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Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?

Rezensionen

Barbara Wedler auf www.socialnet.de:
„Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung“ wurde mit sehr viel Herz geschrieben und: geht ans Herz. Der Leser erlebt alles, was behinderte Menschen, Angehörige Professionelle ständig durchleben: Hoffnung, Ausgrenzung, bürgerschaftliches/ politisches Engagement, begleitende Forschung etc. „Nur“ Lesen geht nicht: man wird hineingezogen in die kritische Auseinandersetzung mit dem Ziel der Inklusion, in die Reflexion der veränderten gesellschaftlichen (Rahmen)Bedingungen sowie in die Überprüfung eigener Werte und Haltungen.
Ein sehr tiefgehendes Buch, das den Spannungsbogen vom Vorwort bis zur Soltauer Initiative hält. Obwohl ein Fachbuch, wirft es Fragen auf, die jeden Menschen angehen (könnten). Ausgesprochen empfehlenswert!

Zur vollständigen Rezension geht es hier:
www.socialnet.de

Andreas Manteufel, Bonn, in: Zeitschrift fĂĽr systemische Therapie und Beratung:
„Je weniger Ethik, desto mehr Ethikkommissionen“, schrieb Kurt Marti einmal. Auch der vollmundigen Qualitätsrhetorik wird von vielen nachgesagt, dass sie eher den Mangel an Qualität als deren Übermaß widerspiegelt. Nun macht also das hehre Wort „Inklusion“ die Runde und verspricht die Teilhabe aller (auch der – in der alten Terminologie – „Behinderten“ oder „Kranken“) an den gleichen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben. Wo „Integration“ noch immer eine Grenze zieht zwischen „etabliert“ oder „gesund“ auf der einen Seite und „defizitär, krank“ auf der anderen, steht „Inklusion“ für die „vorbehaltlose und nicht weiter an Bedingungen geknüpfte Einbezogenheit und Zugehörigkeit“ aller (S. 25).
Die Lektüre des vorliegenden Readers legt nahe, dass auch hier Skepsis angebracht ist. Es muss sich erst zeigen, ob die sozialpolitischen Versprechungen eingelöst werden. Wie es gehen könnte, stellt, um nur ein Beispiel aus dem Buch zu nennen, Doortje Kal mit dem niederländischen Projekt „Kwartiermarken“ vor. Gleichzeitig wird aber „Inklusion“ auch als Euphemismus entlarvt, hinter dem Personal eingespart, Gelder gestrichen, Leistungen gekürzt werden. Wo das auch noch mit der „Eigenverantwortung“ der Hilfebedürftigen begründet wird, trägt der Sozialabbau zynische Züge.
Insbesondere der Beitrag von Michael Wunder informiert klar und präzise über den Begriff Inklusion als „eines der Leitprinzipien der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die die UN-Generalversammlung im Dezember 2006 nach langer Vorarbeit verabschiedet“ und der Deutsche Bundestag 2008 ratifiziert hat. Der Artikel von Ernst von Kardoff stellt die Bedeutung von Erwerbsarbeit in der Diskussion heraus („Gesellschaftliche Teilhabe psychisch kranker Menschen an und jenseits der Erwerbsarbeit“). Sybille Prins lässt unter der Überschrift „Jetzt dürfen wir also mitspielen“ die Mitglieder eines Psychoseseminars ihre Meinungen über den Begriff Inklusion aussprechen. Nach den insgesamt dreizehn Beiträgen kommen die Forderungen der „Soltauer Initiative“ zu Wort, die seit 2004 die „Ökonomisierung und Bürokratisierung des Sozial- und Gesundheitswesens“ kritisch beobachtet und beschreibt.
Der Paranus Verlag hat einen informativen und differenzierten Reader herausgebracht. Wer ihn gelesen hat, lässt sich auch mit trickreicher Rhetorik so schnell nichts vormachen.

Michael Eink in: Sozialpsychiatrische Informationen:
Mit der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen wird für Psychiatrie und Gesellschaft der Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion verkündet. Die Kritik am Integrationsbegriff ist nachvollziehbar, schafft er doch gedanklich zwei Gruppen, die integrierenden „normalen“ Bürger und die zu integrierenden, „nicht normalen“ anderen. Mit dem Inklusionskonzept sollen nun alle Formen der Besonderung und Ausgrenzung von „Behinderten“, „psychisch Kranken“, „Ausländern“, etc. vermieden werden. Diesen sympathischen Traum kritisch zu diskutieren, ist das Verdienst dieses Buches. Statt einzustimmen in den Inklusions-Hype werden hier kritische Fragen im Geist der „Soltauer Initiative“ formuliert, etwa warum denn solche Visionen in Zeiten neoliberaler Umwälzungen auf die Tagesordnung gesetzt werden. Das gesellschaftliche Klima mit steigendem Anpassungsdruck (Turbo-Abi, Bachelor-Studium, etc.), Erosion sozialer Netze (Single-Haushalte, etc.) und Hetze gegen Arme und Fremde (Westerwelle, Sarrazin) bildet ja nicht unbedingt einen gesellschaftlichen Rahmen, der Mut zum Träumen macht.
Wirkliche Gleichberechtigung und Teilhabe wird über die UN-Konvention allein nicht hergestellt werden, bisher ist ja trotz Benachteiligungsverbot im Grundgesetz plus Antidiskriminierungsgesetz die Ausgrenzung alltägliche Realität vieler Psychiatrie-Erfahrener. Wer mit einem kritischen Blick die unsichtbaren Mauern der Gemeindepsychiatrie wahrnimmt, in denen Betroffene meist unter sich bleiben, statt gesellschaftlich wirklich „mittendrin“ zu sein, mag sich skeptisch fragen, wie Inklusions-Utopien in dieser Welt Realität werden können.
Wenn wir damit ernst machen wollten, müssten besondere Schulen für Lernbehinderte ebenso infrage gestellt werden wie besondere Angebote für psychisch Kranke, etwa Werkstätten und Heime. Im sozialpsychiatrischen Diskurs der letzten Jahre haben diese Fragen ja bereits einen wichtigen Stellenwert. Das Buch verweist aber auf die Gefahr, dass wie so oft mit Reformrhetorik schlicht Kosten gesenkt werden sollen. Wenn alle gruppenbezogenen Kategorien (z. B. gesund-krank) abgeschafft sind, brauchen wir keine teuren Angebote mehr für bestimmte Personengruppen. So zynisch kann das aufregende Inklusionsparadigma pervertiert werden.
„Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?“ ist ein wichtiges und kluges Buch, das viele Leser verdient. Es erschüttert naive Wunschvorstellungen und kann helfen große Träume zu verwirklichen.

