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HelfensbedĂĽrftig

Leseprobe

Gebrauchsanweisung

Das Wort »helfensbedürftig«, das es in der deutschen Sprache eigentlich gar nicht gibt, ist mir beim Schreiben meiner letzten Bücher fast versehentlich aus der Feder gerutscht, hat mir aber inzwischen die meisten positiven Zuschriften von Leserinnen und Lesern eingetragen. Deshalb will ich es diesem Buch voranstellen – natürlich mit der ironischen Brechung, dass ich mit meinem gesund-egoistischen, natürlichen Willen dieses Bedürfnis gar nicht – oder nur widerwillig – wollen kann. Höchstens im Selbstgespräch würde ich einräumen: »Naja, vielleicht brauche ich das Bedürfnis zu helfen ein kleines bisschen doch, wenn es bloß nicht zu viel ist. Außerdem liest man doch täglich in der Zeitung, dass die Menschen immer mehr nur an sich denken; und hat nicht bis vor Kurzem der Party-Joke: ›Du hast ja ein Helfersyndrom‹ gezündet? Dieser witzigen Paradoxie versuche ich, mit dem sachlicheren Untertitel dieses Buches auf die Spur zu kommen.

Denn inzwischen gibt es hinreichend empirisch gesicherte Gründe dafür, dass heute – im Unterschied zu früher – ein bis zwei Drittel der Bevölkerung dazu neigen, einen Teil ihrer so schönen freien Zeit als »soziale Zeit« für fremde Andere zu verausgaben und dass es so zu einer Art neuer Bürgerhilfebewegung gekommen ist, für die »Leben und sterben, wo ich hingehöre« ein Handbuch geworden ist.
In den letzten dreißig Jahren sind so viele neue ambulante Hilfeformen für die Inklusion integrationsbedürftiger Bürger – nicht zuletzt im »Bürger-Profi-Mix« – erprobt worden, dass wir heute vor zwei ganz anderen Fragen stehen, die die Fragen dieses Buches sein sollen. Da ist einmal die Frage, wie man die unendlich vielen gelungenen Beispiele für neue Hilfeformen sammelt, kritisch bewertet und schließlich so verallgemeinert, dass daraus eine neue und zukunftsfähige Hilfekultur für alle wird. Dazu braucht man aber jetzt nicht mehr nur die Bürger- und Profihelfer an der Basis, sondern jetzt muss man auch die Verantwortlichen und Machthaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Hierarchien – von der Kommune über die Wirtschaft bis zur Bundespolitik – ins Boot holen, was mein Anliegen mit diesem Buch ist.

Um das zu erreichen, empfiehlt es sich aber zum anderen, besser verstehen zu lernen, wie es zu einem so tiefgehenden Verhaltenswandels eines größeren Teils der Bürger – von der gesund-egoistischen Selbstbestimmung allein hin zu einem Engagement auch für fremde Andere – hat kommen können, weil eine solche Veränderung geradezu epochalen Tiefgang haben muss. Dazu müssen wir uns aber eines historischen Denkens erinnern, das über die letzte Legislaturperiode und auch über Hitler hinausgeht, vielmehr die Unterschiede zwischen (100-jährigen) Epochen herausarbeitet. Und das ist die andere Absicht dieses Buches: Ich möchte nämlich die auch für mich neue Hypothese testen, ob wir uns nicht vielleicht seit Kurzem in einem Umbruch zwischen zwei Epochen befinden: Von der 150-jährigen Epoche der Industriegesellschaft zu einer anderen Epoche, für die man naturgemäß noch keinen Namen wissen kann und die ich daher (als Arbeitshypothese) Dienstleistungsgesellschaft nenne, was zunächst mal banal klingt, aber nicht banal bleiben muss.

Ein Unterschied zwischen den Epochen liegt schon mal auf der Hand: In der Industriegesellschaft haben wir die Menschen zur Hilfe gebracht, in der Dienstleistungsgesellschaft bringen wir die Hilfe zu den Menschen, wobei die Gründe hierfür noch herauszuarbeiten sind. Etwas tiefer gehend mag schon sein, dass wir im Umgang mit Leben und Sterben der Menschen in der Industrieepoche vorwiegend auf die »Aktivitäten des Alltags« geachtet haben, während es im Dienstleistungsjahrhundert wohl mehr auch um die »Passivitäten des Alltags« geht, wofür dieses vermutlich auch die besseren Voraussetzungen bietet. Und dass das passive Erleben der anderen Dinge und Menschen schon die Kindheit ausmacht, hat mit atemberaubender Intensität der Philosoph Walter Benjamin gezeigt. Von hier aus ist es nicht weit bis zu Benjamins Interpretation eines Bildes von Paul Klee, in dem dieser einen Engel in Abwehrhaltung gegen einen Sturm gemalt hat; Benjamin: »Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« Damit symbolisiert Benjamin, dass wir die vergangene Industrieepoche nicht einfach mit Fortschritt (davon gab es natürlich – bleibend-segensreich – jede Menge) gleichsetzen dürfen: vielmehr müssen wir heute auch deren Schattenseiten und menschheitsgeschichtlichen Perversionen wahrnehmen. Und dazu gehört zweifellos die systematische Ausgrenzung von Menschen in Institutionen. Zur Abwehr dieses Fortschritt-Sturms sind wir zu schwach und brauchen daher – so Benjamin – den Klee-Engel, insbesondere im Unterschied zu einer nächsten Epoche. Das Titelbild dieses Buches zeigt eine Abwandlung dieses bedeutungsschweren Klee-Engels durch den Münchner Künstler Günter Neupel, wie er – in der Rahmung dargestellt – die Inklusion aller Bürger eines Sozialraums bewacht. Ich verdanke den Hinweis auf diesen Zusammenhang dem tollen kleinen Taschenbuch-Bestseller »Empört Euch!« von Stéphane Hessel.

