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Tyrannei des Gelingens

Leseprobe

Einleitung: Dann und wann etwas riskieren …

„Rezepte gibt es nicht und auch keine Trampelpfade.
Es gibt nur die Möglichkeit zu tun, was man für richtig hält, gegen das zu argumentieren, was man für falsch hält, zu ändern zu versuchen, was einen stört – und dann und wann etwas zu riskieren.
Manchmal ein bisschen zu weit zu gehen anstatt stets allzu kurzzutreten.
Neugierig zu sein, was daraus entsteht. Auszuhalten,
dass man im Voraus nicht so genau weiĂź, wohin der Weg fĂĽhrt.
Und im Ăśbrigen nicht zu vergessen, dass alle Auswege mit IrrtĂĽmern gepflastert sind.
Risiken und Nebenwirkungen müssen in Kauf genommen werden – da helfen weder Arzt noch Apotheker.
So ist die Welt – kein göttlicher Heilsplan, sondern eine Versuchsanordnung.“

Aus: Robert Misik: Genial dagegen – kritisches Denken von Marx bis Michael Moore, 2005

In diesem Buch geht es um das, worum es unserer Meinung nach in Deutschland und weltweit in den letzten Jahren immer weniger geht: um den „be-achtlichen“ Einzelnen, um seine nicht normierbare Originalität, seine un-berechenbare Verrücktheit, seine durch keinerlei PR-Doping zu vertuschenden Schwächen, seine angeborene Abhängigkeit von ihm wohlwollenden Anderen, sein Recht auf Unvollkommenheit und Misslingen. Dabei ist unsere Perspektive diejenige von Menschen, die an der „sozialen Arbeit“ im erweiterten Sinn beteiligt sind. Das sagt noch wenig aus, denn aus dieser Perspektive könnten wir auch den Standpunkt einnehmen, dass die Dinge nun einmal laufen, wie sie laufen, und dass ein tüchtiger, moderner Sozialprofi seine Managementfähigkeiten darin beweist und entfaltet, dass es ihm gelingt, auch unter widrigen Umständen schwarze Zahlen zu schreiben. Er hat sich eben den Regeln des Marktes und der sich zu dessen Gunsten in rasanter Folge ändernden Sozialgesetzgebung anzupassen.
Verantwortung? Schwer zu ermitteln, wo sie liegt. Parteilichkeit für Benachteiligte? Man muss eben das Beste aus der Situation machen. Auch das wäre eine mögliche Haltung. Nur, dass das für den Menschen Beste dabei unversehens auf der Strecke bleiben könnte. Dabei besteht das Problem nicht so sehr darin, dass das Beste nicht gelingt. Historisch gesehen ist es noch nie gelungen. Die Frage ist vielmehr: nehmen wir Teil an einer Dynamik, in der wir uns davon mehr und mehr entfernen, oder an einer, in der wir uns annähern? Wird diese Dynamik von der ethischen Frage „was sein soll?“ oder von ganz anderen Fragen angetrieben? Wir zweifeln.
Wir können uns mit einigen Haupttrends gesellschaftlicher Ideologiebildung und ihrem Niederschlag im Alltag der Arbeit im Sozial- und Gesundheitswesen nicht einverstanden erklären. Wir sehen durchaus, dass manches parallel zu dem Zweifelhaften „doch recht gut läuft“, wie man zu sagen pflegt. Wir sehen auch, dass Not hier und da erfinderisch macht. Aber dass zum Beispiel engagierte Bürger/innen „Tafeln“ gründen, wo arme Menschen billig und gut essen und einkaufen können, entschuldigt nicht, dass dies in einem der reichsten Länder Europas geschieht, in dem, wie Arno Geiger bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele formulierte, das Victoryzeichen der Spitzenmanager identisch ist mit dem Zeichen für eine geöffnete Schere, der Schere zwischen Reich und Arm.
Die in diesem Buch versammelten Aufsätze sind Versuche, zu verstehen, zu analysieren, was gesellschaftlich vorgeht, Versuche, von Grundrechten her zu denken, ketzerische Versuche, sich dem Glauben daran zu entziehen, dass die Ökonomie nicht mehr zu dienen, sondern zu herrschen hat. Es sind auch Versuche, den Glauben an die Standardisierbarkeit und Messbarkeit dessen, was Menschen an Unterstützung und Hilfe brauchen, zu hinterfragen.