Rezension in Klarer Kurs - Magazin fĂĽr berufliche Teilhabe 3/2010:
KĂĽhlen Kopf bewahren
„Inklusion zu verstehen ist ganz einfach. Sie bedeutet nichts anderes, als dass Menschen mit einer Behinderung – oder welchem Anderssein auch immer – dort leben, feiern, tanzen, arbeiten, wo alle anderen es auch tun.“ Auf diese Formel bringt einer der Mitherausgeber dieses Buchs, Holger Wittig-Koppe, die Inklusionsidee. Inklusion, das wird in diesem schlichten Satz sichtbar, ist ein Idealzustand, eine Vision. Der Traum, dass jeder angstfrei so sein darf, wie er ist. Dass er Unterstützung und Rücksichtnahme erhält und die Bedingungen findet, die er braucht, um am Gemeinschaftsleben teilzunehmen.
Auch die fünf Autorinnen und elf Autoren dieses Buches stehen fest zur Inklusionsidee. Sie nehmen sich aber die Freiheit, kritisch zu hinterfragen, welche Fallen, welche Gefahren in der Propagierung dieses Zieles stecken, wer die Idee möglicherweise für andere Ziele missbraucht, welche sozialen Errungenschaften wir eventuell gutgläubig aufgeben. Die Stichworte dazu heißen: Freie Kräfte des Marktes, Deregulierung, Sparkonzepte oder Endprofessionalisierung.
Aber nicht nur kritische Stimmen finden sich in diesem Sammelband, sondern auch Ideen zur weiteren Umsetzung von Inklusion. Hier lohnt der Blick über die Grenzen, insbesondere ins benachbarte Holland (Doortje Kal: Kwartiermakersfestivals – Über die Sehnsucht nach Sichtbarkeit).
Das Thema Teilhabe am Arbeitsleben wird ebenfalls in einem Beitrag behandelt. Prof. Ernst von Kardorff, Soziologe an der Humboldt-Universität in Berlin, warnt davor, Teilhabe am Arbeitsleben auf die Erwerbsarbeit zu reduzieren. Er weitet den Blick auf vielfältige Formen von Arbeit in lokalen Projekten und Initiativen, die – etwa über Dienstleistungen im Alten- und Pflegebereich – auf der Basis eines gesicherten Grundeinkommens Selbstbestimmung und gesellschaftliche Wertschätzung ermöglichen. Fazit: Ein lesenswertes Buch zur aktuellen Inklusionsdebatte. Die Autoren sind keine Verhinderer, Nörgler oder Bedenkenträger, sondern kritische Analysten, die in der allgemeinen Euphorie kühlen Kopf bewahren.

Gaby Rudolf in: pro mente sana aktuell:
Einschließen statt ausgrenzen: Tun wir das nicht schon längst mit allerhand Angeboten zur Integration behinderter Menschen? Nein. Inklusion – so wie sie in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit einer Behinderung verabschiedet wurde – fordert, alle Menschen mit ihrer Eigenart als Bereicherung für die Gesamtgesellschaft wertzuschätzen. Das ist mehr als Integration. An einem Beispiel illustriert: Integration lässt die Menschen nicht verhungern. Sie ruft Gassenküchen für Randständige ins Leben und baut Hauslieferdienste für Behinderte auf. Inklusion geht weiter und schafft eine Tischgemeinschaft, die für alle zur bereichernden Erfahrung wird. Gleichzeitig schafft sie aber Angebote wie die Gassenküche und den Hauslieferdienst nicht einfach ab, im Wissen darum, dass es Menschen gibt, die sich in der Tischgemeinschaft nicht wohlfühlen und entfalten können und für die es andere Ernährungsformen braucht, damit sie sich als vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft fühlen können. Denn „Inklusion bedeutet, dass Menschen in ihrem Anderssein ihren gleichberechtigten Raum in der Gesellschaft finden.“
Wenn Inklusion für Menschen mit einer Behinderung möglich sein soll, müssen Werte wie Solidarität, Gastfreundschaft, Teilhabe, Bürgerengagement und Selbstbestimmung gestärkt werden. Doch genau dies ist in der derzeitigen Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich. Finanzielle Beiträge an Wohneinrichtungen für Behinderte werden mit dem Argument gestrichen, diese würden gettoisieren, statt Inklusion zu fördern.
Hier setzt das Buch an. Der etwas missverständliche Titel ist keine Kritik an der Inklusion, sondern legt den Finger auf den Missbrauch des Paradigmas „Inklusion“, während gleichzeitig Augenwischerei betrieben wird, um gesellschaftliche Entsolidarisierung und Sparübungen schönzureden.
Stellenweise hemmen sperrige Wörter den Lesefluss. „Gesellschaftliche Enthinderung“, „Begründungsleistungen“ oder „präferenzutilitaristische Bestreitung“ bergen das Potenzial zum Unwort des Jahres. Aber die gute Durchmischung philosophischer Beiträge, wissenschaftlicher Analysen und aus der Praxis gespeisten Erfahrungen entschädigt die Leserschaft. Das Buch sei allen ans Herz gelegt, welchen Inklusion ein Anliegen ist und die sich nicht durch finanzpolitische und sozial aktuelle Entwicklungen vom Weg abbringen lassen wollen.