Die Verzahnung meiner beiden Hauptanliegen mag es glaubhafter machen, dass wir in der Tat in absehbarer Zeit so weit sein können, wenn wir bloß wollen, dass alle Menschen mit Handicaps bis hin zur Demenz, ihrem Wunsch folgend, in eigenen vier Wänden oder zumindest in der Vertrautheit ihres Stadtviertels bzw. Dorfes leben und sterben. Da ich aber trotz alledem mehr Praktiker als Theoretiker bin, habe ich alle Stufen meiner Gedankenführung mit möglichst vielen praktischen Beispielen (mit Adresse) garniert und dadurch anregend gemacht, soweit sie mir auf meinen vielen Vortrags- und Beratungsreisen, mit Vorliebe an die bürgerschaftliche Basis, bekannt wurden.

In der Gliederung finden Sie nach dieser Gebrauchsanweisung zunächst einen Kurzbericht über den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Bürgerhilfebewegung (I.) und danach eine ausführliche Aufbereitung meiner Gedanken zum gegenwärtigen Epochenumbruch von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft (II.). Danach wird es dann wieder praktischer (III.), wenn ich alle jeweils Betroffenen, die Basis-Profis und -Bürger und die jeweils Verantwortlichen darauf anspreche, was sie auf dem Weg der Verallgemeinerung der vielen bewährten Einzelbeispiele mit wem zu tun haben. Das erfolgt in konzentrischen Kreisen in zehn Kapiteln – vom Konkreten zum Allgemeinen: 1. Selbsthilfe, 2. Familienhilfe, 3. Sozialraum- und Nachbarschaftshilfe, 4. kirchliche Gemeindehilfe, 5. Bildungsmedien, 6. Kommunale Initiativen, 7. Beiträge der Wirtschaft, 8. die Rolle der Verantwortlichen für Gesundheit und Soziales; 9. folgen die Verantwortlichen für die Heime, deren Schlüsselstellung für ein zukunftsfähiges Hilfesystem entscheidend ist, weshalb, wenn ich ihnen nicht einleuchte, das Buch im Wesentlichen für die Katz war; und ich lande 10. bei den politisch Verantwortlichen und beim Gesetzgeber, die zu ihrer Verallgemeinerungs-Bedeutung für eine neue, tragfähige Hilfekultur erst in Zukunft finden müssen.

Zur Lektüre ist einiges gewöhnungsbedürftig: So müssen Sie einmal mit einigen Wiederholungen rechnen, von denen ich hoffe, dass es sich dabei nur um mir besonders wichtige Gedanken handelt; im Übrigen stütze ich mich dabei auf die Erkenntnisse der Neurobiologen, für die gelungenes Lernen vor allem über Wiederholungen erfolgt. Außerdem soll sich jedes Kapitel notfalls – schon wegen der verschiedenartigen Ansprechpartner – auch einzeln lesen lassen.

Zum anderen habe ich bewusst für die jeweiligen praktischen Situationen Beispiele aus allen möglichen diagnostischen Bereichen versammelt, um damit didaktisch bewusst zu machen, dass eine zukunftsfähige Hilfekultur heute mehr sozialraum-zentriert zu sein hat als früher spezialistisch und diagnose-zentriert. Dies auch noch mal als ein kleines Beispiel dafür, dass wir alle dazu neigen, während eines Epochenumbruchs in Begriffen der vergangenen Epoche (hier Industriegesellschaft) zu denken, weil wir nur diese Begriffe gelernt haben und die Begriffe der erst kommenden Epoche noch nicht kennen können – eine Quelle dramatischer und vielfältiger Denkfehler!

Zum Schluss möchte ich dieses Buch zwei Hamburger Schwestern widmen, denen ich viel zu verdanken habe und die gemeinsam fast 200 Jahre alt sind – sozusagen in »Generations-Solidarität«:
Da ist einmal Dorothea Buck (94 Jahre), die wegen ihrer Psychosen in der NS-Zeit, in Bethel/Bielefeld durchaus mit Überzeugung der Verantwortlichen, zwangssterilisiert wurde, lebenslang unter der Sprachlosigkeit der Psychiatrie-Profis gelitten hat, gleichwohl später Bildhauerin wurde und in den letzten Jahrzehnten sowohl den »Bund der ›Euthanasie‹-Geschädigten und Zwangssterilisierten« als auch den »Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener« mit-gegründet hat – bis heute eine Symbolfigur der Hoffnungen psychisch Kranker.
Und da ist zum anderen ihre mit 92 Jahren jüngere Schwester, Dr. Anne Fischer, selbst Pädagogin (»Situationspädagogik«), die in lebenslanger Treue das bedeutende philosophische und pädagogische Erbe ihres früh verstorbenen Ehemannes Franz, etwa durch Gründung der »Franz Fischer Gesellschaft«, pflegt, wohnhaft in Norderstedt bei Hamburg, wo sie bis heute sozialpolitisch aktiv ist. Ihr verdanke ich die poetisch dichteste Beschreibung der Situation des Alters: »Weil ›gehören‹ von ›hören‹ kommt, gilt für mich: Ich gehöre in meine Wohnung, weil ich jetzt, wo meine Freunde fast alle gestorben sind, die Stimmen der Dinge in meiner Wohnung höre; denn jetzt sind sie meine Freunde.«
Beide Schwestern gehören zu den klarsichtigsten Menschen, die ich kennenlernen durfte.


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