Suche:     

BrĂĽckenschlag Band 30, 2014

Rezensionen

Astrid Delcamp, Berlin in: Soziale Psychiatrie:
Last, but not least … Au revoir, »Brückenschlag«
Wie auch schon in den Jahren zuvor werden wir Leserinnen und Leser eingeladen, ein komplexes Thema, die vielfältigen Nischen des gesellschaftlichen Lebens, aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Mitteln (Sachtexte, Lyrik, Bilder) zu entdecken.
Der vorliegende Band 30 des »Brückenschlags« enthält persönliche Berichte, Stellungnahmen, Gedichte und viele schöne Bilder, die allesamt Erfahrungen vom Leben in und mit Nischen mitteilen.
Hier melden sich – in bewährter Tradition – Psychiatrie-Erfahrene zusammen mit professionell Tätigen gleichberechtigt zu Wort.
»Laut Duden geht das Wort ›Nische‹ etymologisch auf das Wort ›Nest‹ zurück«. Hier klingt an, dass Nischen etwas Behütendes, Beschützendes haben und Neues zum Leben erwecken können« (Schiedeck/Stahlmann, S. 13). Jürgen Schiedeck und Martin Stahlmann versuchen aufzuzeigen, wie widersprüchlich das Nischenphänomen in der modernen Gesellschaft ist, und beschreiben die Nische als Möglichkeitsraum (S. 20).
Gut gefallen hat mir auch der Ăśberblickstext, samt den darin abgebildeten Kunstwerken, über die Kunst von AuĂźenseitern von Turhan Demirel. Ein guter Einstieg mit Hinweis zum Weiterlesen: www.outsider-bildwelten.de oder www.outsider-artworld.com
Die Beiträge befassen sich unter dem Label »Leben in Nischen« thematisch mit Arbeit, künstlerischem Schaffen und der Erkrankung selbst. Im Speziellen geht es in mehreren Beiträgen um den Umgang mit Angst und Depression. Berührt hat mich der Erfahrungsbericht »Angst 2.0« von Wolfgang C. Goede; nützlich für andere Betroffene mag vielleicht sein Hinweis auf die Münchener Angst-Selbsthilfegruppe MASH sein. Auch Artur Hermannis Text »Von der Todesangst zur neuen Freiheit« beeindruckte mich sehr.
Die Texte über die Arbeit in einer ökologischen Gemeinschaft (Katja Marzahn), Nischen auf dem Arbeitsmarkt (Svenja Bunt) und das Schreiben im Rahmen eines Zuverdienstprojektes (Peter Mannsdorff) erzählen von Lebensentwürfen jenseits des Mainstreams. Arbeiten wird nicht nur als Broterwerb erlebt, sondern als etwas, was SpaĂź macht. Die Erkrankung als Wegbereiter für eine künstlerische Tätigkeit wird von Stefan Schift beschrieben, für andere ist das Zeichnen oder die Schriftstellerei eine Nische, die glücklich macht (Karsten Kirschke, Maria Ollinger). Am besten hat mir der Text von Amelie Bartelsen gefallen. »Was ist mit Sonntag? Birnes Psychosetagebuch« ist toll illustriert und gut geschrieben; eine originelle Idee, ein Tagebuch auf Postkarten für jeden Tag zu verteilen. Wer mehr wissen möchte, dem sei die Webadresse www.birnental.com ans Herz gelegt.
»Der ›Brückenschlag‹ war immer schon etwas Besonderes. Gegründet wurde er vor allem als Forum, um Texte von Psychiatrie-Erfahrenen zu veröffentlichen. Das war damals ein Novum. Es war noch keine Selbsthilfe, der Begriff ›Psychiatrie-Erfahrener‹ existierte noch nicht, die Psychoseseminare waren noch nicht gegründet, der Trialog noch nicht erfunden worden. Dass Texte von Psychiatrie-Erfahrenen einen Weg in die Ă–ffentlichkeit fanden, war eine groĂźe Seltenheit, ihre Mitwirkung oder Beteiligung war noch nicht denkbar. Der ›Brückenschlag‹ war in dieser Landschaft eine auĂźergewöhnliche Idee« (Prins, SP 3/2014, S. 52).
Besser als Sibylle Prins, eine der vielen Autoren und Autorinnen aus 30 Jahre »Brückenschlag«-Geschichte, kann ich es auch nicht sagen.
Mit Band 30 erscheint der »Brückenschlag« nun zum letzten Mal. Damit ist auch meine ݀ra‹, diese Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur und Kunst zu rezensieren, beendet. Darüber bin ich traurig, auch wenn die Beweggründe, die Zeitschrift einzustellen, nachvollziehbar sind. Mein Einstieg in die »Nischenwelt« des »Brückenschlags« begann 2006 mit dem Band 22 zum Thema »Turboleben und neue Ausgrenzung«. Es folgten die Bände »Die Macht der Liebe«, »Jugend – Ich? Suche? Sinn?«, »Wahn – Sinn – Wirklichkeit«, »Abschiede« sowie »Gesund werden – gesund bleiben«, »Mehr, mehr und immer mehr … Süchte« und »Einsamkeit«. Jeder einzelne dieser Bände hat mich persönlich berührt und mir Impulse gegeben. Nun schreibe ich last, but not least über das »Leben in Nischen«. Ich werde den »Brückenschlag« vermissen und danke allen, die diese Zeitschrift ermöglicht haben, für ihre Zeit, Mühe, Arbeit und Kreativität. Die Verdeutlichung der unterschiedlichen Perspektiven auf universelle Themen unserer menschlichen Existenz, die alle Bände auszeichnet, hat mir immer sehr gut gefallen und vor allem auch gutgetan. Auch in diesem Band gelingt es den Autoren und Autorinnen wieder, mich als Leserin in eine andere Welt, dieses letzte Mal in die der Nischen, zu entführen. Die Lektüre macht SpaĂź, erweitert den Horizont und regt an, Freiräume im eigenen Leben zu schaffen und neue Räume, gerne auch Nischen, zu entdecken. Au revoir, »Brückenschlag«. Merci! 