Rezension in praxis ergotherapie:
Auf den Begriff Inklusion trifft man allerorten, der inflationäre Gebrauch lässt aber aufhorchen, und man stellt sich die Frage, inwieweit Etikettenschwindel betrieben wird.
Dieser Sammelband nimmt eine historische Einordnung des Begriffes vor und grenzt ihn vom Integrationsbegriff ab. Dabei scheuen die Autoren auch nicht davor zurück, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, denn die Inklusion "trägt ein Janusgesicht, sie wird gerne in Sonntagsreden beschworen, während gleichzeitig unter dem Motto 'Eigenverantwortung für alle' Sozialabbau betrieben wird".
Wirkliche Inklusion wĂĽrde einen qualitativen Wandel des Miteinanders in der ganzen Gesellschaft in Gang setzen. Bisher definieren aber weitgehend Politik und Verwaltung, was darunter zu verstehen ist.
Die Autoren stammen zwar aus dem Bereich der Sozialpsychiatrie, erhellen aber in ihren Beiträgen das gesamte Spektrum der Umsetzungsprobleme der Inklusion, so dass das Gesagte auf andere Arbeitsfelder transferierbar ist.
Das Buch schließt mit einem Beitrag der "Soltauer Initiative in sozialen Arbeitsfeldern", der eindringlich davor warnt, den Prozess der Ökonomisierung des Sozialen weiter voranzutreiben. Eine Inklusion gerade behinderter Menschen in einer vom System her exkludierenden Politik sei schwer vorstellbar. Wenn Sozialpolitik im neoliberalen Sinne entworfen werde, sei nicht erkennbar, wie der sozialethisch determinierte Leitbegriff der Teilhabe mit dem neoliberal determinierten Begriff der Effizienz vereinbart werden könne.
Die Perspektive erscheint dĂĽster, wenn das Ruder nicht herumgerissen werden kann: Wenn Ideal und Wirklichkeit immer weiter auseinanderklaffen, wird dies auch "zu weiterer Demoralisierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fĂĽhren, die die Arbeit im Sozial- und Gesundheitsbereich tragen".

Edith Mayer in: Psychosoziale Umschau:
„Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?“ heißt die Artikelsammlung, deren Lektüre ich allen empfehlen kann, die an der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention interessiert sind. Schon der Titel weist darauf hin, dass die Umsetzung Gefahr läuft, an der aktuellen Tendenz zur Individualisierung, zur zunehmenden Ausgrenzung der „Nicht-Integrierbaren“ und dem Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung zu scheitern.
Die Verfasser, bundesweit bekannte Fachleute, repräsentieren ein breites Spektrum von möglichen Standpunkten zur Umsetzbarkeit des Menschenrechts auf Teilhabe sowie der Schaffung einer inklusiven Gesellschaft.
Die geplanten Reformen der sozialen Fürsorge zielen letztlich auf eine qualitative Veränderung der Gesellschaftspolitik. Die soziale Unterstützung soll in Zukunft vorwiegend in informellen Netzwerken eines überschaubaren, „achtsamen“ Sozialraumes geleistet werden. Grundlegende Voraussetzung für eine solche inklusive Gesellschaft ist die Bildung – eine erweiterte, vertiefte Bildung -, die das Verstehen und Einüben einer Kultur der Achtsamkeit, der Solidarität und des Helfens ermöglicht (42). „Alle Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit“ (43ff.) sind Teil von bürgerschaftlichen Netzwerken in einem Sozialraum. Sie sind Teil einer Gemeinschaft, die von Ehrfurcht vor dem Leben, dialogischem Miteinander und Achtsamkeit für die Bedürfnisse der Anderen geprägt ist. Die von M. Wunder (22 ff.) geforderte „Care Ethik“ ist dabei ein notwendiges Korrektiv zu anderen Zielen der sozialen Inklusion wie dem Recht auf selbstbestimmtes Leben, der Eigenverantwortung oder dem Assistenzkonzept. Erst auf dieser Basis kann das Prinzip der Normalisierung, der selbstverständlichen Zugehörigkeit aller Menschen und der Abbau von Sondereinrichtungen für Behinderte zur Überwindung von Abwertung und Ausgrenzung verwirklicht werden. An deren Stelle treten die sozialen Netzwerke (community care, 46-49), darunter auch solche, die der Stärkung der individuellen Selbsthilfe (Salutogenese, Recovery, Empowerment) und Betroffenenselbsthilfe (Empowerment) dienen (89 ff.).
Die Tatsache, dass die Autoren gelegentlich von einem Traum (66) oder der Vision eines achtsamen Sozialraums sprechen, zeigt, dass sie ihre Augen nicht vor den Risiken einer solchen Veränderung verschließen. Sie sehen durchaus, dass ökonomische Interessen zum Missbrauch der mit dem Inklusionsmodell verbundenen Begriffe als Euphemismen (51) für wirtschaftliche Ziele (z.B. Sparmaßnahmen) führen könnten. So darf das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung nicht als „Recht auf Verwahrlosung“ missverstanden werden, denn es gibt auch Schutzrechte (33). Ebenso wenig darf fachliche Assistenz extrem eingeschränkt und Hilfebedarf vorwiegend auf private Bürgerhilfe verwiesen werden. Auch die reine Servicementalität („Kunde“) sei ein grobes Missverständnis der Assistenz (36-37). Es gehe also weder um ein Sparprogramm noch um eine „Vermarktung“ der Behindertenhilfe (51-52).
Eine sich abzeichnende neoliberale Ego-Gesellschaft fördere aber eine allgemeine Entsolidarisierung (52-53) und die Tendenz zur Entprofessionalisierung der sozialen Arbeit (58). Der Staat wie der einzelne Bürger zögen sich aus ihrer Verantwortung zurück. So habe sich in den letzten Jahren eine Entwicklung zu erneuter Ausgrenzung („Casting Prinzip“) abgezeichnet. Wer willkürlich geforderten Ansprüchen nicht genüge, fliege raus (78).
Inklusion sei eine Bringschuld geworden (81). Dies zeige auch der Missbrauch des Begriffs „fördern und fordern“. Wissenschaftliche Untersuchungen über das Zusammenleben im sozialen Nahraum hätten überdies gezeigt, dass dieser heterogener sei als gedacht und sozial dominante Personen sich gerade in informellen Netzwerken durchsetzten und die Mentalität prägten (123).
Trotz der bereits sich abzeichnenden Fehlentwicklungen befürworten die meisten Autoren die Reformbewegung. Als Lösung schlagen sie die Stärkung der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen (Empowerment, 53) sowie den behutsamen Aufbau neuer Strukturen von unten vor. Praktische Beispiele zu Letzterem werden häufig angeführt, so z. B. die nachahmenswerten europäischen Modelle (u.a. „Kwartiermarken“ in den Niederlanden, das Capitel Volunteering in Großbritannien oder die Vidacentren in Tschechien) in dem Artikel von Görres und Zechert oder die erstaunliche Entwicklung der Aktivitäten eines Psychoseseminars in Neumünster, dargestellt in dem Artikel von Fritz Bremer. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, sich erreichbare Ziele zu setzen und diese im Rahmen eines Gesamtplans konsequent zu verfolgen.
Ein besonderer Vorzug dieses Buches war fĂĽr mich, dass sowohl die einzelnen Bausteine einer inklusiven Gesellschaft als auch die mit deren Umsetzung verbundenen Risiken jeweils in den gesellschaftspolitischen Hintergrund eingeordnet wurden, was das Nachdenken darĂĽber sehr erleichtert.

