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Brückenschlag Band 29, 2013

Rezensionen

Astrid Delcamp in: Soziale Psychiatrie:
„Vielfach entstand Einsamkeit bei uns Menschen, egal ob gesund oder krank, aus dem Bestreben, sich vor Verletzungen zu schützen, was zumindest zeitweilig überlebensnotwendig sein kann. Bei alledem sind wir allerdings nicht ausschließlich Opfer unserer Lebens- und /oder Krankheitsschicksale, sondern auch immer Gestalter“ (Renate Schernus, S. 24).
In bewährter Form und farbigem Design lädt dieser „Brückenschlag“, Band 29, den Lesenden ein, sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben: Mit teilweise sehr persönlichen Erfahrungsberichten zum Thema „Einsamkeit“ bietet er vielstimmige Antworten auf die Fragen: Was ist Einsamkeit? Wie fühlt sie sich an? Was kann dagegen getan werden? Sind Einsamkeit und Alleinsein das Gleiche? Müssen wir allein sein, um einsam zu sein? Die Beiträge beschäftigen sich aus vielfältigen Perspektiven in Form von Gedichten, Texten, Bildern, Aufsätzen und Stellungnahmen mit einem existenziellen Thema des Menschseins. Psychiatriespezifische Texte und Gedichte sowie Geschichten, die viele Menschen auch ohne psychische Erkrankung erleben und nachempfinden können, bilden eine gute Mischung.
Die Autorinnen und Autoren bewegen die Leserschaft mit Texten von verzweifelter Einsamkeit und kreativem Alleinsein, mit eindrücklich geschilderten Erfahrungen von Trennung (Ilse Eichenbrenner: „Unsichtbare Fäden“) und Tod (Rainer Köchert: „ Einsamkeit und Freitod“) oder „Einsamkeit als Quelle von Suizidalität“ (Michael Eink: „Ohne dich will ich nicht sein"), aber auch mit Geschichten aus dem Leben, die Mut machen und ein Gefühl für Hoffnung auf Genesung und Glück erzeugen. Michael Herrmann zum Beispiel schreibt in seinem Beitrag „Raus aus der Einsamkeit“ über ein Recoverymodell: die Zeichnung dazu (S. 160) finde ich sehr gelungen.
Svenja Bunt gibt eine klare Antwort auf die Frage, ob psychoseerkrankte Menschen einsam sein müssen, und formuliert ein paar Tipps, die bei psychosebedingter Einsamkeit helfen können. Ihr Fazit: „Psychoseerkrankte Menschen müssen nicht einsam sein. Wir können das schaffen, die Einsamkeit zu überwinden. Manchmal ist das allerdings mit einem jahrelangen Entwicklungsprozess verbunden. Man braucht also Geduld: mit sich selbst und der Welt“ (Bunt S. 152). Sie macht Mut, das gefällt mir.
Über die Erfahrungen mit und in der Klinik berichten Silvia Bauch („Nirgendwo bist du so alleine wie auf der Akutstation“) und Günter Neupel („Im Bauch der Klinik“). Sein Bild „Die Kraft meines verborgenes Lebens“ im Aufsatz von Renate Schernus (S.17) hat mich sehr angesprochen. Auch die BOB-Comics und die Fotos finde ich sehr ansprechend, besonders das zweiseitige Foto von Güde Hansen fällt ins Auge (S.132/133).
Gut gefallen haben mir die Beiträge von Peter Mannsdorff . „Die kleine Welt der Lotte Walter“ beschreibt sehr feinfühlig eine Frau mit eine Demenzerkrankung. In „Gestörter Zweisamkeit“ wird die Geschichte von Bruno erzählt, der seine Frau verliert. Beeindruckt hat mich auch das Bild von Boris Pikula „Der Schrei des Schmetterlings“ (S.195) am Ende der Geschichte.
Ehrlich gesagt war ich ein bisschen skeptisch, als ich diesen „Brückenschlag“ mit seinem dunklen Cover das erste Mal in der Hand hielt. Wird das nicht eine düstere Sache werden, dieses Buch zu lesen? Ich wurde vom Gegenenteil überzeugt. Wieder einmal hat der Paranus-Verlag es geschafft, mit den Beiträgen von professionell Tätigen, Angehörigen und Expertinnen und Experten aus Erfahrung sowie vielen schönen Fotos, Bildern und BOB-Comics die umfangreichen Facetten der Einsamkeit aufzuzeigen.
Vielen Dank an die vielen Menschen, Autorinnen und Autoren, Künstler und Künstlerinnen, die an der Entstehung dieses lesenswerten Fachbuches beteiligt waren. Zum Schluss noch ein Hinweis auf das spannende Thema der 30. Ausgabe: „Leben in Nischen“. Ich freue mich schon jetzt darauf.

