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Die Sängerin

Leseprobe

15.14 Uhr: Die Tüte der Sängerin

Es ist noch einmal kalt geworden; so kalt, dass Karsten jetzt sogar seine Skimütze aufsetzt. Ein letzter Schneerest leuchtet in den Anlagen.
Während der wenigen Schritte zum Krisendienst fixiert Karsten die Tür des Ladenlokals, genauer: die Goldschrift auf der braunen Plastiktüte. „Diese Zicke, diese blöde Kuh“, schimpft er vor sich hin, „dieses dumme Stück!“ In diesen ersten Ärger mischt sich langsam aber auch Neugierde. Wie viele Menschen, die sich um Notfälle kümmern – Feuerwehrleute, Polizisten, Sanitäter, schätzt auch Karsten den Kitzel, die Erregung, die Adrenalinausschüttung bei emotionalem Stress.
Wenn die Scherze der Sängerin nur nicht so abgeschmackt wären! Die nervt, piesackt und quält den kleinen Krisendienst und sein Team nun schon seit Jahren. Solche Kunden kennt jede Hotline, jede Notfallnummer auf der ganzen Welt – also ein internationales Problem, und die Versuche von Karsten Schäfer und Kollegen, es zu bewältigen, werden auf Fachtagungen und in großen Gesprächsrunden diskutiert. Die Sängerin ist eine unangenehme Nebenwirkung: so wie das Licht (jaja, der Leuchttürme) nicht nur dem Verzweifelten im Dunkeln leuchtet, sondern auch Stechmücken anlockt. Ist die Sängerin eine Stechmücke?
Karsten nimmt sich immer wieder vor, jeden Menschen einzig- und damit großartig zu finden. Jedes Verhalten ist einfühlbar. Alles hat seine Gründe. Aber bei der Sängerin ist Schluss. Er findet ihre Scherze ärgerlich und doof, bescheuert und fies. Wie viele Besprechungen haben sich nur um sie gedreht? Seit einigen Monaten hat der Krisendienst einen neuen Supervisor, einen Berater, einen ergrauten, griesgrämigen Psychologen, der für ein Schweinegeld jede Teamsitzung mit seinem süffisanten Grinsen lähmt. Dieser Hachmann ist regelrecht fasziniert davon, wie sie sich über die Sängerin aufregen. „Merkt ihr nicht“, meint er dann jedes Mal, „dass es genau das ist, was sie will?“
Na klasse, sehr hilfreich ... Manchmal läuft die ganze Sitzung so ab: alle Mitarbeiter erzählen die letzten Streiche der Sängerin und warten, dass Hachmann sich mit ihnen zusammen aufregt. „Dreiundzwanzigmal hat sie letzte Woche angerufen, als ich Dienst hatte“, meinte zum Beispiel die kernige Reinhild von der Sozialstation. „Und jeden, na, fast jeden Tag hat sie uns einen Brief mit irgendwelchem Scheiß, das ist übrigens wörtlich gemeint, ja mit Scheiß, in den Briefkasten gesteckt. Ekelig!“
Karsten kommt das ganze Szenario manchmal so vor, als würde sich eine hysterische Geschwisterschar bei der Mutter über den pubertären großen Bruder beschweren. Dann wäre Hachmann also die Mutti, die sich zwar über das Gezeter ärgert, aber gleichzeitig Verständnis für die Verstörung hat. Nur dass Mutti nicht Hachmanns Honorarsätze kassiert. Auf jeden Fall haben sie sich inzwischen darauf geeinigt, mit der Sängerin tatsächlich wie mit einem ungezogenen Lausbuben umzugehen: Möglichst ignorieren – und gelassen bleiben. Schließlich waren wir alle mal jung ...