Andreas Manteufel auf www.systemagazin.de:
Das Ende einer Nische oder: Die letzte BrĂĽckenschlag-Rezension
Band 30 des Brückenschlags ist der letzte. Seit 1985 erscheinen diese Hefte im Buchformat einmal jährlich. In ihnen finden kurze Texte, Gedichte, Berichte und auch immer bestens reproduzierte Bilder oder Photographien Platz, vereint um ein Rahmenthema, zuletzt z.B. „Süchte“, „gesund werden – gesund bleiben“, „Abschiede“ oder „Wahn – Sinn – Wirklichkeit“. Autoren sind Menschen, die psychische Krankheit selbst erlebten oder noch erleben, oder in der Rolle als Angehörige, professionelle Behandler, Forscher, Wissenschaftler, Künstler, Literat oder einfach interessierter Mensch begleiten. Es geht immer um die subjektive Perspektive psychiatrisch relevanter Themen. Und es geht um den Stellenwert von Psychiatrie in all ihren Facetten in der Gesellschaft, also um „Sozialpsychiatrie“. Sicher haben die Herausgeber Fritz Bremer, Hartwig Hansen und Jürgen Blume mit der Einschätzung Recht, dass in den 30 Jahren seit Erscheinen des ersten Brückenschlags der Stellenwert von Psychiatrieerfahrenen und ihren Angehörigen auch in der „offiziellen“ Psychiatrie stark gewachsen ist. So stark, dass wohl viele Brücken inzwischen zum Betreten frei gegeben sind. Nicht verhehlen kann man, dass das natürlich häufig auch im Sinne einer political correctness zum „guten Ton“ gehört und die Hegemonialansprüche selbsternannter akademischer Experten in Sachen Krankheit und Gesundheit nicht im Geringsten antastet. Bequemlichkeit ist auch nicht zu erwarten, lässt man sich ernsthaft darauf ein, dass man alles in der Psychiatrie auch von einer anderen Seite her betrachten kann. Dass diese Sichtweise im Brückenschlag nie in einer kämpferischen oder protesthaften Art vermittelt wurde, sondern einfach und selbstbewusst daher kam, ist den Herausgebern (Henning Poersel als Gründungsherausgeber darf da übrigens nicht vergessen werden) hoch an zu rechnen.
So können die Brückenbauer des Paranus-Verlags mit Stolz auf ihre Arbeit zurückblicken und das Projekt Brückenschlag wie ein erwachsen gewordenes Kind los lassen. Unmissverständlich machen sie aber klar, dass es letztlich ökonomische Gründe sind, die keine weiteren Ausgaben mehr zulassen.
Ich selbst habe seit vielen Jahren Brückenschläge gelesen, verschenkt, rezensiert und zwei Mal darin auch einen eigenen Text veröffentlicht. Der Geist dieser Zeitschrift lebt in der Arbeit des Paranus-Verlags natürlich weiter. Und wer nun denkt: „Ja wenn ich davon gewusst hätte…“, der kann bei www.paranus.de selbstverständlich noch neue und alte Ausgaben erwerben. Der Blick über den eigenen Tellerrand, das Interesse an der subjektiven Seite, der Sinn für das Kreative und Künstlerische, das Skurrile und Verfremdete, das sind auch angemessene Leitmotive für ein systemisches Selbstverständnis. Eindeutigkeit gibt es schon genug auf der Welt.
Deshalb ist es mir eine Randnotiz wert, dass der Büchermarkt um eine Perle ärmer wird.

