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Dreimal zur Welt gekommen

Leseprobe

Dreimal zur Welt gekommen
Statt einer Biografie

Ich bin 1920 in Frankfurt am Main geboren worden. Mein Erinnerungsvermögen setzt mit drei Jahren ein. Es hat aus dieser Zeit einen Teich festgehalten, in dem gelbe Trauerweidenblätter schwammen. Am Rand stand, unter einem schwarzen Tuch verborgen, ein Fotoapparat. Er hatte manchmal drei, manchmal fünf dürre Beine. Hatte er fünf, war der Fotograf mit unter dem Tuch. Ich schlief in einem Gitterbett, das aufregend nach rostigem Eisen und öligem Werg roch. Neben mir saß ein Teddybär. Er hatte eine Schelle um den Hals, und waren Männer mit Elchgeweihen und Katzen mit brennenden Augen in meinen Träumen gewesen, schüttelte ich den Bären; dann kam mein Vater auf das Klingeln herein und beruhigte mich wieder. Er war sehr viel jünger als ich heute bin, hatte gerade seinen naturwissenschaftlichen Doktor gemacht und fuhr jeden Morgen, eine längs gefaltete Aktentasche, in der die Kaffeeflasche gluckerte, auf dem Gepäcksitz des Fahrrads, in eine Fabrik, die Glühbirnen machte. (...)
Ich war häufig krank damals und sehr oft in Heimen. In Hirschhorn am Neckar umsorgten mich Nonnen. Sie hängten mir ein Laken über den Kopf, in das ich hineingemacht hatte und ließen mich von den anderen Kindern verhöhnen. Im Allgäu später war es dann schöner. Dort lebte ein geistesschwacher Mann mit im Heim, der fallsüchtig war und wunderbar Ziehharmonika spielte. Wir weinten immer, wenn er seine Krämpfe bekam. Als mich dort mein Vater besuchte, wurde ihm zu Ehren die Kapellenglocke geläutet. Er war Bibliothekar geworden inzwischen, aber es gefiel ihm nicht mehr in Frankfurt; mit einer neuen Freundin zusammen, die Malerin war, zogen wir um nach Berlin.
In Berlin kam ich 1928 ein zweites Mal auf die Welt. Wir wohnten ganz im Nordosten, in Weißensee, einem Arbeiterviertel. Es gab viele Mauersegler am Himmel und fast ständig politische Unruhen auf den Straßen. Im Haus arbeitete ein jüdischer Glaser. Wenn er einen Spiegel reparierte, setzte er sich immer erst eine dunkle Brille auf, wegen der fremden Blicke, die den Spiegel unrein gemacht hatten. Es war ein Eckhaus mit einer Kneipe darin. Alle paar Tage kehrten vom nahegelegenen Friedhof die Trauergemeinden zum Totengedenkessen dort ein. Es gab immer dasselbe: Eisbein mit Sauerkraut, und dazwischen tauchten die Frauen ihre verweinten Gesichter in die großen besänftigend kühlen Weiße-Gläser hinein. (...)

Ein Jahr später zog man mich ein. Ich musste in Ostpreußen Flugplätze planieren. Während des deutschen Angriffskrieges auf Polen hatten wir die Schlachtfelder von den Toten zu säubern. Auf dem Kasernenhof in Potsdam lernten wir dann, mit aufgepflanztem Bajonett in einen Sandsack zu stechen. Auf dem Sack prankte ein waagrechter Kreidestrich, der die Gürtellinie markierte. Einige numerierte Kreise unterhalb der Gürtellinie bezeichneten die für den Einstich anatomisch wirksamsten Stellen. Ich bin sechseinhalb Jahre Soldat gewesen. Die ganze Zeit hindurch hat auf unseren Koppelschlössern die Lästerung „Gott mit uns“ gestanden. Zuletzt war ich in der Strafkompanie. Man warf mir vor, ich hätte die Manneszucht untergraben. Mit der Zivilbevölkerung zusammen haben wir Minen geräumt. Während die sowjetischen Panzer uns jagten, gelang es mir, verloren zu gehen; ich zog Zivilkleidung an und bin weiter nach Westen gelaufen.
Während dieser letzten Kriegstage kam ich zum dritten Mal auf die Welt. Es war eine Zangengeburt: die Freiheit zerrte, und der Krieg gab einen nicht frei. (...)


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