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Maries Mörder

Rezensionen

„Eine grandiose Recherche.“ Euthanasie-Forscher Ernst Klee

"Maries Akte ist ein düsteres Lehrstück, ist sensibel rekonstruierte Zeitgeschichte im Familienformat ..." Evelyn Finger, Die Zeit

„Ein Buch, das wohl zu den interessantesten des Herbstes gehören dürfte. Wer es in die Hand nimmt, sei er Krimifreund oder einer der auf Fakten, Fakten, Fakten aus ist, wird es kaum wieder aus der Hand legen.“ Klaus Wilke, Lausitzer Rundschau

„Eine der beunruhigendsten Lehren dieses plastisch erzählten und akribisch recherchierten Buches ist die bestürzende Erkenntnis, dass Krankheit und der Umgang mit ihr immer auch vom gesellschaftlichen und politischen Umfeld geprägt sind. Ob jemand, der zeitweise ,verrückt ist‘ seine letzte Ruhestätte als Heilige im Reliquienschein findet oder als ,Ballastexistenz‘ im Massengrab endet, ist demnach nicht mehr als ein historischer Zufall.“
Hedwig Kaster-Bieker, Frankfurter Neue Presse

„Ein berührendes und mutiges Buch.“ Ulrike Heike Müller, Financial Time Deutschland

„Ein reiches, vielschichtige Buch.“ Barbara Bongartz, Die Presse, Wien

„Ein Buch, das weit über die eigene Geschichte hinaus geht und einschneidende Momente der Zeitgeschichte einfängt.“ Michael Hametner, MDR Figaro-Lesecafé


"Maries Akte" erhielt bisher neun Rezensionen auf www.amazon.de
Alle neun Empfehlungen wurden mit 5 Sternen bewertet!


Drei davon seien hier wiedergegeben:

Bemerkenswert
Von O.K.
Selten habe ich einen so spannenden Tatsachenbericht gelesen. Die Geschichten zweier Leben, wie sie wirklich nur das Leben selbst schreiben kann – und nicht minder faszinierend die Schilderung der Menschen, die mit diesen Geschichten in Berührung kommen, sie zu bewahren oder zu verschweigen suchen, je nachdem, welche Interessen sie verfolgen. Überaus beeindruckend ist auch die Darstellung des Krankheitsbildes Schizophrenie. Hervorragend recherchiert, hervorragend an den Leser gebracht, ein bemerkenswertes Buch.

Packend, spannend – Lesen Sie es!
Von Norbert Eisert (Oberlausitz)
Vorweg: Ich lebe in dem Dorf, wo Marie umgebracht wurde.
Das Buch ist ein "Zwischending" von Sachbuch und romanhafter Schreibweise, dabei aber gnadenlos akribisch recherchiert und flüssig wie ein Krimi lesbar. Und es ist ja tatsächlich ein Krimi. Von der familiären Seite her betrachtet,von den Berichten über die Euthanasie und deren Opfer her, dem Werdegang eines NS-Hochstaplers nach dem Krieg und schliesslich, wie die Kirche mit Wissenschaft umgeht.
Das gerade Letzteres brisant ist, zeigt, dass eine schon angesetzte Lesung zu "Maries Akte" mit der Autorin in Neugersdorf durch Drängen der katholischen Kirche wieder "abgesetzt" wurde. Frau Schneider wurde also "ausgeladen".
Man sollte meinen, in einem säkularen Staat geht so etwas nicht. Oh, oh ... geht doch.
Dogmatische Katholiken bezeichnen Frau Schneider wegen dieses Buches schnell mal als "Ketzerin". Es ist das beste Buch, was ich 2008 gelesen habe.