Verena Liebers in: Eppendorfer
Der letzte „Brückenschlag“ – Rote Zahlen: „Zeitschrift für Sozialpsychiatrie“ wird nach 30 Jahren eingestellt.
Mit einer Ausgabe zum Thema „Leben in Nischen“ verabschieden sich die Herausgeber vom Paranus-Verlag der Brücke Neumünster nach 30 Jahren von ihrem Projekt „Brückenschlag“.
Kunst und Literatur bieten viele Möglichkeiten, um ins Gespräch zu kommen. Geschichten und Farben können den Betrachter erfreuen und aufwühlen, aber auch Ausdruck für Erlebnisse oder Gefühle des Künstlers sein. Vor allem das scheinbar Unaussprechliche erhält in Bildern und Texten eine Form und schlägt damit Brücken zwischen verschiedenen Erlebniswelten. Genau das ist eine wichtige Schnittstelle zur Psychiatrie, denn gerade psychisch Erkrankten fehlt oft die Möglichkeit, sich adäquat mitzuteilen. Wer sich vor einem Gesprächspartner aus Fleisch und Blut fürchtet, kann am Schreibtisch oder an der Staffelei dennoch Werke schaffen, die in die Gesellschaft hineinwirken und eine Antwort zurückspielen.
Um für derlei Austausch eine Plattform zu schaffen, stellt der Psychologe Hartwig Hansen, der Diplompädagoge Fritz Bremer und der Betroffene Jürgen Blume die Zeitschrift „Brückenschlag“ zusammen, in der aktuellen Ausgabe mit dem Thema „Nischen“. Was vor 30 Jahren als ungewöhnliches und innovatives Projekt ins Leben gerufen wurde, hat heutzutage zum Glück einige Nachahmer gefunden. In Psychiatrien wird der Kunst inzwischen ein hoher Stellenwert eingeräumt, sei es im Rahmen von therapeutischer Arbeit, sei es durch Ausstellungen und Veranstaltungen in den Krankenhäusern. Die Kunst als Beitrag zur Heilung zu sehen, ist für viele Ärzte selbstverständlich geworden. Die vormalige Nische des „Brückenschlags“ hat sich also zu einem raumgreifenden Konzept entwickelt. Einige der Autoren und Künstler, die regelmäßig in der Zeitschrift zu Wort kamen, finden sich mittlerweile im Internet auf eigenen Plattformen. Auch schüchterne Künstler haben über diese Brücke einen stabilen Kontakt zur Außenwelt gefunden, zum Beispiel der Maler Günter Neupel.
Mit seinen faszinierenden und filigranen Bildern hat er sich eine Fangemeinde aufgebaut, die seine Bilder auch jenseits der Zeitschrift weiter in die Welt trägt, während sich der Maler im Hintergrund hält. Das ist eines der vielen Beispiele, das den Erfolg des Brückenschlag-Konzepts aufzeigt. In finanzieller Hinsicht blieb es allerdings eine Gratwanderung, die letztlich rote Zahlen schrieb. Die Hefte wurden unter der Hand weitergereicht, berichten die Herausgeber. Das ist gut für ein Netzwerk und schlecht für den Verkauf.
Mit der Ausgabe zum Thema „Nischen“ verabschieden sich deshalb die Herausgeber von diesem langjährigen Projekt. Noch einmal ist ihnen eine interessante Mischung aus literarischen und sozialpsychiatrischen Themen gelungen. Da stehen bezaubernde Beiträge über ein Leben auf dem Hausdach neben nüchternen Analysen, was eine Nische sein kann. Internet, Arbeit, ein Vertrauter – sogar die psychische Krankheit selbst kann eine Nische sein. Ein Leben mit Ärzten, den Krankheitsphasen, den Mitpatienten, das mit der Zeit vertrauter wird als der Alltag mit den Nachbarn, ist eben auch Raum, in dem sich ein Betroffener einrichten kann.
Viele der Autoren beschreiben ihren beruflichen Weg als Nische. Diese Beiträge machen Mut, sich auf die Suche zu begeben, wenn der 0815 – Stressalltag unzufrieden oder krank macht. Selbständig sein ist für den einen die Lösung, für den anderen die Mitarbeit in einer ökologischen Gemeinschaft.
Künstlerisch aktive Personen, beschreiben, welchen Stellenwert die Arbeit an der und für die Kunst haben kann. Selbst wenn das große Geld ausbleibt, dienen Ausstellungen und der Schaffensprozess an sich der Sinnfindung im Leben. Etwas, das bleibt, das über sie hinauswirkt, wünscht sich eine Malerin. Nicht nur ihre Krankheit und ihr dadurch eingeschränktes Leben, sondern Bilder, die andere berühren und nicht auf dem Müll landen, möchte sie der Welt hinterlassen. Damit formuliert sie den Wunsch aller Beteiligten von diesem Zeitschriften-Projekt: Auch wenn es den „Brückenschlag“ in dieser Form zukünftig nicht mehr gibt, soll es noch viele Brücken geben, über die Erkrankte und Gesunde aufeinander zugehen. Zu wünschen ist es vor allem den im letzten Heft abgedruckten, sehr beeindruckenden Bildern, dass sie eine neue Nische in einem Ausstellungsraum finden.
Im Übrigen können die Hefte der vergangenen Jahre zum Sonderpreis noch beim Verlag bestellt werden. Damit sie und der damit verbundene Gedanke, Brücken zu schlagen zwischen scheinbar weit entfernten Lebenswelten, bleiben und weitergegeben werden können.

