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Ich, das Krisenzentrum

Leseprobe

Wenn das ein Film wäre

Heute ist kein guter Tag.
Im Kalender steht der 9. Februar 2006. Ich bin sechzig Jahre alt, und das ist schade, denn ich brauchte mehr Power. Ich zittere immer noch nach dem Telefongespräch, das gerade zu Ende gegangen ist. Ich musste mich sehr zusammennehmen. Denn ich bin alt und grau und müde und manchmal fast unsichtbar. Natürlich ist das mit dem Grau wieder nur so eine Redensart. Der Ausdruck ist bildlich zu verstehen. Mein Haar ist immer gepflegt gefärbt, aschblond. Und dass ich müde bin, merkt auch keiner. Ich lass mir nicht so leicht in die Karten gucken. Ich bin so cool, ich bin so klasse, kein bisschen hysterisch. Aber ist das ein Anfang, bei dem die Leute weiterlesen möchten?
Wenn dies ein Film wäre, müsste er knallig anfangen. Was ist knallig, wenn die Hauptperson sechzig ist? Kummer, Drama. Also Einsatz fürs Drama, erste Szene:
Ich als Mutter sitze zusammengesunken auf meinem Stuhl. Mütter haben das Zusammensinken traditionell an sich, wenn ihnen in ihrem Hundeleben wieder mal was schiefgeht, und da die Mutter als solches ziemlich heilig ist, einfach vom Symbolgehalt her, täte ich jedem sofort leid. Jedem, das heißt den verschiedenen im Bild anwesenden Tröstern sowie auch den Zuschauern, denen sofort das Herz bricht. Die Arme, was hat sie wohl? Die Tränen müssten mir unaufhörlich die Wangen herabrinnen. Voller Verzweiflung würde ich mein durchgeheultes Taschentuch in den Händen drehen und nicht daran denken, dass jeder der Anwesenden sich nachher totekeln könnte, wenn er mir beim Auf-Wiedersehen-Sagen die Hand gibt – und das muss er gleich, denn der Besuch ist gerade beendet. Seine Hand wird an meiner einen Moment lang kleben bleiben, aber der Schmerz einer Mutter ist heilig und verbietet kleinliche Ekelgefühle.
Der Schmerz einer Tochter um die alte kranke Mutter – das ist etwas Natürliches, wo kämen wir denn hin, wenn jeder munter weiterexistierte bis in alle Ewigkeit?
Der Schmerz einer Ehefrau um den kranken Mann – da fragt man sich doch gleich nach dem Ausweg, gibt’s keinen netten Hausfreund, was quält sie sich denn so rum? Ist ja schließlich ihr Leben – sie wird ja nicht jünger und helfen kann sie ihm eh nicht.
Aber der Schmerz einer Mutter um ihren einzigen, möglicherweise unheilbar kranken Sohn – das ist schon in der griechischen Sage ganz schlimmes Theater – denk an die warnenden Beispiele ... mir fällt jetzt gerade keins ein. Medea vielleicht, aber das Beispiel passt nicht richtig, und deswegen heule ich gleich noch mal los. So energisch wie Medea bin ich denn doch nicht.
Dann gehen alle Besucher, die gekommen waren, um mich zu trösten, nacheinander weg, Küsschen Küsschen trotz Lecknase, halt den Kopf hoch, das wird wieder. Alles wird gut ...
Ich bleibe allein zurück, sitze weiterhin wie erstarrt auf meinem Stuhl, es wird kalt, die Dämmerung sinkt herab, aber ich merke es nicht, denn die Trauer erfüllt meine ganze Seele, und wer weiß, wie’s weitergeht. Irgendwie muss es ja weitergehen, und ich müsste mir schnell ausdenken, wie, sonst säße ich in vierzehn Tagen noch hier.

Dies ist aber kein Film. Es ist der ganz reale 9. Februar 2006, und ich habe gerade den Hörer aus der Hand gelegt. Ich kann noch nicht richtig erfassen, was über mich hereinbricht.