Ergreifend und erschütternd
Von Hildegard Meier
Zwei Frauen mit der gleichen Krankheit Schizophrenie. Die eine, Magdalena, wird zur "böhmischen Bernadette", verehrt, erhält ihre eigene Kirche, Pilgerströme reisen zu ihr und die Andere, Marie, die im Nazideutschland lebte, wird als unwertes Leben grausam gefoltert und letztendlich ermordet. Schon allein der Schicksalschlag – sie bekommt als "nicht verheiratete" ein Kind und wird derart schändlich "sitzen gelassen" – grenzt sie mit Schimpf Schande aus der Gesellschaft aus und ist sicherlich der Auslöser ihrer Erkrankung.


Rezensionen zur Neuausgabe:

Alexander Brandenburg auf www.socialnet.de:
... Fazit:
Nicht umsonst wird dieses Buch neu aufgelegt: Es kann sowohl als Einführung in die Politik der Euthanasie gelesen werden als auch als Geschichte einer Familie im Nazi-Deutschland. Es enthält überdies die Aufforderung, die gegenwärtige Situation psychisch kranker Menschen im Auge zu behalten.
Die gesamte ausführliche Rezension finden Sie hier:
www.socialnet.de

Verena Liebers in: Eppendorfer:
Geschichte, die unter die Haut geht
Kerstin Herrnkind hat das Leben ihrer von den Nazis ermordeten Großtante rekonstruiert

Marie wurde wegen ihrer psychischen Krankheit ermordet. Zur Zeit des Nationalsozialismus gab es viele derartige Verbrechen. Nur über wenige wurde jemals so detailliert berichtet. Insgesamt versinkt das Schicksal des Einzelnen hinter dem Ausdruck „Es war eine schreckliche Zeit“. Um die Dynamik und die perfide verstrickte Vergangenheit zu verstehen, ist der Blick auf das individuelle Schicksal aber unerlässlich. Deswegen ist es von großem Wert, wenn Autoren wie Kerstin Herrnkind ihre biographischen Recherchen öffentlich machen. Weit über die einzelne Lebensgeschichte hinaus entwirft sich damit das Bild einer grausamen Epoche in einem emotional begreifbaren Kontext.
Maries Geschichte wird unter Herrnkinds Feder ein Roman, der unter die Haut geht. Mit journalistischem Spürsinn, persönlicher Neugier, klarer Sprache und unendlicher Geduld hat Herrnkind das Leben ihrer Großtante rekonstruiert.
Als Tochter von zwei kinderreichen Hotelbesitzern hatte Marie zwar keine leichten Startbedingungen, schlug sich aber zunächst dennoch mutig und lebenslustig durch ihr Schicksal. Die Arbeitsbedingungen als Telefonistin waren haarsträubend, und Verletzungen durch elektrischen Strom gehörten ebenso dazu wie die Auflage, nicht zu heiraten. Als Marie ein Kind bekam, verließ sie nicht nur der Kindsvater. Auch der Arbeitgeber kündigte.
Alle diese Fakten, die Herrnkind aus Befragungen, Briefen und Akten zusammengetragen hat, untermalt die Autorin mit Hilfe ihrer Vorstellungskraft. Plastisch beschreibt sie die Ereignisse, wie sie sich möglicherweise zugetragen haben.
Nicht immer ist es leicht, den verwandtschaftlichen Verhältnissen innerhalb des Buchs zu folgen. Die Journalistin besucht Großeltern und Tanten, fährt zu allen Schauplätzen persönlich hin und recherchiert bei den Leuten vor Ort. Herrnkind schildert überzeugend die Ängste und Unsicherheiten, die Marie in jener Zeit durchgemacht haben muss. Ausgangspunkt für die Autorin sind aber stets ihre aktuellen Erlebnisse und Gefühle. Dabei wird deutlich, wie sehr die dunklen Zeiten noch nachwirken. Die Schatten der Vergangenheit, die unaussprechlich in ihrem aktuellen Umfeld wirken, sind für die Journalistin letztlich der Antrieb, um sich dieser Sisyphusarbeit zu widmen.
Was Herrnkind über das Verhalten der Ärzte in der damaligen Psychiatrie berichtet, ist erschütternd. Sie skizziert Menschen, die ausschließlich für ihren eigenen Vorteil kämpften und dabei den Heilungsauftrag des Arztes vollkommen vergaßen. Verhungert, vergiftet, zu Tode gequält, musste Marie mit 41 Jahren sterben, während ihr Mörder nach dem Krieg zu einer neuen Karriere durchstartete.
Gemeinsam mit Maries Enkeltochter Bärbel enthüllt die Autorin viele erschütternde Details der Vergangenheit. Besonders bizarr wirkt ihre Entdeckung, dass eine andere Verwandte, die offensichtlich ebenfalls Halluzinationen hatte, bis zum heutigen Tag als Heilige verehrt wird.
Anhand dieser zwei Frauenschicksale wird überdeutlich, dass der Zeitgeist und die Gesellschaft wesentlich darüber entscheiden, wohin der einzelne Lebensentwurf führt.
Ein Buch, das uns alle zu Toleranz und gegenseitigem Respekt ermahnt und eindringlich zeigt, dass die Vergangenheit nie wirklich vergangen ist und noch über viele Generationen weiter wirkt.

