und ich in ein christliches Heim für psychisch Kranke gehe …
Da es aber ein solch endgültiger Schritt ist, versuche ich, mein relativ „normales“ Leben zu retten. Ob mir dies gelingen wird, angesichts meiner erstmals mangelnden Lust, Probleme (erneut) anzusprechen?!? Im Geiste verteile ich schon die Möbel etc., wer was mitnimmt. Es macht mir nichts richtig Freude, weil ich alles auf generelle Prinzipien hin untersuche und bewerte. Nicht einmal Gott bitte ich um Hilfe, da ich erstmals im Leben versuche, alles alleine zu schaffen, ohne Erfolg und ohne Konzept ... Die nahe Zukunft wird zeigen, ob es mir gelingt, mit mir und meiner Umwelt klarzukommen. Ich hoffe, wir können uns noch in diesem Jahr treffen.

Liebe Grüße

Dörte Glanz

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Hamburg, den 15. Oktober 1999

Liebe Frau Glanz,
haben Sie Dank für Ihren Brief vom 10.10.! Zurzeit werde ich eine Erkältung schon seit über zwei Wochen nicht los. Aber das wird sich hoffentlich geben. Im Alter – ich bin jetzt über 82 Jahre alt – dauert eben alles länger.
Ihre Selbstständigkeit aufzugeben und in ein christliches Heim für psychisch kranke Menschen zu ziehen, sollten Sie sich gut überlegen. Die Erkenntnisse auch der Profis gehen ja doch gerade dahin, aus den Institutionen – und ein Heim ist auch eine Institution – in die eigenen Wohnungen und in die Selbstbestimmung zu entlassen. Zur Lösung Ihrer Probleme sollten Sie sich dann lieber bei Sozialpsychiatrischen Diensten, den es auch in Ihrer Stadt geben wird, Hilfe holen.
In einem Heim, in dem man sich ja nicht so zurückziehen kann wie in der eigenen Wohnung, können noch mehr Probleme auch mit den MitbewohnerInnen aufbrechen. Und dann hätten Sie Ihre Möbel und vor allem Ihre Wohnung aufgegeben, und werden Letztere mit viel größerer Anstrengung finden, als Ihre jetzige Wohnung zu behalten. Sollten Sie ein bestimmtes Heim im Auge haben, würde ich an Ihrer Stelle lieber den Kontakt zu diesem Heim herstellen und fragen, ob Sie, wenn Ihnen die Decke auf den Kopf fällt, zu ihren gemeinsamen Heimveranstaltungen, Gesprächen, Spielen, Ausflügen kommen dürfen, bis Sie wieder besser allein zurechtkämen. Eine Wohnung gibt man heute nicht so ohne Weiteres auf. Und dann sind Sie vom Heim enttäuscht. Sich den eigenen Boden der Selbstständigkeit erhalten und von da aus agieren und reagieren, sollte man sich vielleicht zum Grundsatz machen.
Den eigenen Willen Gott gegenüber aufzugeben, um umso mehr diejenige werden zu können, die Sie sind, wird Ihre Selbstständigkeit und Ihr Selbstvertrauen stärken. Ich lebe immer aus diesen inneren Impulsen oder inneren Stimme. Nur so fühle ich mich – obwohl ich hier in meinem Gartenhaus seit 40 Jahren allein lebe –, dennoch nicht allein. Ihre Prinzipien würde ich dagegen ruhig fahren lassen. „Generelle Prinzipien“ lassen den Menschen eher erstarren.

Seien Sie einstweilen herzlich gegrüßt!

Dorothea Buck

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26. Oktober 1999

Liebe Frau Buck!
Vielen herzlichen Dank für die prompte Beantwortung meines letzten Briefes. In der Tat ist man/frau im Heim nie alleine, aber das wäre gerade das, was mich reizt; denn seit der Geburt war ich niemals alleine, schlief sogar vier Jahre mit dem Bruder in einem Bett. Erst mit neun Jahren schlief ich alleine in einem Zimmer, bekam aber ab dann jede/jede 2. Nacht Besuch von meinem Vater.
Alleinesein ist für mich ungeübt, eine Strafe, eine Unfähigkeit, die ich nur kurzzeitig in einem Schub aushalten kann, wenn es mich dann nachts überkommt, wähle ich jede Möglichkeit, um nicht alleine zu sein, sogar den Besuch einer Polizeiwache, wo man mich später einsperrte – alleine ...
Aber ich nehme Ihre Worte ernst und versuche, so weiterzuleben. Meine missmutige Stimmung ist mal wieder gewichen. Bin froh und dankbar, liebe und lebe gut und gerne.
Bis zum nächsten Brief.

Mit herzlichen Grüßen

Dörte Glanz

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Hamburg, 6. November 1999

Liebe Frau Glanz,
(...) Auf gar keinen Fall sollten Sie Ihre Selbständigkeit aufgeben, wie das in einem Heim geschehen würde. Als Alternative könnten Sie sich zu zweit, dritt oder viert eine Wohnung mieten, Wohngeld würden Sie außer Ihrer Sozialhilfe erhalten. Sie sind dann nicht allein, behalten aber Ihre Selbstständigkeit. Sie können malen und das tun, was Sie möchten außer Ihrer Arbeit in der Behinderten-Werkstatt.
In einer mit zwei oder drei FreundInnen gemieteten Wohnung können Sie sich auch mal ganz auf Ihr Zimmer zurückziehen, wenn Ihnen die Mitmenschen auf den Wecker gehen. Wie schnell sich ihre Verstimmungen auch wieder stabilisieren, erleben Sie gerade.

Seien Sie ganz herzlich gegrüßt!

Dorothea Buck


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