Krisenzentrum

„Guten Tag, spreche ich mit Frau Mertz?“ (Das bin ich, und tatsächlich, sie spricht gerade mit mir.) „Ja? Hier ist das Krisenzentrum Paris Quatrième.“ (Erstaunlich akzentfrei, wer hätte das gedacht?) „Es geht um Ihren Sohn Felix. Wird er Sonntag abgeholt?“
„Ja, er wird Sonntag abgeholt. Sein Schwager und noch ein Freund kommen und holen ihn ab. Sagen Sie mir bitte Ihre Adresse? Vielleicht schafft er es nicht, seine Sachen zu packen, und dann muss er bei Ihnen abgeholt werden und nicht in seiner Wohnung.“
„Ach, ich denke, er schafft das wohl. Er ist jetzt hingefahren und will dort etwas putzen und aufräumen. Aber unsere Adresse ist 15 rue des Blancs-Manteaux, gegenüber von so einem Lampenladen. Das ist im Marais-Viertel.“
„Können Sie Felix wohl etwas an Papieren mitgeben? Eine Überweisung, eine Beschreibung des Krankheitsbildes, eine Bescheinigung? Ich habe gestern mit einem Neurologen telefoniert, und der sagte, er könnte ihn sonst nicht einweisen. Es ist klar, dass er ihn nicht einweisen kann. Er hat ihn ja gar nicht gesehen. Aber Felix möchte ins Krankenhaus in Mahnstedt, und es wäre gut, wenn er Papiere von Ihnen mithätte.“
„Wir können natürlich von Frankreich aus nicht in ein deutsches Krankenhaus überweisen.“
„Was immer Sie ihm mitgeben, wird gut sein.“
„Die Kosten für den Aufenthalt hier trägt natürlich die Krankenkasse.“
„Felix sagt immer, er hätte kein Geld. Ich habe ihm Geld auf sein Postgirokonto überwiesen. Für die Miete habe ich einen Scheck geschickt, der müsste mittlerweile in seiner Wohnung liegen. Ich hoffe, er kriegt das auf die Reihe. Muss ich sonst noch irgendetwas berücksichtigen?“
„Ich glaube nicht. Soll ich Ihnen unsere Telefonnummer geben?“
„Ich habe hier 0033 ...“
„Das ist die richtige.“
„Wenn noch was sein sollte, rufen Sie mich bitte an. Darf ich noch mal fragen, mit wem ich jetzt gesprochen habe?“
„Mit Marie-Joelle Géslain.“
„Vielen Dank für alles. Merci beaucoup, Madame Géslain.“

Sachlich, sachlich, souverän. Ich klopfe mir selbst auf die Schulter.