Dörte Staudt in: Soziale Psychiatrie
"Ein Stück späte Gerechtigkeit"
„Tote soll man ruhen lassen“, das war die Lebensweisheit einer betagten Dame. Ihre Enkelin Kerstin Herrnkind hat sich nicht daran gehalten. Und das ist gut so.
Denn indem die Autorin die Biografien ihrer Urgroßtante Marie und ihrer Ururgroßtante Magdalena nachzeichnet, entwirft sie zugleich schreckliche, leider realistische Bilder der Vergangenheit. Es ist bekannt, dass mindestens 250.000 psychisch kranke oder behinderte Menschen von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Doch das ist eine Zahl. Wie viel greifbarer, auch erschütternder aber prägt sich das Leid der Opfer ein, wenn es an einem einzigen, klaren Beispiel erzählt wird. Kerstin Herrnkind hat sich – so lautet auch der Untertitel ihres Buches – auf Spurensuche eines solchen Beispiels, auf die Suche nach dem Weg ihrer Großtante begeben. Sie fängt dabei nicht erst im Jahr 1928 an, als ihre Vorfahrin Marie aus der Fabrik heraus mit der Diagnose Schizophrenie in ein Krankenhaus abgeführt wurde, sondern steigt tief hinab in die Vergangenheit, schildert die Herkunft der Eltern, die zahlreichen Umzüge der vielköpfigen Familie. Herrnkind schreibt über den frühen Kriegstod des Vaters, über die finanzielle Not der schließlich auf sich selbst gestellten Jugendlichen. Marie verdingte sich als Dienstmädchen, später als „Telefonfräulein“, verlor diese auskömmliche Arbeit nach der Geburt ihrer Tochter, für die der Kindsvater Verantwortung nicht übernehmen wollte. Kerstin Herrnkind nimmt ihre Leser für Marie ein, sie weckt Sympathie und Verständnis. Und als sie schließlich zu den Kapiteln über die gnadenlose, kalte Psychiatrie der Weimarer Zeit kommt, die sich unter den Nationalsozialisten in Unmenschlichkeit wandelt, als sie beschreibt, wie Marie – sorgfältig vom Pflegepersonal in den Akten notiert – drastisch abmagert und im Februar 1942 schließlich vergiftet wurde, formieren sich bei ihren Lesern viele Fragen. Was wäre gewesen, wenn die allein erziehende Marie ihre Tochter in einem weltoffenen Sozialsystem hätte aufziehen können? Was wäre gewesen, wenn die Psychiatrie statt der Zwangsernährung, die Marie in ihren ersten Jahren der Behandlung ertragen musste, und Zwangsjacken eine einfühlsame Therapie gekannt hätte?
Das ist die Geschichte der einen Urgroßtante. Die der anderen Vorfahrin, jener Magdalena aus Philippsdorf (dem heutigen tschechischen Filipov), ist auf den ersten Blick vollkommen anders. Und doch zeigt Herrnkind Parallelen mit der Nichte Marie auf.
Denn durch die nüchterne wissenschaftliche Brille betrachtet könnte die Marienerscheinung, die die arme Weberstochter Magadalena im Jahr 1866 gehabt haben will, ebenfalls eine schizophrene Episode gewesen sein. Auf jeden Fall, das weist die Autorin nach, hat es sich hier nicht – wie noch heute von Gläubigen behauptet – um die auf ihre Marienerscheinung folgende Wunderheilung einer Krebserkrankung gehandelt.
Und so löste ein und dasselbe Krankheitsbild binnen weniger Jahrzehnte höchst unterschiedliche Reaktionen aus. Während der einen, Magdalena, heute noch in der eigens gebauten Wallfahrtsbasilika gedacht wird, blieb von der anderen, von Marie, nicht einmal die genaue Ortsbezeichnung des Massengrabs, in dem sie verscharrt worden ist.
Kerstin Herrnkind arbeitet quellensicher, mit verlässlichen Nachweisen, und lässt ihrem Text dennoch den nötigen Fluss. „Maries Mörder“ ist eine gut lesbare Dokumentation, keine rein wissenschaftliche Arbeit. Die Journalistin schreibt sachlich, kontrastierend in diesem fast übernüchternen Ton zu dem aus jeder Zeile sich offenbarenden sehr persönlichen Anliegen. Sie wollte vor allem ihrer Tante Marie „ein Stück späte Gerechtigkeit“ erkämpfen. Dass eine Buchlesung im Filipov-nahen Neugersdorf von der Kirche und der Bürgermeisterin verhindert wurde, zeigt dabei deutlich, wie viel es in dieser Hinsicht noch zu tun gibt. Deshalb ist es gut, dass „Maries Akte“ vier Jahre nach der Erstveröffentlichung nun im Paranus-Verlag unter dem Titel „Maries Mörder“ neu aufgelegt wird.

