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Zu Hause sein im Fragen

Leseprobe

„Forschung als Kontrast zur Anwendung, zur reinen Umsetzung, zur Durch-Führung. Dabei liebe ich vor allem den Prozess des Forschens: Interesse entwickeln, Fragen stellen, nach- und vor-denken, überprüfen. Wissen scheint Ziel und Ergebnis der Forschung zu sein – aber Wissen ist schon das Abgeschlossene, die Konserve. Forschung, wie ich sie üben möchte, sucht die Berührung mit dem Neuen, dem Werdenden: im schon Bekannten das noch nicht Verstandene zu entdecken und zu bewundern, mich weiter leiten zu lassen.

Wenn ich forsche, möchte ich nicht die Dinge beherrschbarer, vorhersagbarer machen. Indem ich etwas erkenne, möchte ich über das Unmittelbare hinaussehen und den Blick weiten. Forschend will ich nicht das Geheimnis der Dinge oder sozialer Prozesse knacken und auf allgemein gültige Gesetze reduzieren, sondern es geht mir darum, das Geheimnis zu achten und zu wahren, ja vielleicht sogar zu vergrößern ...“

Christian Elster


Vorwort

„Zu Hause sein im Fragen“ kennzeichnet ein Forschungsprojekt, das seine Aufgabe darin gesehen hat – und noch sieht –, wesentliche Fragen aufzuwerfen. Das heißt, den Mut zu haben, Erkenntnisse nicht nur in Form von Antworten zu präsentieren, sondern – manchmal auch ungewöhnliche – Fragen zu stellen. So wichtig auch Antworten sein mögen, so besteht die Gefahr, sie als „erledigt“ abzuheften. So unsicher auch Fragen machen können, so beinhalten sie die Möglichkeit, zu neuen Antworten zu kommen, die wiederum neue Fragen aufwerfen. Wir Menschen sind so komplex, dass es geradezu arrogant wäre, Antworten als Letztheiten zu formulieren. Wir haben uns für die Bescheidenheit entschieden und dafür, Vieles offen zu halten. Deshalb setzen wir auf Fragen.

Das Forschungsprojekt „Entwicklung lebensweltorientierter Unterstützungsmaßnahmen im Bereich psycho-sozialer Versorgung“ – kurz „Forschungsprojekt Lebenswelten“ genannt – lief von Oktober 2003 bis Dezember 2005 in der Region Lüneburg und im Kreis Herzogtum Lauenburg und wurde von der AGIP (Arbeitsgruppe Innovative Projekte beim Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen) gefördert.

Ausgehend von einer subjektwissenschaftlichen Grundlage war der Blick auf die alltägliche Lebensführung von Menschen gerichtet, die im weitesten Sinne psychiatrieerfahren sind. Zielsetzung war es, einen Beitrag zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu leisten – dies insbesondere durch die Stärkung ihrer sozialen Beziehungen.

Neben den an den verschiedenen Projekten Beteiligten bestand die engere Forschungsgruppe aus Birte Ludewig, Diplomsozialarbeiterin/-sozialpädagogin und Ärztin, dem Diplompsychologen Christian Elster sowie Dr. Kurt Bader, Professor an der Universität Lüneburg, Fachbereich Sozialwesen.

Grundsätzlich war es von Anfang an klar, dass wir nicht über Menschen, sondern mit ihnen forschen wollten. Im Mittelpunkt standen die Menschen und ihre Lebensverhältnisse. Dies methodisch zu erfassen war schwierig. Im Laufe des Projektes veränderten sich auch die verschiedenen Bereiche, in denen wir tätig waren. Sie veränderten sich, ebenso wie sich die Menschen, mit denen wir zu tun hatten, veränderten – und natürlich wir selbst.

Zu Beginn des Vorhabens konzentrierten wir uns auf drei Bereiche bzw. Projekte:

1. die Selbsthilfeinitiative Lebenswelten in Mölln
2. die Betreuung einzelner Menschen im Zusammenhang mit der psychiatrischen Abteilung des Johanniter Krankenhauses in Geesthacht (Leitung Dr. M. HeiĂźler)
3. die Vorbereitung und Durchführung eines internationalen Psychiatriekongresses Deutschland/Niederlande „Eigen Art Sinn“ im Juni 2004 in Lüneburg als Möglichkeit der Begegnung und des Austausches (siehe auch www.eigensinne.de)

Insbesondere der Kongress brachte viele Kontakte, die den Kreis der an der Forschung Beteiligten erweiterte:

- Mitglieder der Selbsthilfegruppe Akron auf dem bio-dynamischen Hof in Tangsehl im Wendland
- Ein Frauenprojekt in Lüneburg im Zusammenhang mit dem Verein Psychiatrieerfahrene (VPE) „Irren ist menschlich“ in Lüneburg
- Das Kunstarbeitsprojekt „Offenes Atelier“ für Menschen mit und ohne Behinderung in Lüneburg
- Eine Ausstellung von Bildern von Helmut BrĂĽggemann, die in einer Gestalttherapie entstanden waren.
- Kontakte zu verschiedenen Projekten in den Niederlanden – hier insbesondere die Konzepte „Multilog“, „Kwartiermaken“ und „Freundschaftsdienste“
- Verschiedene interessierte Einzelpersonen aus der Region und auch aus Einrichtungen der psychosozialen Versorgung

Diese vielfältigen Kontakte, die zu stärken und herzustellen ausdrückliches Ziel der Forschung war, hatten einen sehr dynamischen Forschungsverlauf zur Folge. Er veränderte sich ständig, und wir hatten Mühe, den Überblick zu behalten. Soweit es uns möglich war, dokumentierten wir unsere Erfahrungen und Begegnungen, die nicht nur aus Gesprächen bestanden, sondern auch aus vielen kleinen Projekten und Vorhaben. Damit rückte das gemeinsame Handeln in den Vordergrund, was uns sehr wichtig war. Deshalb hatten die verschiedenen Projektbereiche und die darin stattfindenden Handlungsvollzüge einen zentralen Stellenwert im Rahmen des Forschungsprozesses. Sie können für jeden Einzelnen ein System stabiler Sozialbeziehungen bilden und werden somit eine wichtige Möglichkeit für Verbesserungen der Lebensqualität. Die Frage: „Was bleibt davon?“ wird uns über die Drucklegung dieses Buches hinaus beschäftigen.