Wolfgang C. Goede in: Deutsche Angst-Zeitschrift
Such dir dein Nest!
(...) Unschön erging es auch Dr. Michael Herrmann, Physiker und Wirtschaftsfachmann, heute 57 Jahre alt. Mit der Frage „Was machen Sie hier eigentlich?“ wurde die Führungskraft vom Vorstand abgeschossen, vor versammelter Mannschaft. In einem Essay, überschrieben mit „Mensch in der Nische statt Macher in der Leistungsgesellschaft“ empfiehlt auch Herrmann den Ausstieg.
Sein Beitrag erschien in der 30. Ausgabe der Serie „Brückenschlag“. Darin hat der Paranus Verlag seit 1985 Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst mit dem verbunden, was wir gemeinhin „Mainstream“ nennen. Mit 6200 Brückenschlag-Seiten, nebst einer Vielzahl weiterer fachspezifischer Publikationen, hat das Haus zur Integration und Inklusion der seelisch Labilen, Auffälligen, Kranken in den letzten drei Jahrzehnten beigetragen. In den 1980er Jahren waren Depressive, Borderliner, Bipolare noch ein Fall für die Anstalt. Heute wohnen und arbeiten die meisten inmitten der Gesellschaft.
(...) Wohl denen, die in dieser rasenden Welt ihre heimelige Nische finden (wortgeschichtlich verwandt dem lateinischen „nidus“= Nest).
So wie Aussteiger Herrmann. Sein Nest ist die Familie. Er heiratete und hat eine achtjährige Tochter. Herrmann fand eine neue Heimat im sozialpsychiatrischen Dienst. Er ist Genesungsbegleiter und bildet auch solche aus. Seine Hobbies pflegen Handwerk, Kunst, Natur: Der Mann entspannt beim Kochen und Malen, Gärtnern und Wandern.
Paranus' Brückenschlag Band 30 steht unter dem Motto „Leben in Nischen“. In dieser (letzten) Ausgabe haben sich 54 Autoren und Pädagogen, Wissenschaftler, Ärzte und Künstler verwirklicht. Viele Beiträge stammen von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Sie beschreiben ihr Dasein auf der Suche nach oder bereits in der Nische. Es ist nicht immer ein Happy-end. Die Lebens-und Arbeitsumstände sind mitunter quälend, die persönliche Veranlagung und bisherige Biografie eher ungünstig, die Reiseroute noch lang und holperig – wichtig aber ist: sich auf den Weg gemacht zu haben.
Die Kulturwissenschaftlerin Katja Marzahn, 35, geriet nach dem Studium bei der Jobsuche ins Straucheln. Das Praktikum in einer Online-Redaktion, dem „Achtstundentag im Großraumbüro mit fremdbestimmter Arbeitsweise“ löste einen manisch-depressiven Schub aus. Auf einem alten Bauernhof, der in ein Seminarzentrum umgebaut wurde, ökologisch ausgerichtet ist und ohne Arbeitsdruck funktioniert, fand sie ihr Nest. Katja packt überall mit an, im Büro und auf dem Acker. Allein das Herstellen von Apfelmus, vom Kultivieren und der Ernte der Frucht bis zur fertigen Köstlichkeit, gemeinsam mit den Kollegen verzehrt, bereichert ungemein ihr neues Leben.
Svenja Bunt promovierte in den USA in Philosophie, „aus Liebe und Leidenschaft“ für das Fach, wie sie herausstellt. Mitten im Studium wurde sie als schizophren diagnostiziert. Damit kam sie zurecht. Dann nach Abschluss ihrer Dissertation begannen die Probleme. Fünf Jahre lang bemühte sich das Arbeitsamt eine Stellung für sie zu finden. Vergeblich. Auch sie fand ihr Nest, am Ende durch Eigeninitiative und außerhalb des ersten Arbeitsmarktes im psychosozialen Sektor. Ihre Arbeit als Erfahrungsexpertin und Wohnbetreuerin psychisch Kranker erfüllte sie.
Ihr abschlieĂźender Rat an den Leser:
Trotzen auch Sie dem Arbeitsmarkt ihre eigene kleine Nische ab!