Rezension von Dr. Arnhild Köpcke:
„Money makes the World go round“
Beginnen möchte ich meine Rezension mit dem Aufsatz von J. Schiedeck und M. Stahlmann, einer Art Metakritik des Inklusionskonzeptes im Lichte neoliberaler Denkweisen (Individualisierung, Deregulierung und Freier Markt).
Inklusive Bestrebungen haben zur Basis eine wertorientierte Sozialphilosophie und treffen auf eine Gesellschaft, der diese wertorientierte Basis verloren gegangen ist.
Inklusion wird zur Bringschuld des Einzelnen und damit zynisch.
In Anlehnung an Marcuse und Foucault sprechen die Autoren von repressiver Entexkludierung und üben damit Kritik an den Machtverhältnissen. Der gesellschaftliche Durchschnitt setzt die Normen und bewirkt eine Standardisierung aller Lebenbereiche. Das Positive des Inklusionskonzeptes prallt auf die normative Mehrheit. Mit seiner Umsetzung ist ein Perspektivwechsel aller Beteiligten erforderlich.
Historisch wichtig war das Integrationskonzept, das sich durch den Assimilationsdruck vom Inklusionsrecht aller unterscheidet (M. Wunder) und ĂĽberwunden werden soll. Will Inklusion mehr sein als die Domestizierung der Anderen, mehr sein als die Unterwerfung, ein emanzipatorisches Potenzial entfalten, bedarf es der Ehrfurcht vor dem Leben, der Barmherzigkeit und der Liebe.
Der Traum vom friedlichen Miteinander aller liegt dem Inklusionsbestreben zugrunde. Menschen, die nicht beitragen zum Bruttosozialprodukt, sollen in ihrer WĂĽrde anerkannt und teilhaben dĂĽrfen an den Kultur- und SozialgĂĽtern.
Das Prinzip der Care-Ethik (M. Wunder), des sich Sorgens um den behinderten Anderen und des sich Verantwortens vor den Bedürfnissen der Notleidenden, ist unverzichtbar. Es handelt sich nicht nur um gesellschaftliche Widersprüche, die geglättet werden können, sondern um das Schicksal von Armut und Krankheit beherrschter Menschen. Ihre Nöte gehen uns an im Streit um mehr Gerechtigkeit und dem Gebot, einen Jeden teilhaben zu lassen.
Psychiatriepatienten bilden dabei eine Minderheit, die von Exklusion stets bedroht war und ist, und sich heute in Eigenvertretung zu Wort meldet und damit emanzipiert aus der Objektrolle.
Das ambulante Ghetto ist der Ort, an dem sich viele Psychiatrie-Erfahrene aufhalten und doch ein Fortschritt in der Geschichte der Marginalisierten. Die Eröffnung des Multilogs ist dabei Hoffnungsträger und man muss Sorge tragen, dass sein Brennpunkt, in dem Psychiatrie-Erfahrene stehen, wieder erlöschen könnte an der Selbstzufriedenheit des Spießers.
Neben dem fragwürdigen Recht, nicht gestört zu werden, gibt es das Recht zu stören, neben dem „Ruhe ist die erst Bürgerpflicht“ gibt es die Stimme der Exkludierten, die sich erhebt. Behinderung ist kein individuelles Phänomen, sondern ein sozial vermitteltes.
Dass die Gesellschaft sich verantwortlich macht fĂĽr die Rechte Behinderter ist nur recht und billig.
Fritz Bremer beschreibt, wie ein solcher Prozess der Inklusion in der Region Neumünster aussieht, wie der Trialog neue Entfaltungsmöglichkeiten für alle an ihm Beteiligten bringt.
Doortje Kal spricht vom Lob der Sichtbarkeit und davon, dass der öffentliche Raum nicht nur für Standardmenschen da ist und die Befreiung des privaten Selbst befördern kann.
Insgesamt ein komprimiertes Buch vielfacher Facetten des Inklusionsgedankens.
Und auch eine Psychiatrie-Erfahrene kommt zu Wort, nämlich Sibylle Prins, die mit Humor und Ernst untersucht, welche Bedürfnisse in dem Wunsch nach Teilhabe sich artikulieren.
Das Buch regt auf jeden Fall zum Weiterspinnen an und informiert ĂĽber Stolpersteine, die nicht nur am Wegesrand liegen. Es ist ein engagiertes Buch, das sich eindeutig dem Wohle der Benachteiligten widmet.
Die Soltauer Initiative, die in diesem Buch auch zu Wort kommt, sieht und benennt die Gefahr. Sie sieht die Notwendigkeit zu einem Systemwandel wirtschafts- und sozialpolitisch, um die Forderungen der UN- Behindertenkonvention einzulösen.
Ein politisches Buch, das zum Streiten anregt, zum Streiten fĂĽr die Rechte behinderter Menschen, ohne das Ganze aus den Augen zu verlieren.