Andrea Schönhofer in: Pro Mente Sana:
Die Geschichte einer Spurensuche
Kerstin Herrnkind macht sich in ihrer Erzählung auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie. Sie rekonstruiert auf einfühlsame Weise die Geschichte von zwei Frauen: Marie und Maria Magdalena. Beide waren vermutlich an einer Psychose erkrankt, ihre Lebensgeschichten könnten unterschiedlicher kaum sein.
Marie war die jüngste Schwester von Kerstin Herrnkinds Großvaters Henry. Sie wurde im Jahr 1900 als eines von elf Kindern von Anna Kade geboren. Sie hatte eine schwierige, von vielen Umbrüchen geprägte Kindheit. Mit 19 wurde sie schwanger. Der Vater des Kindes ließ sie sitzen, sie verlor ihre Arbeit, ihr Ruf war ruiniert. Auf der Suche nach Halt und Geborgenheit geriet sie an die Lorenzianer, eine Sekte.
Mit 28 Jahren wurde Marie von „religiösem Wahn“ befallen, sie hielt sich für Jesus. Im Krankenhaus wurde die Diagnose „Dementia praecox“ (Jugend-Irresein) gestellt. Sie galt als hoffnungsloser Fall, wurde von einem Krankenhaus zum nächsten geschoben und schließlich – in der Zeit des Nationalsozialismus – ermordet, zum „Zwecke der Sparung von Lebens- und Heilmitteln“.
Maria Magdalena (*1835) erging es völlig anders. Sie war die Tante von Anna Kade, Maries Mutter. Mit 19 Jahren erkrankte Maria Magdalena: Sie fiel bei der kleinsten Aufregung in Ohnmacht, hatte Schmerzen und seltsame Krämpfe. Ihr wurde „Fantasie in religiösen Dingen“ attestiert. Mit 29 hatte sie eine schwere Hirnhautentzündung. Kurz danach erkrankte sie an einem Hautleiden. Eines Nachts erschien ihr die Gottesmutter Maria. Ihre Hautkrankheit und die Schmerzen waren daraufhin auf wundersame Weise geheilt.
Im Ort geschahen danach weitere „Wunderheilungen“. Maria Magdalena wurde berühmt. Eine Basilika erinnert bis heute an sie.
Das Buch hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Es ist Krimi und Biografie in einem. Als Leserin konnte ich die Recherchen der Autorin schrittweise mitverfolgen und so immer tiefer in das Leben von Marie und Maria eintauchen. Leicht verdaulich ist es jedoch nicht, denn die Autorin rollt ein Stück sehr bedrückende Welt- und Familiengeschichte neu auf. Ich würde das Buch weiterempfehlen, aber eher nicht als Bettlektüre.