Wolfgang Grundl auf www.socialnet.de:
Leben in Nischen?
Das Leben, je mehr es ein Überleben ist, kann auf Nischen angewiesen sein. Nur der Ratte und dem Menschen ist es gelungen, ubiquitär auf dem Planeten Erde Fuß zu fassen. Dereinst werden auch diese beiden Säugetierarten – weitab von allen Diskussionen um einen vorgeblichen Klimawandel – von dort verschwunden sein. Mikroorganismen werden sie verdrängt haben – und umso mehr ihr Heil im Überleben in Nischen suchen müssen.
Mit Krankheit werden die Nischen kleiner – im Extremfall zu einer „Matratzengruft“. Denk“ ich an Deutschland – so denk“ ich auch an eine Nische. Möchte niemand wissen, was diese Nische ausmacht. Die Weigerung, die Nische zu definieren, mag weit verbreitet sein. Ein Symptom des nahen Untergangs? – Also denken wir doch lieber nach über Nischen und Geistes-Krankheit in Deutschland.

Aufbau und Inhalt
„Wer also die Nische nutzt, um auf dem Gesamtmarkt, im Mainstream zu prosperieren, verliert an Freiheit und gerät unter Zwang.“ - Möglicherweise ist das so – solange man gesund ist – und kein Automobilhersteller: deren Strategie in den vergangenen Jahrzehnten war die Schaffung einer möglichst großen Zahl von „Nischenprodukten„: das Leben im Auto ist – so oder so - ein Leben in Nischen: und wer das zu spät verstanden hat, ist tot (hat – wie alle Sportwagenhersteller – seine Selbständigkeit verloren).
Neben der „Ego-Nische“, die sich im Zuge der als „Individualisierung“ beschriebener Prozesse zunehmender Beliebtheit erfreut (und automobilistisch seinen Ausdruck u. a. in einer unübersehbaren Zahl an Accessoires bis hin zur „Signierung“ mit den Initialbuchstaben des steuernden Individuums findet), stellen uns die Autoren die „öffentliche“ (der Gefahr der Ausgrenzung – „Diskriminierung“!! – entgegen gerichteten), die „inkludierte“ (nichts darf ausgegrenzt, diskriminiert werden: alle Schüler sollen das Gymnasium besuchen, selbst wenn sie schwachsinnig sein sollten!) und übergreifend die „Nische als Möglichkeitsraum“ vor.
Die dem Ansatz inne wohnende Widersprüchlichkeit (wirklich nur „in der spätmodernen Gesellschaft“?, S. 20) bemerken die Autoren sehr wohl. Mit der Gleichsetzung (? Aneinanderreihung) der Fluchten in Nischen wie „Drogen, psychische Erkrankung und Subkultur“ (S. 17) naht doch die Gefahr, das Leben auf Königsthronen, Gefängniszellen und dem klammernden Griff Schiffbrüchiger im Wirbelsturm nach einem Stück Treibholz nicht mehr auseinanderhalten zu können. Oder zu wollen? Wer kann in eine schizophrene oder manische Psychose fliehen? Und wer kann das wollen?
Wir wenden uns also der Krankheit zu: Andreas Manteufels Beitrag tut dies zunächst im Blick auf eine psychiatrische Klinik. Verweise auf Stigmatisierung, Exklusion und Nationalsozialismus dürfen da nicht fehlen.