Verena Liebers in: Eppendorfer:
Einsam still und leise… – Der „Brückenschlag“ und die Aspekte der Verlorenheit
Einsamkeit ist ein schillernder Begriff. Die Textsammlung im jüngsten „Brückenschlag“ macht dies auf faszinierende Weise deutlich. Die Zeitschrift vereint auch in dieser Ausgabe kritische sozialpsychiatrische Texte, sachliche Informationen, Lebenserfahrungen und berührende Kunst in Bild und Wort.
Einsamkeit kann schrecklich und schön zugleich sein. Es geht also nicht nur um Tragik und Traurigkeit, sondern auch um die wohltuende Stille, den Abstand zu Stress und Großstadtlärm und die Liebe als Trost und Gegenpol. Poetische Beiträge wechseln sich mit wissenschaftlichen Stellungnahmen und Kurzgeschichten ab und nehmen den Leser mit auf eine Reise durch ganz unterschiedliche Blickwinkel. Vor allem berührend sind die persönlichen Schicksale, die in den einzelnen Beiträgen durchschimmern. Einige Autoren erzählen von der Einsamkeit des psychotischen Erlebens, aber auch vielfältige andere Erfahrungen und Ideen kommen zur Sprache. Günter Storck berichtet zum Beispiel von seinen beruflichen Erfahrungen im Krankenhausbereich. Immer wieder versucht er sich während seiner Arbeit gegen die Nachwehen des Nationalsozialismus zu stemmen und bleibt dabei doch erschütternd allein. Er ist Zeuge von Misshandlungen, aber als er sich beschwert, wird er nur in eine andere Abteilung versetzt. Er bleibt sich selbst und seiner Gesinnung treu, aber ist damit in diesem grausamen Umfeld eben einsam.
Ilse Eichenbrenner beschreibt anrührend die Geschichte eines Mannes, der nach und nach die unsichtbaren Fäden entdeckt, die sich zwischen allen einsamen Menschen spannen. Und die sie in eine, wenn auch brüchige, Gemeinschaft heben.
Jens Clausen zeigt die Empfindung der Einsamkeit anhand einer Hotelgeschichte auf. In der Fremde ist der Reisende auf sich selbst zurückgeworfen und erlebt sich in seinem kleinen Hotelzimmer ohne sein vertrautes Umfeld als sehr allein.
Peter Mannsdorff berichtet über eine alte Dame, die sich die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem humorvollen Leben zusammensetzt. Wichtig ist dabei der Betreuer, der liebevoll auf ihre immer gleichen Fragen eingeht. Quasi als Pendant dazu schildert Mannsdorff einen Witwer, der über seinen maßlosen Schmerz in eine Traumwelt flüchtet. In seiner Fantasie lebt er gemeinsam mit seiner in Wirklichkeit verstorbenen Frau in der Lehne eines Schaukelstuhls. Erst der Besuch eines Sozialarbeiters bringt den alten Herrn in die traurige Realität zurück.
Wie immer im Brückenschlag ist die Autorenliste interessant. Neben erfahrenen Schriftstellern, Psychologen und Sozialpädagogen sind Menschen dabei, die ihre biografischen Angaben mit „versucht zu leben“ zusammenfassen oder Kriegserlebnisse und Psychiatrie-Aufenthalte nennen. Jeder, der hier schreibt, hat tatsächlich etwas zu sagen, und damit unterscheidet sich diese Zeitschrift wohltuend von Literaturheften, die nur um Wortspielereien kreisen.
Leserfreundlich wird das Heft auch durch die eindrücklichen Bilder, die teilweise sogar im Farbdruck wiedergegeben werden.
Insgesamt ist dem Brückenschlag-Team wieder eine kurzweilige Mischung gelungen, auch wenn die erste Seite der Einsamkeit überwiegt und die seligen Momente einsamer Urlaubszeiten nicht ausführlich in diese Textsammlung gefunden haben.

Andreas Manteufel in: systhema:
Das Leitthema des neuen Brückenschlags ist ein allgegenwärtiges, ebenso altes wie aktuelles Psychiatrie-Thema. Ich habe sogar den Eindruck, entgegen dem „Jeder-kommuniziert-mit-jedem“- Trend der „Generation Handy“ haben wir in unseren Behandlungen wieder vermehrt mit Menschen zu tun, die an Einsamkeit leiden und durch Einsamkeit krank werden.
„Je einsamer ich werde, umso schlimmer wird der Wahn, je schlimmer der Wahn wird, desto größer wird die Einsamkeit“ (S.85), schildert einer der Autoren seine Erfahrung. „Einsam war ich immer nur zu zweit“ ist der Lebensbericht einer anderen Autorin überschrieben. Offenbar decken sich die Phänomene der gefühlten Einsamkeit und des objektiven Alleinseins immer weniger. „Raus aus der Einsamkeit“ (S.160) lautet das Recovery-Motto eines ermutigenden Artikels von Michael Herrmann. Recovery, so sein Ansatz, bedeutet nicht, so zu werden, wie man vor der Erkrankung war, sondern bedeutet Gesundwerden mit einer ganz neuen Qualität, einer neuen Beziehungsqualität und einem neuen Selbstbewusstsein.
Wie in jedem Jahr bietet der Brückenschlag eine genussreiche Lektüre, auch bei schweren, existenziellen Themen. Die kurzen Geschichten, autobiografische Vignetten, Gedichte, Bilder oder Fotografien (alle in hervorragender Qualität wiedergegeben) mögen lustig oder traurig, kompliziert oder einfach, professionell oder hausgemacht, ernüchternd oder ermutigend sein: Allesamt sind sie ehrlich, pointiert, wahr. Es ist die viel zitierte „subjektive Seite der Psychiatrie“, die jeden Brückenschlag zu einem Gewinn macht. Meine Empfehlung ist, mit einem Brückenschlag jemandem ein schönes und anregendes Geschenk zu machen.


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