Kay Müller in: Stormarner Tageblatt/ SHZ-Verlag:
Umnebeltes Familiengeheimnis
„Ich glaube, das hätte Marie gefallen.“ So lautet der letzte Satz des Buches „Maries Mörder“ der Lübecker Autorin Kerstin Herrnkind, das gerade im Paranus–Verlag Neumünster erschienen ist. In ihrem Buch beschreibt die 47-jährige Stern-Redakteurin ihre Spurensuche nach den Verantwortlichen für den Tod ihrer Großtante Marie, die als „lebensunwertes Leben“ von den Nationalsozialisten ermordet wurde. „Es hätte Marie gefallen, dass ihre Lebens- und Leidensgeschichte nun in zweiter Auflage von Menschen gedruckt wird, die – ähnlich wie sie es war – psychisch krank sind oder waren, und dass ihr Buch in einem Verlag erscheint, der Arbeitsplätze schafft für psychisch Kranke“, sagt Herrnkind.
Wie kam die Autorin darauf, dieses Buch zu schreiben? Mit 19 hört sie das erste Mal von der Existenz der Großtante. Sie wagt nicht nachzufragen. „Da schlummerte etwas im Nebel der Familiengeschichte, an dem man besser nicht rührte“, sagt Kerstin Herrnkind. Fast zwanzig Jahre später macht sie sich auf die Suche nach Marie und stößt auf sorgsam gehütete Familiengeheimnisse. Marie wurde von den Nazis umgebracht, weil sie unter Schizophrenie litt. Am Ende findet Herrnkind Maries mutmaßlichen Mörder und enthüllt einen bislang unbekannten Skandal um einen NS-Verbrecher.
In der zweiten Auflage beschreibt Herrnkind, was seit der ersten geschah. „Die Katholische Kirche hat etwa dafür gesorgt, dass ich in Neugersdorf, dem Ort, wo das Buch größtenteils spielt, nicht lesen durfte.“ Es habe aber auch viele positive Reaktionen gegeben. So habe die Gemeinde Großschweidnitz, wo während der NS-Zeit über 5000 Menschen als „lebensunwert“ ermordet wurden, angekündigt, eine Gedenkstätte zu errichten. Kerstin Herrnkind: „Natürlich können virtueller Gedenkplatz, Stolperstein oder Bücher das Unrecht, das Marie widerfahren ist, nicht wieder gutmachen. Aber sie schaffen vielleicht ein Stück späte Gerechtigkeit für Marie und den anderen Opfer. Sie sind nicht mehr namenlos. Und vergessen.“