Udo Sierck in Dr. med. Mabuse:
Die Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen hat quer durch die politischen Parteien und bei den Behindertenverbänden euphorische Reaktionen ausgelöst. Manche sahen darin einen „großen Wurf“ oder gar einen „revolutionären Schub“. Der vorliegende Sammelband von fünfzehn Fachleuten – vornehmlich aus der Sozialpsychiatrie und -pädagogik – versucht hingegen, die Perspektiven der Inklusion, also der vorbehaltlosen Zugehörigkeit und gleichberechtigten Teilhabe aller behinderter Personen in der Gesellschaft, in den Kontext realer Sozial- und Wirtschaftspolitik zu stellen. Denn: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz“, wie schon der US-amerikanische Gemeindepsychologe Julian Rappaport zum Auseinanderklaffen von Anti-Diskriminierungsgesetzgebung und sozialer Wirklichkeit anmerkte.
Zum deutschen Alltag gehört, dass körperlich behinderte Erwachsene gegen ihren Willen in ein Heim eingewiesen werden, weil das zuständige Amt die Kosten des selbstbestimmten Wohnens im Stadtteil scheut. Dazu gehört auch der regelrechte Boom der Tafel-Bewegung: Viele behinderte Menschen sind bei ihrer Ernährung auf die Versorgung durch Tafeln angewiesen und empfinden dies als diskriminierend. Waren es 1994 erst vier, so ist die Zahl der Tafeln derzeit auf über 800 angestiegen. Aktuelle Untersuchungen stellen schließlich „beunruhigende Zeichen einer Bereitschaft zur Abwertung von Behinderten, Obdachlosen, Bettlern“ fest: Über ein Drittel der Deutschen stimmte in einer Untersuchung der Universität Bielefeld 2007 tendenziell der Aussage zu, dass die Gesellschaft sich „wenig nützliche Menschen“ nicht mehr leisten kann.
Allein diese drei Beispiele dokumentieren das verbreitete Effizienzdenken und machen deutlich, wie „fern diese Bewusstseinslage der Grundintention der UN-Konvention nach Teilhabe für alle“ ist. Die im Buch wiedergegebene skeptische Einschätzung eines Mitarbeiters aus einer therapeutischen Einrichtung trifft die Wirklichkeit wohl am ehesten: Vielleicht trägt das aufgeregte Reden über Inklusion wenigstens dazu bei, die vielerorts festgefahrenen Bemühungen zur Integration wieder anzutreiben.
Darüber hinaus erinnern Jürgen Schiedeck und Martin Stahlmann in ihrem Aufsatz bei aller Sympathie für den Inklusionsgedanken an eine kritische Haltung als Tugend: „Wer nur noch Integration will, nichts als dazugehören, mitmachen, dabei sein, im Trend liegen, verrät damit, dass die Gleichschaltung nichts mehr ist, was ihn schreckt.“
Davon ausgehend ergeben sich weitere Fragen: Wie wird eigentlich festgestellt und definiert, wer inklusionsbedürftig ist? Und wie lässt sich Inklusion denken, ohne die Andersheit des Anderen zum Verschwinden zu bringen? Auch an anderer Stelle des Sammelbandes wird an Theodor W. Adornos Warnung erinnert, dass in der Betonung der Gleichheit der Menschen ein unterschwelliger Totalitätsgedanke mitschwinge, dem nur durch die Akzeptanz der Vielfältigkeit und Verschiedenheit zu begegnen sei.
Trotz solcher Analysen begreifen die AutorInnen des Bandes die angestrebte Inklusion als Chance und Fortschritt. Allerdings müssen ethische Werte in den Vordergrund rücken: Neben der allgemeinen Menschenrechtsorientierung gelte es, die Unterschiedlichkeit von Menschen nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu wertschätzen (Beitrag von Andreas Lob-Hüdepohl). Aus historischer Sicht und mit Blick auf die umfassende Isolierung behinderter Menschen bedeuteten die Konzepte der Normalisierung und Integration zwar einen wichtigen Wert, weil mit ihnen reformerische Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die die Inklusion erst denkbar machen. Doch der Integrationsbegriff schafft „zwei Gruppen: die integrierenden, ,normalen’ Menschen oder Bürger und die zu integrierenden, ,nicht normalen’ Anderen.“ Damit wird die Polarisierung zwischen „bereits Dazugehörenden und noch nicht Dazugehörigen“ beibehalten. Das Inklusionskonzept setzt hingegen auf vorbehaltlose Zugehörigkeit.
Damit dieses Miteinander auch bei schwer behinderten Personen funktionieren kann, entwickelt Michael Wunder die Idee der Care Ethik: Die weitgehend von körperbehinderten Erwachsenen initiierte Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hat die persönlichen Assistenten von Menschen mit Behinderung als Auftragnehmer definiert. In der Care Ethik verbindet sich dieser klientenzentrierte Ansatz der Selbstbestimmung mit der Verantwortlichkeit der Assistenten, die lernen, Achtsamkeit als Korrektiv einzusetzen. So werden auch schwer behinderte Menschen in die Idee von einem Leben ohne Fremdbestimmung einbezogen.
Die Aufsätze des Sammelbandes machen insgesamt Mut, die Chancen zur Neuorientierung zu nutzen, ohne jedoch – wie die üblichen Sonntagsreden zur Inklusion – auf nachdenkliche Hinweise zu verzichten, die die Kehrseite des Mottos „Eigenverantwortlichkeit für alle“ zeigen.
Udo Sierck, Lehrbeauftragter am Zentrum für Disability Studies“, Universität Hamburg

