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Integrationsunternehmen als Wegweiser zur Inklusion

Leseprobe

Vorwort: Ein Erfolg der Zivilgesellschaft

Von Dr. Dorothee Freudenberg, Vorsitzende Kuratorium Freudenberg Stiftung, Frankfurt/Main

Vor vierzig Jahren wurde mit den Bundestagsdrucksachen 7/4200 und 7/4201 der „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung“ vorgelegt – die
Psychiatrie-Enquete. Der erschütternde Bericht ist ein Meilenstein der deutschen Gesundheits- und Sozialgeschichte, denn die Schilderung der „elenden und menschenunwürdigen Verhältnisse“, unter denen psychisch kranke Menschen in unserem Land leben mussten, löste die deutsche Psychiatriereform aus.
Die Bundesregierung setzte eine Expertenkommission unter Leitung von Prof. Dr. Caspar Kulenkampff ein, die beratend ein breit angelegtes Modellprogramm begleitete und auswertete und schließlich umfangreiche Empfehlungen veröffentlichte. Ihr Kern war die Beendigung der Langzeithospitalisierung psychisch Kranker mit dem Ziel ihrer Integration in die Kommunen. Damit wurde der Weg geebnet zu einer Humanisierung der Psychiatrie mit dem Aufbau flächendeckender Nachsorgeangebote in den Gemeinden.

Blindstelle Arbeitswelt
Mit der Schließung der großen Anstalten wurden Tausende Langzeitkranker entlassen, viele von ihnen allerdings in entlegene Heime ohne Fachpersonal. Die meisten profitierten jedoch von der Reform und konnten in die neuen sozialpsychiatrischen Wohnungen und Wohngruppen gemeinnütziger Träger ziehen, wo sie von einer engagierten Mitarbeiterschaft betreut wurden. Allerdings wurde bald eine Blindstelle der Expertenkommission schmerzlich deutlich: Die von Ärzten dominierte Kommission hatte in ihrem Bericht das ganze Feld der beruflichen Förderung und Beschäftigung der psychisch beeinträchtigten Menschen nicht ausreichend berücksichtigt.
Auf dem damals zunehmend angespannten Arbeitsmarkt hatten die ehemaligen Psychiatriepatienten keine Chance. Was aber sollten die in die neue Freiheit Entlassenen nun den ganzen Tag über tun? In „ihren“ Anstalten hatten die meisten von ihnen eine, wenn auch dürftige Tagesstruktur gehabt, oft in Form von anstaltsinternen Hilfsarbeiten in der Großküche oder bei der Parkpflege. Solche Beschäftigungen waren für sie in den Landkreisen und Städten nicht zu finden. Auch die Werkstätten für behinderte Menschen waren keine Alternative. Fast alle lehnten die Aufnahme psychisch Kranker ab, denn sie waren konzipiert für Menschen mit geistigen oder schweren Körper- und Sinnesbehinderungen. Aber auch viele psychisch beeinträchtigte Menschen wollten nicht in einer Behindertenwerkstatt arbeiten, sondern wünschten sich anspruchsvollere Betätigungen, um an ihre frühere Berufsausbildung oder ihr Studium (dieses oft abgebrochen wegen der seelischen Erkrankung) wieder anzuknüpfen. Außerdem hatten sie das Ziel, endlich aus der Sozialhilfe herauszukommen. Es gab viele Wünsche, aber keine realistische Perspektive.
In dieser Situation entstanden die ersten Firmen, in denen Gesunde gemeinsam mit Ex-Patienten arbeiten wollten, damit diese sich aus der Not der Nichtbeschäftigung und ewigen Abhängigkeit von Sozialhilfe oder Erwerbsunfähigkeitsrente befreien könnten. Die Firmen-Gründer hatten in den Sozialbehörden viele Vorbehalte und Hürden zu überwinden, denn eine solche Konstruktion passte nicht ins deutsche Sozialsystem und ließ sich somit kaum finanzieren.
Als Glücksfall erwies sich, dass die Hauptfürsorgestelle des Landschaftsverbandes Rheinland Starthilfe für die Nostra-Verbund-Werkstätten in Köln gab. Mit diesem Projekt wollte man für schwerbehinderte Menschen eine Alternative zur Werkstatt schaffen, nämlich Arbeit unter möglichst normalen Bedingungen. Das Kölner Amt schuf damit eine Blaupause für die Förderung der mit Argwohn betrachteten Firmeninitiativen aus der Psycho-Szene.