Mitte November war ich nicht ganz so souverän. Aber seither habe ich dazugelernt. Mitte Dezember kam nämlich ein Anruf von Felix, der mich mit einem Schlag erkennen ließ, was mit ihm los war.
Dass mit Felix etwas nicht stimmte, hatten wir seit mehreren Jahren gefühlt und erlebt. Was es aber war, das hatten wir nicht erkannt. Nachträglich ist mir das unbegreiflich. Wie konnte ich so blind sein! So blöd sein! Wo doch alles offen dalag, direkt ausgebreitet und beleuchtet, klar konturiert, wie im Lehrbuch! Und ich blinde Mutter tappe mittendurch und weiß nicht, wie mir geschieht ... aber jetzt weiß ich es. Hat lange genug gedauert.
Also dieser Anruf, der schlagartig rückwirkend alles erklärt, was Felix betrifft.
„Hallo, Mama.“ (Grabesstimme. So hat er noch nie gesprochen. Ich fange augenblicklich an, am ganzen Körper zu zittern. Besser erst mal tun, als wenn nichts wär.)
Ich rufe also munter in den Hörer:
„Oh, hallo, Flix! Wie schön, dass du anrufst! Wie geht’s denn?“
Pause. Dann, langsam, antwortet er dĂĽster:
„Ich kann nicht mehr.“
Pause.
„Es ist alles aus.“
„Was hast du genommen?“
„Was du denkst! Ich habe nichts genommen. Es ist einfach so. Es ist alles aus. Ich habe alles falsch gemacht. Ich habe mein Leben weggeworfen. Und ich bin schuld. Ich bin an allem schuld. Moto Cuir Noir hat keinen Erfolg mehr. Und ich bin schuld daran. Ich habe die Liebe zurückgewiesen.“
Nun ist er ganz durchgeknallt. Mit einem Mal ist es mir klar: Schizophrenie. Meine Mutter ist schizophren! Klaus, mein erster Mann, ist auf jeden Fall irgendwie psychotisch! Und nun Felix ... Zum Nachdenken komme ich jetzt nicht, denn er eröffnet mir:
„Und außerdem bin ich homosexuell.“
„Was sagst du?! Davon war ja noch nie die Rede.“
„Doch, ich bin homosexuell. Ich habe es genau gefühlt: Ich ging eine Straße entlang. Weibliche Energie durchströmte mich plötzlich. Und ich hatte den Wunsch, mich als Frau anzuziehen, Schmuck zu tragen ... Und ich habe mich in einen Mann verliebt.“
„Felix, du würdest dich als Frau anziehen?!“
Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Dieser junge Mann, absolut viril, muskulös, überall behaart – in Frauenkleidern? Das ist schlimmer als Karneval. Ich fass es nicht.
„Ich fände es entsetzlich“, sage ich entnervt.
„Du würdest es schööön finden“, sagt Felix mit einer Intonation, die mich richtiggehend erschauern lässt, so unheimlich klingt sie.
„Mein Freund heißt Tilo. Er ist Balletttänzer. Er kommt aus Indonesien. Er hat sich so in mich verliebt, dass er sofort mit seinem anderen Freund Schluss gemacht hat.“
„Um Gottes Willen! Wie alt ist er denn?“
„Ungefähr sechzig. Ich habe ihn in einer Schwulenkneipe kennengelernt, und wir haben uns sofort ineinander verliebt.“
All das vermittelt aber nicht die Freude eines frisch verliebten Mannes, sondern klingt wie Ich-springe-gleich-aus-dem-Fenster. Und da fĂĽgt Felix schon hinzu:
„Gestern Abend wäre ich übrigens fast vom Dach gesprungen. Ich war nur leider zu feige.“
Das hört sich wieder seltsam trocken und unbeteiligt an.
Was soll ich tun? Ich sitze hier, Hunderte von Kilometern weg. Er ist volljährig und kann anstellen, was er will, ich habe keine Befugnis. Ich kann ihn nicht zum Arzt schleppen. Sofort müsste er hin. Was mach ich nur? Ich habe keine einzige Telefonnummer von seinen Bekannten. Hilfe, Hilfe! Aber natürlich gibt’s keine Hilfe, woher auch?
„Vielleicht nehme ich mir das Leben. Wenn ich nicht zu viel Angst habe. Oder ich studiere ich hier in Paris zu Ende und komme gar nicht wieder nach Deutschland.“
„Felix, will dein Freund etwa, dass du dein Studium abbrichst?“
„Nein, im Gegenteil, er rät mir, dass ich weiter studiere.“
Wenigstens etwas, atme ich auf. Aber ich kriege noch mehr zu hören.
„Mama, und dann habe ich noch einen anderen Freund. Er ist Rumäne.“
Na klasse.
„Was ist er von Beruf?“
„Ach“, sagt Felix vage, „er hat schon alles Mögliche gemacht ... war Radiosprecher, zum Beispiel ... , ach, alles Mögliche.“
Ein rumänischer Gelegenheitsarbeiter. Na klasse.
„Felix, morgen ist Welt-Aids-Tag. Achte auf jeden Fall darauf, dass du keinen Sex ohne Kondom hast!“
Ich komme sofort zur Sache. Was nützt das Rumreden. Ich erwähne Freddie Mercury, der bekanntlich gestorben ist, wie jeder weiß, aber Felix sagt nur ganz verzückt, dass er bestimmt vor seinem Tode sehr sehr glücklich war und nichts bereut hat. „Ganz bestimmt.“
Mir gehen die Argumente aus bei so viel Blödheit. Felix erklärt noch, er fände es sehr betrüblich, dass ich mich über sein neues Glück nicht mit ihm freuen könne, sondern solche Vorurteile hätte und so eng im Denken wäre. Dabei ist er richtig ärgerlich.
„Felix, das ist alles neu und überraschend. Mach bloß keine Dummheiten. Denk über alles noch mal nach. Und denk an Aids, die Gefahr ist ganz real!“
„Mach dir man keine Sorgen. Meine Freunde sind nicht so. Die haben keine unklaren Partnerwechsel. Die sind treu.“
Das merkt man ja. Ich fass es nicht.
Und dann sagt er noch entschieden und kĂĽhl, weil ich ihn natĂĽrlich wieder anrufen will:
„Am Sonntag kommt mein Freund zu mir. Da ruf mich bitte nicht an. Das kannst du ja verstehen, nicht? Ich will dann keinen Anruf kriegen, wenn er gerade bei mir zu Besuch ist.“
„Ich rufe dich auf jeden Fall wieder an. Wann passt es am besten?“
„Am besten abends. Aber du brauchst nicht jeden Tag anzurufen.“
Als das Gespräch beendet ist – es war sicher sehr teuer, per Handy, so lang, aus dem Ausland, fällt mir ein: Wie sehen wohl seine Finanzen aus? Das kann ein weiteres Problem werden. Ich fühle mich wie von einer Bleiplatte erschlagen. Und drunter liegen geblieben. Ich zittere immer noch.