Verena Liebers in: Der Eppendorfer:
Zusammen tanzen, lachen, arbeiten
15 Autoren diskutieren, wie sich Teilhabe erreichen lässt – und was sie behindert

Schnell, jung, flexibel – in einer Welt, die diesen Maximen folgt, geraten immer mehr Menschen in eine Außenseiterposition. Fünfzehn Pädagogen und Psychologen diskutieren diese Entwicklung im vorliegenden Band. Schonungslos benennen sie die Schwierigkeiten, mit denen viele aufgrund von Armut, körperlichen und psychischen Gebrechen konfrontiert sind. Was bedeutet es aber für eine Gesellschaft, wenn immer weniger Menschen den scheinbaren Standards entsprechen? Wie kann es gelingen, dennoch ein Miteinander zu schaffen, auch wenn die Unterschiede immer größer werden? Die Autoren machen deutlich, dass unterschiedliche Nationalitäten und Altersgruppen, körperliche oder psychische Einschränkungen ebenso zur lebendigen Vielfalt gehören wie verschiedene Interessen und Begabungen. Dabei distanzieren sich die Verfasser einiger Beiträge von dem Begriff Integration. Oft genug sei damit eine eher zwanghafte Anpassung verbunden.
Inklusion meint dagegen, dass jeder in seiner individuellen Einzigartigkeit dazugehört. Eine Gruppe wird nicht dadurch zur Gemeinschaft, indem sich alle aneinander angleichen, sondern indem alle auf jeweils eigene Weise Gemeinsames erleben. Zusammen tanzen, lachen, arbeiten – teilhaben an einer Lebenswelt.
Wie sich dieses Ideal erreichen lässt, wo konstruktive Ansätze vorhanden sind und was eher kontraproduktiv ist, diskutieren die fünfzehn Autoren auf hohem Niveau. Kritische Überlegungen, philosophische Betrachtungen und Berichte aus dem Alltag ergänzen sich. In diesem Sinne ist das Buch schon ein Schritt in Richtung Inklusion: Mosaikartig fügen die Herausgeber unterschiedliche Perspektiven zusammen.

Forum fĂĽr Kinder- und Jugendarbeit 3/2010:
Inklusion kommt. So lassen die Herausgeber ihr Vorwort in diesem Buch beginnen. In 14 Beiträgen beschäftigen sich verschiedene AutorInnen aus unterschiedlicher Perspektive mit den unterschiedlichen Aspekten der allerorts postulierten "Inklusion". (...) Das Buch ist eine kritische Bestandsaufnahme der Debatte und kann erfolgreich zur weiteren Diskussion anregen. Die AutorInnen greifen das Paradigma Inklusion engagiert auf, verweisen auf erkennbare Gefahren und stellen zukunftsweisende Fragen.

Rezension von Ursula Talke, Berlin:
Inklusion in aller Munde
Es musste ja so kommen – erst die Un-Behindertenrechts-Konvention, dann die Inklusionsdebatte.
Und der Paranus Verlag wäre nicht der Paranus Verlag, wenn er nicht einige, die Rang und Namen haben, gebeten hätte, sich dazu zu äußern.
Begriffs-Ursprungsforscherin, die ich bin, hab ich die Vokabel im Lateinischen nachgeschlagen - gut, "einschlieĂźen" steht da schon - aber auch "einsperren, einengen". Hm, nunja.
Über Begrifflichkeiten und ihre Auswirkungen werden wir uns in Zukunft wohl noch öfter auseinandersetzen.
In einem gut sortierten Vorwort macht Holger Wittig-Koppe, der mit Fritz Bremer und Hartwig Hansen zusammen das Buch herausgegeben hat, den Leser zum einen durch einige Beispiele mit der Fragwürdigkeit der Inklusion vertraut (ob es politisch überhaupt gewollt sei?!), zum anderen gibt er einen sehr gekonnten, ganz kurzen Abriss über die 14 Aufsätze , so dass der Leser schon ein bisschen weiß was ihn wo erwartet.
So wird sich großteils hochwissenschaftlich über Inklusion und ihre Durchführbarkeit ausgelassen und auch klargestellt, dass mit "inkludiert werden sollen" sämtliche möglichen Randgruppen und nicht nur Menschen mit sogenannten Behinderungen gemeint sind.
Sibylle Prins lockert den wissenschaftlichen Reigen durch einen "Mitschnitt" in der Begegnungsstätte auf, Ernst von Kardorff nimmt sich des Themas Arbeit an, und verweist darauf, dass es auch noch was anderes gibt als den ersten Arbeitsmarkt, die
Soltauer Initiative rundet das Buch mit einem ziemlichen Lamento ab.
Besonders gut gefallen hat mir der Beitrag des Theologen Klaus von Lüpke, der aus der Praxis erzählt.
Bevor ich diese Rezension mit einem Zitat von ihm beende, möchte ich noch schnell sagen, dass es bestimmt nicht schadet, dieses Buch gelesen zu haben. Aber - "Inklusion zu betreiben" - ich glaube, das geht auch so.
Also, Klaus von Lüpke: "Inklusion heißt, miteinander, in Gemeinschaft verschiedenster Menschen zu leben, in Ehrfurcht vor dem Leben eines jeden, in dialogischen Wechselbeziehungen, in Barmherzigkeit mit sich selbst wie mit anderen und in herzlicher und tätiger Liebe zusammen zu leben und dies zu einer alle verbindenden, die Gesamtgesellschaft prägenden Kultur auszubauen."
Was vergessen: Die Bilder auf dem Umschlag vom Münchner Günter Neupel. Die sind schön! Werd ihn gleich mal googeln..