Ebenso wenig der Blick auf den vermeintlichen (?) „Schonraum“ Psychiatrische Klinik aus der Sicht einer „Psychiatrie-Erfahrenen“ (Sibylle Prins). Die Klinik wird dabei allzu oft zur „Bremse“ für gute Ideen und die Pläne Psychiatrie-Betroffener (S. 29). Wer keine Krankheiten (an-)erkennt, der muss an der Zweckmäßigkeit von Krankenhäusern (Kliniken) (ver-)zweifeln. Da treffen sich die Einschätzungen von Psychiatrie-Erfahrenen mit vielen Menschen in Sierra Leone, Liberia etc.: Ebola ist keine (Infektions-) Krankheit, und Quarantäne-Stationen keine Schutzräume sondern Gefängnisse. Freiheit ist dagegen das Gebot der Stunde – und zwar meine Freiheit. War das nicht die Ausgangsthese, aus der heraus sich die Tendenzen entwickelt haben, die im Obigen schon einmal kurz als „Individualismus“ gestreift worden waren?
Diesem Einwand trägt der Beitrag von Dr. med. Arnhild Köpcke (Psychiatrie-Erfahrene und Medizinerin) Rechnung, deren Forderung nach einer „Gleichstellung (der Geisteskranken, d. Ref.) mit körperlich Erkrankten“ (S. 33) tatsächlich ein Gebot der Stunde – die seit Jahrhunderten andauert – darstellt. Das Defizit der Psychiatrie ist ihr fehlendes Wissen!
Nicht zuletzt die Psychopharmaka haben einen Weg aus der Klinik heraus ermöglicht. Wer wüsste das besser als Luc Ciompi, der langjährige Leiter der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern und Begründer der Therapeutischen Wohngemeinschaft Soteria in Bern. Ob schizophrene Psychosen jedoch mit Träumen verglichen werden können? (S. 36) Liegt zwischen Tagträumen und den Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis nicht noch mehr als das Krankhafte?
Sodann fragt Dr. Doortje Kal, könnte Xenophobie eine Krankheit sein. Sind also die Gesunden gastfreundlich? Gibt es da eine Grenze? Darf überhaupt eine Grenze bestehen? Gibt es ergo eine Grenze der Inklusion (s. ob., S. 49)? Deren Befürworter verweigern weithin eine Antwort auf die Frage: weil es keine Grenzen geben darf und weil man Fragen danach nicht stellen sollte. Denn alleine Fragen kann ausgrenzen, diskriminieren. Es gibt zumindest eine Grenze, die beim Fragen nicht übertreten werden darf.
Das Feld ist abgesteckt – es folgen viele weitere Schlaglichter – fragmentarisch, oszillierend, kreativ bis irrlichternd, leise bis unüberhörbar, nichts- und vielsagend: Ein Kaleidoskop psychischer (psychopathologischer?) Phänomenologie (im Sinne Karl Jaspers) – unpräzise-schillernd aber stets (politisch) korrekt. Unweigerlich die Hinwendung des Suchscheinwerfers der Autorenschaft auf die Inhumanität der Leistungsgesellschaft (Mensch statt Leistung / Dr. Michael Herrmann, S. 118 ff.), die Notwendigkeit ökologischer Lebensorientierung (Katja Marzahn, S. 113 ff) und öffentlicher Akzeptanz von künstlerischen Außenseitern (Dr. med. Turhan Demirel, S. 149 ff.).

Fazit
Mit dem vorliegenden Sammelband ist den Herausgebern und Autoren erneut gelungen, Bruchstücke eines Mosaiks vorzulegen, das bislang kein geschlossenes Bild vermittelt. Die Wissensdefizite der Neurowissenschaften im Allgemeinen und der Psychiatrie im Besonderen ermöglichen die Flucht ins Bildhafte, Malerische und Phantastische. Das damit spätestens auch zur Realität wird – einer „eigenen“ neben „der anderen“? Puzzlestücke (S. Peters, S. 158 ff.) eben, unentbehrlich, unvollständig – in der Reihe des Paranus Verlags in schon bestbekannter Einzigartigkeit komponiert: als Kunstwerk unverzichtbar!

Prof. Dr. Wolfgang Grundl
Hochschule Niederrhein, Fachbereich Sozialwesen


zurück  zurück