Rezension von Thomas R. Müller:
Im Mittelpunkt des Buches "Maries Akte. Das Geheimnis einer Familie" stehen zwei Frauenschicksale: Die eine, Marie, die Schwester des Großvaters der Autorin kommt Ende der 20-er Jahre in die Psychiatrie und wird eines der ersten Opfer der Euthanasie. Die andere, Magdalena, die Großtante Maries, behauptete, dass ihr die Mutter Gottes erschienen sei, und löste nach ihrer wundersamen Heilung von einer mysteriösen (psychischen?) Krankheit eine Pilgerbewegung aus, die ihren Heimatort Ende des 19. Jahrhunderts zum "böhmischen Lourdes" werden ließ.
Die unheimlichen Parallelen zwischen den Lebensgeschichten der beiden Frauen waren ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das die Autorin Kerstin Schneider behutsam und doch entschlossen aufzudecken versucht. Dabei gelingt ihr eine Reportage, spannend wie ein Krimi.
Auf der Suche nach den Wurzeln ihrer Familie recherchiert die Autorin in der sächsischen Provinz und in dem jenseits der Grenze gelegenen Städtchen Filipov, ehemals Philippsdorf. Sie reist in die Psychiatrie nach Arnsdorf bei Dresden, wo Marie 1928 wegen "religiösen Wahnsinns" interniert wurde, und nach Großschweidnitz, wo sie 1941 ermordet wurde. Sie sucht nach der Enkelin von Marie und lernt schließlich Bärbel, eine ihr bis dahin unbekannte Verwandte aus Dresden kennen.
Und sie deckt die unglaubliche Karriere des gescheiterten Medizinstudenten Robert Herzer auf, der durch politisches Wohlverhalten eine Hilfsarztstelle in der Psychiatrie bekam und zu Maries mutmaßlichem Mörder wurde. Nach seiner Verurteilung 1947 im Dresdner "Euthanasie"-Prozess arbeitete er im Gefängnis als Arzt bis er nach seiner späteren Entlassung im Westen als medizinisch-psychologischer Leiter beim TÜV Karriere machte.
Souverän bewältigt die Autorin den Spagat zwischen der durch Akten und Dokumente rekonstruierten Vergangenheit und der bei den Nachforschungen erlebten Gegenwart, zwischen den großen Themen deutscher Geschichte und den individuellen Schicksalen.
Dass es der Autorin dabei gelingt, immer wieder auf den Kern des Buches, nämlich die Lebensgeschichten der beiden Frauen zurück zu kommen, zeigt, dass die Stern-Redakteurin Kerstin Schneider ihr journalistisches Handwerk vorzüglich beherrscht. Aber es ist auch die spürbare persönliche Betroffenheit, die den Leser fesselt und dafür sensibilisiert, wie nah beieinander die Verehrung als Heilige und die Vernichtung als Geisteskranke liegen können.