Und was mag nun diesmal in der Tüte sein? Fäkalien, verschimmelte Speisereste, Sand vom Spielplatz oder wie bei seinem letzten Dienst ein Gemisch von Kleister und Schnipseln aus einem Männermagazin? Sich immer das Schlimmste vorstellen, imaginieren – das hat Karsten gelernt und erfolgreich seit vielen Jahren praktiziert. Er impft sich quasi selbst, er härtet sich ab, er panzert sich. Wie rührend angesichts der Prüfungen, die ihm heute bevorstehen.
Er steht auf den Stufen und unterzieht die Tüte einer vorsichtigen Exploration. Behutsam greift er nach den beiden Trageöffnungen, nimmt sie von dem runden Metallknauf, prüft dabei das Gewicht. Die Tüte ist schwer, so schwer wie eine Portion Butter, also doch eher leicht, vielleicht wiegt sie ein halbes Pfund? Er hält in jeder Hand einen Henkel, streckt die Arme nach unten, so dass die Tüte sehr tief hängt. Er öffnet sie und linst – auf alles gefasst – hinein.
Fast ist er enttäuscht, als er eigentlich gar nichts sieht. Einwickelpapier, Geschenkband, eine selbst gemachte Karte. Ein Anflug eines süßen Geruchs (Schimmel, Marmelade?) steigt zu seinen Nasenlöchern.
Er stellt die Tüte zügig auf den Boden, überlegt kurz und atmet tief, wappnet sich erneut, und wirft einen zweiten Blick hinein. Die Sache bleibt unklar. Er zögert, dann beschließt er, in der Sicherheit des Ladens die Bescherung genauer in Augenschein zu nehmen.
Drinnen kippt er den Inhalt der Plastiktüte mit beträchtlichem Abstand auf den Tisch. Karsten, der Angsthase! Das Päckchen bleibt ein längliches Kästchen, in geschmackvolles handgeschöpftes Papier gewickelt, naturfarben, ein lindgrünes Band mit Schleife drum herum. Er schüttelt das Päckchen und hört es leise rappeln. Auf der beigefügten Karte findet sich neben einigen locker hingeworfenen Blümchen die Aufklärung: Für Harry Fischer. Und auf der Rückseite: Alles Liebe, Deine M.
Also doch nicht von der Sängerin, der „Zicke“? Eigentlich ist das doch viel zu geschmackvoll, viel zu seriös. Das wäre was Neues. Er riecht an dem kleinen, eingewickelten Kästchen: Schokolade. Trüffel? Vielleicht sogar Champagner-Trüffel, die kleinen weißen, die er sich standhaft verbietet? Er grübelt, lässt einige Assoziationen durch sein Gehirn fließen, bis es ihm wieder einfällt: Moni! Wollte Harry nicht eben heute mit Moni ein Beziehungsproblem klären, und deshalb seinen Dienst wegtauschen? Karsten kann sich nicht entscheiden, ob er sich nun hintergangen fühlen soll oder nicht. Vielleicht hat Harry längst die nächste Nummer laufen, womöglich innerhalb des Krisendienstes? Mal ganz was Neues, denkt Karsten und verliert sich in einem kleinen, spöttischen Anti-Harry-Monolog. Man könnte mal die Dienstpläne abchecken, die echten, die tatsächlich stattgefundenen Paarungen überprüfen. Vielleicht hat Harry häufiger rumgetauscht? Karsten hat ganz kurz den Impuls, den entsprechenden Ordner aus dem Regal zu holen, hebt schon den Arm, bricht dann aber seine Aktion schnell wieder ab – Schluss mit dem Blödsinn!
Karsten packt das Päckchen samt Karte Alles Liebe, Deine M. wieder in die Plastiktüte und legt sie auf den Schreibtisch. Es wird höchste Zeit, den Laden in Schwung zu bringen, für Yvonne alles vorzubereiten. Darum, und nicht um die Abgründe der Krisenteam-Beziehungskisten auszuloten, ist er etwas früher gekommen.
Er nimmt die technischen Gerätschaften in Betrieb: die Kaffeemaschine in der kleinen Küche, ohne deren Blubbern keiner der Leuchttürme in der Stadt in Gang zu kommen scheint; die Festplatten und Bildschirme und Handies und Drucker, na, eben alles, was Strom braucht. (...)


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