Es begann mit Selbsthilfe-Firmen
Deren Pioniere hatten sich mittlerweile in einem bundesweiten Arbeitskreis der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) zusammengetan. Sie entwarfen das Konzept der sogenannten Selbsthilfe-Firmen. Ermutigung kam aus dem damals erstarkenden alternativen Bereich, in dem die Gründung selbstverwalteter und möglichst unhierarchischer Betriebe (Handwerk, kleine Öko-Bauernhöfe, Tagungsstätten etc.) erprobt wurde. Dank der seinerzeit großzügig finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gelangen mutige Starts von Selbsthilfe-Firmen in Münster, Gütersloh, Walldorf, Freiburg, Berlin und anderen Orten.
Nachdem man dank der damals offensiv betriebenen Förderung von Arbeitslosen relativ schnell an die ersten Lohn-Gelder und Aufträge herangekommen war, folgte in der Regel bald eine Phase der Ernüchterung. Den Firmengründern fehlte es nicht an Fingerspitzengefühl im Umgang mit psychisch Beeinträchtigten, oft hatten sie zudem handwerkliche Vorerfahrungen, aber ihre betriebswirtschaftlichen Kenntnisse waren mangelhaft und viele Betriebe gerieten bald in eine wirtschaftliche Schieflage.
Etwa in dieser Zeit, nämlich 1984, wurde die Freudenberg Stiftung gegründet, deren Schwerpunkte in der Bildungsförderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher, der Integration von Migranten und kulturellen Minderheiten und der Förderung der demokratischen Kultur liegen. Es ist insbesondere Dr. Rudolf Freudenberg zu verdanken, dass in einem weiteren Themenfeld der Stiftung die Impulse der Psychiatriereform aufgegriffen wurden und zwar im Hinblick auf das neue Problem der fehlenden Arbeitsmöglichkeiten für die aus den Anstalten entlassenen Patienten und Patientinnen.
Der Psychiater Rudolf Freudenberg war wegen der jüdischen Abstammung seiner Ehefrau in der Zeit des Nationalsozialismus nach England geflohen, wo er Wesentliches zur Öffnung der Kliniken und zur Entwicklung der beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker beitrug. Gemeinsam mit Douglas Bennett gelang ihm der Nachweis, dass der Genesungsverlauf und die soziale Integration deutlich positiv beeinflusst werden, wenn die ehemaligen Patienten und Patientinnen Arbeitsplätze unter möglichst normalen Bedingungen einnehmen können. Diese Erfahrungen brachte er in die entstehende Freudenberg Stiftung ein, bevor er leider noch vor der Gründung der Stiftung verstarb.