Was finde ich am schlimmsten? Am schlimmsten finde ich Felix’ Stimme, die so schnell variiert, aber für mein Empfinden im Ausdruck nicht immer passend ist zu den Ungeheuerlichkeiten, die er mir mitteilt.
Die Stimme, dumpf, leidvoll, wobei die Wörter langsam kommen, mit langen Pausen dazwischen, wenn er erklärt, er sei am Ende. Ein theatralisches Moment höre ich auch heraus.
Die Stimme, merkwĂĽrdig geziert, wenn er von seinen Kontakten mit Homosexuellen spricht.
Am allerschlimmsten die Stimme, wenn sie in tiefer Begeisterung bei einer krankhaften Idee vibriert.
Und dann wieder ist die Stimme im Ausdruck einfach irgendwie unangemessen. Der erschĂĽtternde Inhalt passt nicht zu dem unbeteiligten Sprechton.

Das Krisenzentrum in Paris, Bezirk IV – das soll dann noch kommen? Erst mal klingelt es in einem anderen Krisenzentrum. Ich bin das Krisenzentrum. Jeder, der durchknallt, wendet sich an mich und lädt seine Ideen bei mir ab. Erst meine Mutter, dann mein Mann Klaus, jetzt Felix. Was macht das Schicksal mir an?! Womit habe ich das verdient? Und warum muss ich mir das immer alles anhören? Warum denken die Betroffenen, ausgerechnet ich könnte irgendetwas tun, was auch immer? Und egal, was ich sage, sie hören nicht auf mich!
Ja, nach dem Gespräch war ich nicht souverän. Ich war völlig fertig. Was hat er genommen? Diesmal war’s zu viel. Diesmal hat’s ihn erwischt. Diesmal ist er hin. Es ist so schade. Was mach ich jetzt? Mein einziger Sohn.


Zukunftspläne

Derweil träumt Felix vom großen Durchbruch: „Hier ist so ein Türke in der Therapie ... Wenn ich mit dem hier mal Musik machen könnte ... der ist so ein toller Rapper, ich habe Kassetten von ihm gehört. Und ihm fehlt noch eine Gitarre. Das könnt ich locker. Einfach einen Proberaum mieten ...“ – Bei dem Kontostand? Ich fass es nicht.
„Vielleicht bleibe ich ja auch für immer hier ...“ – „Für immer hier? Wie meinst du das? Als Pfleger oder als Patient?“ – „Als Patient ... Oder ich such mir eine einfache Arbeitsstelle ...“ – „Bist du dir im Klaren darüber, wie wenig du als Hilfsarbeiter verdienst? Und noch hast du keine Stelle!“ – „Ach, ich will gar nicht viel Geld ...“
Es folgt eine ernsthafte realitätsbezogene Ansprache von mir zum Thema „Ich will gar nicht viel Geld haben“. „Und bedenke, wie viel BAföG du zurückzahlen musst, wenn du dein Studium abbrichst!“ – „Finanzielle Gründe dürfen für mich nicht ausschlaggebend sein ... Ich darf mich nicht durch finanzielle Gründe unter Druck setzen lassen, um etwas zu tun, was ich eigentlich nicht leisten kann.“ Wo er Recht hat, hat er Recht.

Wir gehen gemeinsam durch, was Felix überhaupt noch bis zum Examen machen müsste. Ein Gesunder könnte das Pensum locker in zwei Semestern schaffe. Aber mit was dürfen wir rechnen, mit was darf er selber bei sich rechnen? Was kann er überhaupt leisten? Wie weit wird er wieder gesund, wenn überhaupt?
Wir vertagen das Thema. Es wird Zeit fĂĽr den Abschied.

Da steht Flix im kalten Abendlicht. Er lächelt uns tapfer an. Felix sieht so toll aus. Ein schönes, ausdrucksvolles Gesicht. Freundliche Augen, breite Schultern. Er wirkt nett und vertrauenerweckend. Und doch ...

Hoffentlich ist Felix noch lange im Krankenhaus. In seinem Zustand, so scheint es mir, ist er dem Leben drauĂźen noch nicht gewachsen.


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