Bei unseren ersten Überlegungen zu einer Veröffentlichung wären wir um ein Haar der Tyrannei des Gelingens erlegen. Wir hatten die ebenso zeitgemäße wie leicht zwanghafte Idee, es könne nur dann ein gelungenes Buch werden, wenn wir es schafften, zumindest den letzten Teil mit Zielangaben, Projektvorschlägen und sozialpolitischen Handlungsanweisungen zuzupflastern. Der moderne manische Pragmatismus steckt eben an, diese Sucht dauernd zu handeln, zu ändern, zu reformieren ohne ausreichende Analyse, ohne ausreichende Berücksichtigung von Nebenwirkungen. Man vergisst leicht, dass es Zeiten gibt, in denen innehalten wichtiger ist, Zeiten, in denen es geratener sein kann, sich im Dickicht des Waldes genau nach Orientierungszeichen der Natur umzuschauen, statt fröhlich die Angst weg pfeifend, draufloszuwandern.
Mit Nachhilfe unseres Lektors, Hartwig Hansen, kamen wir schließlich zu dem entlastenden Schluss: Dieses Buch muss uns in diesem Sinne nicht gelingen. Die Wahrheit ist, wir haben keine Rezepte, wir kennen keinen genau beschreibbaren Weg. Selbst da, wo wir uns am Ende des einen oder anderen Beitrags (besonders im dritten Teil) zu Ideen, zu Vorschlägen, zu Impulsen hinreißen lassen, verlässt uns nie das Gefühl, dass dies allenfalls ein Anfang von etwas sein kann, das wir noch nicht kennen.
Allerdings haben uns die Erfahrungen mit der Initiative „Soltauer Impulse“ (Siehe Dokumentation im Anhang) ermutigt. Es lohnt sich, das eigene Unbehagen zu artikulieren, sich mit anderen zu verbünden, es lohnt sich, etwas zu tun. In dem Beitrag „Kiesel für Davids Schleuder“ am Ende des Buches beschreiben wir, wie die Initiative zu den Soltauer Impulsen entstand und was sich aus einem kleinen Anstoß entwickeln kann. Neugierige können diesen Text auch als (weitere) Einführung lesen. Unter anderem wird in ihm etwas über die Entstehungsgeschichte des Buches, das im Grunde einen „Vorlauf“ von gut zehn Jahren hat, deutlich.

Bei allem tastenden Suchen, bei aller Unsicherheit – für eins behaupten wir ein sicheres Gespür zu haben: Alle Menschen, gesunde und kranke, behinderte und nicht behinderte, alte und junge, arme und reiche, brauchen Raum und Zeit; Raum und Zeit für Beziehungen, Raum und Zeit, in denen Respekt und Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. Daraus muss sich jedes unterstützende, heilende, begleitende, manchmal auch eingreifende, Grenzen setzende oder Anstoß gebende Handeln ableiten. Die kranken, die behinderten, die alten und die armen Menschen brauchen allerdings mehr und nicht weniger davon. Ein „Weniger“ und schließlich ein „Zu wenig“ führt zum Ausschluss und für Mitarbeiter/innen in sozialen Arbeitsfeldern schließlich zu Verwaltung und Organisation von ausschließenden Systemen. Darüber können all die schönen „Plastikwörter“ von Qualitätssicherung bis zur Kundenorientierung nicht hinwegtäuschen. Dass wir hier Gefährdungen sehen, die nicht nur von den (angeblich oder tatsächlich) fehlenden finanziellen Mitteln herrühren, genau dies ist es, was uns zum Nachdenken antreibt, was als Motivation hinter diesem Buch steht. Was aus ihm werden kann, hängt sicher einerseits davon ab, ob es anregend genug geschrieben ist und etwas trifft, das Kolleginnen und Kollegen in Arbeitsfeldern des Sozial- und Gesundheitswesens, aber auch interessierte Bürgerinnen und Bürger, bewegt. Ähnlich wie bei den „Soltauer Impulsen“ hängt es aber auch davon ab, was daraus gemacht wird, ob es zum Beispiel hilft, das eigene Unbehagen besser zu verstehen, ob es genutzt wird, mit anderen ins Gespräch zu kommen und vielleicht auch dazu, mehr Mut zu eigenen Formen öffentlicher Meinungsäußerung und eigenen sich dem Trend entziehenden Arbeitsweisen zu finden oder sogar zu Formen öffentlichen Protests.
Wir leben – Gott sei dank – nicht in einer Diktatur, aber gerade deshalb, sollten wir uns keiner Tyrannei ergeben.

Als Lesehilfe: Das Buch hat drei Schwerpunkte. Der erste Schwerpunkt „Raum und Zeit für Menschen – Sozialzeit statt Bürozeit“ berührt am stärksten die konkrete Arbeit mit Menschen, so wie sie sich heute zwischen Markt und Bürokratie bewegt. Im zweiten Abschnitt „Einseitige Menschenbilder –irreführendes Denken – fragwürdiges Handeln“ wird zwar der Blick auf das Alltägliche und Lebensnahe beibehalten, es wird aber gleichzeitig riskiert, einige grundsätzliche Überlegungen darüber, „was der Mensch eigentlich für einer ist“, mit einzubeziehen. Der dritte Teil vereinigt Aufsätze, in denen versucht wird, die Analyse gesellschaftlicher Mechanismen mit einigen Handlungsimpulsen zu verknüpfen.
Wir haben nicht versucht, unseren vornehmlich zum Arbeitsfeld Psychiatrie bestehenden Praxisbezug zu verleugnen. Er bleibt in vielen Texten deutlich erkennbar, dient aber vor allem dazu, grundsätzliche und verallgemeinerbare Fragestellungen zu behandeln.


Fritz Bremer Renate Schernus
NeumĂĽnster Bielefeld


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