Dieter Bach auf: www.lehrerbibliothek.de:
Inklusion wird kommen – auch in den Schulen. Die Diskussion um eine inklusive Schule ist vor dem Hintergrund der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ("Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen", 2006 / 2009 von der BRD ratifiziert) vollends entfacht und wird das Schulsystem verändern und vor gewaltige neue Herausforderungen stellen in Richtung auf ein "integratives Bildungssystem auf allen Ebenen." Inklusion "bedeutet nichts anderes, als dass Menschen mit einer Behinderung – oder welchem Anderssein auch immer – dort leben, feiern, tanzen, arbeiten, wo alle anderen es auch tun“ (so die Herausgeber dieses Buchs). Die derzeitige Debatte um Inklusion hat durch die „UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung“ allerorten Fahrt aufgenommen. Aber sie trägt ein Janusgesicht, denn Inklusion wird gerne in Sonntagsreden beschworen, während gleichzeitig unter dem Motto „Eigenverantwortung für alle“ Sozialabbau betrieben wird. Auch die Autor/inn/en dieses Buches stehen fest zur Inklusionsidee. Sie nehmen sich aber die Freiheit, kritisch zu hinterfragen, welche Gefahren in der Propagierung dieses Zieles auch stecken können, z.B. Sparkonzepte oder Endprofessionalisierung.

Hilde Schädle-Deininger in: pflegen: psychosozial:
Auf dem Cover ist zu lesen: Was ist Inklusion? Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – nämlich, dass alle Menschen, so verschieden sie sein mögen, ob beeinträchtigt, behindert oder „normal“, dass alle Menschen gleichberechtigt Teilhabende unserer Gesellschaft sein sollen. Wenn das alles so selbstverständlich wäre, hätte die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung nicht ratifiziert werden müssen. Also scheint es doch einen entscheidenden Unterschied zwischen „Hineingenommen werden“ und „Dazugehören“ zu geben. In seinem Beitrag in diesem Buch betont Michael Wunder: „Die Konvention markiert den endgültigen Wechsel vom medizinischen Modell der Behinderung zu einem sozialen Modell der Behinderung. Sie stellt den betroffenen Menschen mit seinem Willen und seinen Wünschen in den Mittelpunkt und macht sein Wohl zum Maßstab aller Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen.“
In diesem Buch wird Inklusion als Selbstverständlichkeit und Programm aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und teils sozusagen gegen den Strich gebürstet. Es verweist auf das Janusgesicht, denn Inklusion wird derzeit gerne in Sonntagsreden beschworen, während gleichzeitig unter dem Motto „Eigenverantwortung für alle“ Sozialabbau betrieben wird. Das Buch fordert dazu auf, sich dem Thema zu stellen und die Diskussion im eigenen beruflichen und bürgerlichen Kontext anzuregen und in eine kritische Auseinandersetzung zu führen.

Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/2011:
Seit 2009 gilt in Deutschland die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Seitdem wird in der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit verstärkt über den Begriff der Inklusion diskutiert. Die Herausgeber geben mit ihrem Sammelband einen Überblick über den Stand der Inklusionsdebatte, über praktische Umsetzungsmöglichkeiten und -probleme und Herausforderungen für die zukünftige Entwicklung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die Autoren, alle seit langem in der praktischen Teilhabearbeit tätig, leisten damit einen interessanten Beitrag zur Entwicklung eines differenzierten Verständnisses von Inklusion.