Die Gründung der FAF
Nachdem die Freudenberg Stiftung zunächst einige Selbsthilfe-Firmen gefördert hatte, wandte sie sich bald der Frage zu, wie diesen Firmen das nötige betriebswirtschaftliche Wissen vermittelt werden könnte. Kompetent beraten wurde sie hierbei von Prof. Dr. Kulenkampff, der auch einige Jahre dem Kuratorium der Stiftung angehörte. Es entstand die Idee, den Selbsthilfe-Firmen durch Know-how in Form von Gründerberatung und Vermittlung betriebswirtschaftlicher Kompetenz unter die Arme zu greifen, nicht aber durch Betriebskostenzuschüsse, weil dies ihrem selbstgesteckten Ziel, sich durch ihre Dienstleistungen und Produkte am Markt zu refinanzieren, entgegenliefe. Realisiert wurde dies mittels der 1985 gegründeten FAF, dem „Verein zur Förderung von Arbeitsinitiativen und Firmenprojekten – FAF“, dem die Stiftung den Aufbau einer Beratungsstelle ermöglichte. Diese bewährte sich sehr und mit dem FAF e. V. hatten – und haben bis heute! – die Projekte ein fachliches Zentrum. Der Verein betrieb für die Selbsthilfe-Firmen von Beginn an auch eine aktive Lobbyarbeit, die er bald der hierfür gegründeten Interessengemeinschaft bag-if, der Bundesarbeitsgemeinschaft Integrationsfirmen, überließ.
FAF und bag-if erwarben sich ein hohes Ansehen in Politik und Verwaltung, für die sie diverse Gutachten anfertigten. Sicher ist es ihnen mit zu verdanken, dass 1991 die Firmen als „Integrationsprojekte“ im Sozialgesetzbuch IX verankert wurden. Diese Gesetzesnovelle führte zu einem regelrechten Gründungsboom, der wesentlich unterstützt wurde durch Starthilfen der Stiftung Aktion Mensch. Heute gibt es in Deutschland hunderte von Integrationsfirmen, einige bestehen bereits seit über 30 Jahren. Es ist eine Erfolgsgeschichte, auf die wir gemeinsam stolz sein dürfen.
Die Freudenberg Stiftung begleitet die innovative Entwicklung der Integrationsfirmen durch die jährliche Vergabe des Rudolf-Freudenberg-Preises, der vor zehn Jahren erstmals vergeben wurde. Die Vielfalt der ausgezeichneten Firmenprojekte ist beeindruckend; wir freuen uns über die Kreativität, mit der immer wieder neue Geschäftsfelder erschlossen werden.

Chancen für den Zuverdienst
Gemäß ihrem Motto, sich den „Lücken staatlichen Handelns“ zuzuwenden, befasst sich die Freudenberg Stiftung seit einigen Jahren besonders mit dem „Zuverdienst“. Auch hierbei ist die bag-if ihr Kooperationspartner. Der Begriff „Zuverdienst“ steht für sinnvolleArbeitsmöglichkeiten für psychisch beeinträchtigte Menschen, die in ihrer Leistungsfähigkeit so stark eingeschränkt sind, dass für sie die Arbeit in einer Integrationsfirma nicht möglich ist. Auch diese Menschen wollen nützlich sein und sich mit ihren Fähigkeiten in die Gesellschaft einbringen. Es besteht die Hoffnung, dass das in der UN-Konvention verankerte Inklusionsgebot dazu führt, dass die Teilhabe am Arbeitsleben auch den am stärksten Betroffenen leichter möglich wird.
Wir wünschen uns eine breite Beachtung dieses Buches bei Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und zuletzt in sozialen und bürgerschaftlichen Organisationen aller Art, denn ohne Engagement aus der Zivilgesellschaft sind die Inklusions-Ziele der Vereinten Nationen, denen die Bundesrepublik zugestimmt hat, nicht zu erreichen. Die weit gediehene Realisierung der Psychiatrie-Reform ist dafür ein ermutigendes Beispiel; erst durch die Gründung neuer psychosozialer Hilfsvereinigungen in Kreisen und Städten, die Selbstorganisation der Angehörigen und schließlich den Zusammenschluss der Psychiatrie-Erfahrenen bekam dieses große Vorhaben die notwendige Schubkraft. Vor allen trugen sie dazu bei, durch Angebote in den Gemeinden die Berührungsängste und Vorbehalte gegenüber psychisch Kranken abzubauen. Auch die Integrationsfirmen, deren Entwicklung dieses Buch gewidmet ist, sind ein Beleg dafür, sie verdanken ihr Entstehen nicht staatlichen Maßnahmen, sondern Initiativen aus der Bürgerschaft. Insofern ist dies alles zusammen ein großer Erfolg der Zivilgesellschaft, als deren Teil sich unsere Stiftung begreift.


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