Wir machen mit diesem Buch – ähnlich wie Bert Brecht es für seinen Grabstein formuliert hat – Vorschläge und hoffen, dass manche von ihnen ernst- und aufgenommen werden. An Rückmeldungen schon zu Lebzeiten sind wir brennend interessiert.

Die einzelnen Abschnitte sind nach den verschiedenen Projektbereichen gegliedert.
Einleitend werden das Forschungsprojekt und der grundsätzliche Forschungsansatz erläutert. Darauf folgt ein Blick auf den Psychiatriekongress „Eigen Art Sinn“ als eine Veranstaltung der Begegnung und des Austausches, aus der sich viele Kontakte und Projekte entwickelten. „Sinn und Lebensmut“ spielt in der Selbsthilfeinitiative Haus Lebenswelten in Mölln; außerdem geht es darin um den theoretischen Ansatz und die Methoden der Forschung. „Psychiatrie als Nebensache“ stellt ein Projekt in Tangsehl im Wendland vor, in dem Kunst und Arbeit eine besondere Rolle spielen. Im nächsten Abschnitt wird anhand des Lüneburger Frauenprojekts „Kreuz und Quer“ der Sinn von Selbsthilfegruppen erörtert. Der Beitrag über „Freundschaftsdienste“ zeigt Möglichkeiten der Vernetzung von gegenseitiger Hilfe auf, die auch überregional erfolgen kann. Bei den Erfahrungen in Geesthacht – „Am Pulsschlag der Existenz“ - geht es vorrangig um die Helfer selbst, um professionelle Lernräume und das berufliche Verständnis. Diese Frage nach Professionalität wird im letzten Teil nochmals aufgenommen und zum Forschungsprojekt ins Verhältnis gesetzt – bevor ein Nachwort das Ende des Buches einläutet.

Dieses Buch stellt einzelne Handlungszusammenhänge eines über zwei Jahre dauernden Prozesses (der hoffentlich auch weiter gehen wird) vor. Es hat den Charakter einer Collage und beinhaltet nur einen Teil unserer Ergebnisse. Die Beiträge bewegen sich auf drei Ebenen:

1. authentische und die eigene subjektive Position beschreibende Texte (und „Selbstporträts“) der an der Forschung beteiligten Menschen
2. Beschreibungen und Interpretationen von Situationen, Prozessen und Projekten durch die Forschungsgruppe
3. verallgemeinernde Texte zu theoretischen Einzelfragen

Die verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkte hängen mit den Schwerpunkten und Interessen der Menschen zusammen, die jeweils in diesen Projektbereichen tätig waren. Die Texte sind unterschiedlich. Das hat zwei wesentliche Gründe: Während Birte Ludewig und ich aus dem Bereich Forschung kommen und die Praxis aufsuchen, steht Christian Elster in der Praxis und unternimmt den Ausflug in den Bereich Forschung. Auch die theoretischen Ausgangssituationen sind unterschiedlich: Birte Ludewig und ich berufen uns auf den subjektwissenschaftlichen Ansatz der Kritischen Psychologie, Christan Elster hat eine anthroposophisch orientierte Position. Das sind aber keine Unvereinbarkeiten, sondern zeigen, dass es fruchtbar sein kann, individuelle Unterschiede als Bereicherung zu verstehen – und nicht normativ zurechtzustutzen. Voraussetzung: Es gibt gemeinsame Ziele. Unser übergreifendes Ziel war und ist, einen Betrag zu menschenwürdigem Leben zu leisten.

Quer zu den in den Texten behandelten besonderen Themen stehen Fragen, die uns von Anfang an beschäftigt haben und in fast allen Beiträgen angeschnitten werden:

- Was ist ein „guter“ Profi und wie ist das Verhältnis der Menschen zur „Psychiatrie“ zu beschreiben?
- Wie könnte eine angemessene Hilfe aussehen und wie können die beteiligten Menschen selbst anderen helfen?
- Was kann und soll „Forschung“ bewirken?

Die Bilder zeigen zum einen verschiedene Aktivitäten der an der Forschung beteiligten Menschen. Zum anderen sind es Portraits der Forscher- und MitforscherInnen, die von Bernd Plake auf der Grundlage von Fotos künstlerisch überarbeitet wurden.

Das Herstellen der Texte durch viele an der Forschung beteiligte Menschen war ein eigenes Projekt. Diese Teilhabe an der Veröffentlichung von Lebenssituationen und -verläufen war uns wichtig. Sie entspricht unserer generellen Zielsetzung, mit Menschen zu arbeiten und nicht über sie und ihre Köpfe hinweg Aussagen zu machen, Diagnosen zu stellen – oder eben Forschung zu betreiben. Das hat uns – und wir hoffen auch den anderen Beteiligten – neben einiger Mühe vor allem viel Spaß gemacht.

Kurt Bader





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