Christine Theml: Nicht ohne uns:
Michael Wunder schreibt in seinem Buchbeitrag „Inklusion – nur ein neues Wort oder ein anderes Konzept?“: „Inklusion ist eines der Leitprinzipien der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die die UN-Generalversammlung im Dezember 2006 nach langer Vorarbeit verabschiedet hat.
2008 hat der Deutsche Bundestag diese Konvention ohne Vorbehalt ratifiziert. Mit der Ratifizierung sind die Regelungen der Konvention in nationales Recht ĂĽbergegangen, bzw. mĂĽssen deutsche Gesetze nun der Konvention angepasst werden.
Die Konvention markiert den endgültigen Wechsel vom medizinischen Modell der Behinderung zu einem sozialen Modell der Behinderung. Sie stellt den betroffenen Menschen mit seinem Willen und seinen Wünschen in den Mittelpunkt und macht sein Wohl zum Maßstab aller Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben unter Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen.“ (S.22)
Zuvor wurde von Integration behinderter Menschen gesprochen, weil zu Beginn der Industrialisierung diese Menschen ausgesondert bzw. separiert wurden. Inklusion aber bedeutet u.a. „Miteinander des Verschiedenen“ (Adorno). Es geht um einen bürgerrechtlichen Ansatz. Inklusion ist auf die Unterstützung im Sozialraum gerichtet.
Gleichzeitig wird neben der notwendigen Selbstständigkeit und Selbstbewusstheit, die gefördert werden sollen, die Verletzlichkeit, das Angewiesensein auf Hilfe, der schwache Mensch mit seinen Rechten und Pflichten thematisiert. Endlich. Denn manchem wurde Angst und Bange im Prozess der Ökonomisierung des sozialen Bereiches, wo aus Patienten Kunden wurden und vorauszusehen war, dass Schwächere das Nachsehen haben.
Die Herausgeber Holger Wittig-Koppe, Fritz Bremer und Hartwig Hansen haben sich zu einer Sammlung kritischer Artikel zu diesem doch eigentlich erfreulichen Thema entschieden, weil in unserem Land und auch in anderen europäischen Ländern gegensätzliche Prozesse ablaufen.
So schreibt Georg Theunissen z. B. zum Thema: „Inklusion – für die Behindertenarbeit kritisch buchstabiert“, dass die deutsche Übersetzung des Wortes Inklusion doch wieder vermuten lässt, dass nichtbehinderte Menschen behinderte Menschen einbeziehen. Dabei geht es um das Zusammenspiel von Inklusion, Partizipation und Empowerment. (S.47)
Wie gesamtgesellschaftlich er denkt bei diesem Thema kann man an folgendem Zitat feststellen: „Die Aufgabe des politischen Systems bei Aufbau sozialen Kapitals wäre, die Verantwortung von Bürgerinnen und Bürgern zuzulassen. Bürger dürfen Verantwortung übernehmen, ohne ständig in die Verhinderungsmühlen bürokratischer und politischer Entscheidungsträger zu geraten.“ (S.64)
Also insgesamt gilt es zu lernen, emanzipatorisch miteinander umzugehen. Inklusion und Bürgergesellschaft beinhalten einen Traum: „Den Traum, dass es Menschen gelingen kann, eine Gesellschaft zu schaffen, in der man, ohne Angst verschieden sein kann.“(Adorno) S.66 Holger Wittig-Koppe überschreibt sein Kapitel: „Wider die sozialstaatliche Kolonisierung des bürgerschaftlichen Engagements“, denn bei Inklusion geht es um das Zusammenleben aller Menschen in einer Gesellschaft.
Kritisch sieht der Autor den Umgang mit bĂĽrgerschaftlichem Engagement durch Politik und Verwaltung, die Freiwilligkeit leidet Schaden. (S.59)
Ingmar Steinhart bringt die Fülle angerissener Probleme auf einen Punkt (auf den Punkt kann man bei solch einem weiten Thema nichts bringen), wenn er schreibt: „Inklusion benötigt Ressourcen (vor allem durch Umschichtung) und eine neue Professionalität. Damit tritt Inklusion (fast) allen auf die Füße: mit einem Perspektivwechsel – von der Betreuung und Bewahrung über die Integration zur inklusiven Gesellschaft – ist gelebte Inklusion in der Praxis stets mit starker eigener Veränderung verbunden. Betroffen sind gleichermaßen die Systeme der öffentlichen Verwaltungen, der Leistungsträger, der Wohlfahrtsverbände und der Leistungsanbieter – und letztendlich jeder Einzelne, der in diesen Systemen mitarbeitet.“ (S.67 f)
Konkrete gut lesbare Aufsätze sind Erfahrungsberichte aus Holland (Kwartiersmakersfestivals) und aus Bremen („Inklusion praktisch – was da alles drin ist!“).
Von Sibylle Prins, der schreiberfahrenen Betroffenen aus Bielefeld, stammt ein Gespräch unter Betroffenen, die auf die Bitte der Evangelischen Akademie Bad Boll sammeln sollen, was sie unter Teilhabe verstehen. Da wird sehr authentisch ein ganz eigenes Feuerwerk von Stimmungsbildern unter Betroffenen gezündet, das verständlich macht, warum die Betroffenen vor allem gefragt werden sollten. („Jetzt dürfen wir also mitspielen …“ S. 140)
Den Abschluss bildet dann die SOLTAUER INITIATIVE für Sozialpolitik und Ethik in sozialen Arbeitsfeldern „Moralisch aufwärts im Abschwung?“ (S.154)
Gut geeignet scheint mir zum Schluss dieser Buchvorstellung ein russisches Sprichwort, das auf S. 166 zu finden ist: „Die Pferde der Hoffnung galoppieren, doch die Esel der Erfahrung schreiten langsam.“

Rechtsdienst der Lebenshilfe:
Die gegenwärtige Debatte um Inklusion hat durch die Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen an Intensität gewonnen. Inklusion wird gerne in Sonntagsreden beschworen, während gleichzeitig unter dem Motto „Eigenverantwortung für alle“ Sozialabbau betrieben wird. Dieses Buch ist eine kritische Bestandsaufnahme der Debatte und will zur weiteren Diskussion anregen. Die Autorinnen und Autoren greifen das Paradigma Inklusion engagiert auf, verweisen auf erkennbare Gefahren und stellen zugleich zukunftsweisende Fragen. Und sie verfolgen das Ziel, Inklusion konkret werden zu lassen, damit das Wort keine Leerformel bleibt. Ein lesenswerter Band zur vertieften Befassung mit dieser aktuellen Thematik.


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