Ursel Winkler in: systhema:
„Ich weiß jetzt, was ein Fluch ist. Meine Großmutter hat mich gewarnt. ‚Tote soll man ruhen lassen.’ Vielleicht hätte ich auf sie hören sollen. Aber ich wollte die Wahrheit wissen.“ (S.11) – so die einleitenden Worte der Autorin, die in dem vorliegenden Buch die Suche nach ihrer Großtante Marie mehr als 60 Jahre nach deren Tod schildert. Die Umstände um Maries Tod waren bis zu diesem Zeitpunkt in ihrer Familie als sorgsam gehütetes Geheimnis gut verborgen. Die Autorin legt ihre „Spurensuche“ sehr breit an und bezieht die Hintergründe und Charakteristika anderer außergewöhnlicher Personen ihrer Herkunftsfamilie mit ein, wie beispielsweise Maria Magdalena Kade – eine 1905 gestorbene Großtante von Marie.
Die sich über mehrere Generationen erstreckende Beschreibung der Familiengeschichte der Autorin vereint eine akribisch und quellenreich rekonstruierte Dokumentation der Zeitgeschichte der Psychiatriepolitik im Nationalsozialismus und eine anschauliche Problematisierung der Relativität von Verhaltensweisen, Symptomen und deren Konsequenzen: Je nach Zeitgeist und Kontext werden religiöse Phänomene entweder als pathologisch oder aber als göttliches Handeln etikettiert. In der einen Generation befindet sich Magdalena, die aufgrund einer sich ihr Mitte des 19. Jahrhunderts zugetragenen Erscheinung der Mutter Gottes bis heute als böhmische Heilige verehrt wird. Zwei Generationen später fällt Marie 1942 als eine von 5000 ermordeten Patienten der Psychiatrie Großscheidnitz der NS-Euthanasie zum Opfer. Als Grund der Einlieferung in die Psychiatrie ist Maries Akte zu entnehmen, dass sie sich 1928 während der Arbeit plötzlich für Jesus hielt und alle anderen als Teufel beschimpfte, woraufhin sie als schizophren diagnostiziert wurde und bis zu ihrer Ermordung als Gefangene der Psychiatrie verblieb. In drei Teilen (Spurensuche, Maries Akte, Magdalenas Erscheinung) schildert die Autorin Stationen ihrer Reise an die tschechische Grenze, Maries Familiengeschichte und ihre lange Zeit in der Psychiatrie sowie Magdalenas Geschichte. Die Autorin macht bei ihrer Recherche tatsächlich die direkt Verantwortlichen für den Tod ihrer Großtante ausfindig und deckt die Vertuschungsstrategien dieser Akteure in der Nachkriegszeit auf.
Der blumige Schreibstil und die detailreichen Schilderungen von Nebensächlichkeiten sowie diversen retrospektiv vermuteten Sinneseindrücken, Gedanken und Gespräche sind zugegebenermaßen recht gewöhnungsbedürftig. Wer sich darauf einzulassen vermag, hat es leicht, in eine packende Geschichte einzutauchen, die Emotionen der Akteure mitzuempfinden und der Enttarnung eines familiären Geheimnisses beizuwohnen, das aufs Engste verknüpft ist mit einer dunklen Epoche der Sozial- und Psychiatriegeschichte. Dieses Buch sei nicht nur historisch Interessierten, sondern gleichermaßen all denjenigen empfohlen, denen die Menschen am Herzen liegen, die sozialpolitisch wenig Lobby haben: kranke und behinderte Menschen. Insofern kann die persönliche Spurensuche in die Vergangenheit der Familiengeschichte der Autorin einen Beitrag leisten, auch die gegenwärtige Situation psychisch kranker Menschen mit Bedacht und kritisch im Auge zu behalten.

Christine Theml in: Nicht ohne uns:
Das Buch, das mich packte, obwohl ich das Thema der Verbrechen an Psychiatriepatienten in der Nazizeit bisher gemieden habe, da mir die gegenwärtigen Themen im Zusammenhang mit Psychiatrie Stoff genug zum Nachdenken gaben und geben. Vielleicht ist das Buch deshalb leichter zu lesen als Berichte oder Protokolle mit harten Fakten, weil es eine Spurensuche ist, aus der historischen Distanz heraus geschrieben. Denn darum geht es.
Kerstin Herrnkind, gestandene Journalistin und erprobte Autorin, hat ein Buch über ihre Großtante Marie Kade geschrieben, die als Frühchen zur Welt kam, von ihrer Mutter Anna mit viel Mühe über die ersten Monate am Leben gehalten wurde, sensibler als andere Kinder war, von einem Fleischersohn ein Kind bekam, nicht geheiratet und verlassen wurde, sich kümmerlich mit der unehelichen Tochter durchschlagen musste, schließlich im Alter von 28 Jahren in eine Anstalt wegen einer ausgebrochenen Schizophrenie gebracht und im September 1942 ermordet wurde.
Eine andere Verwandte, Magdalena Kade, hatte im 19. Jahrhundert Berühmtheit erlangt, weil sie nach jahrelangem Siechtum wegen schwacher Nerven eine Erscheinung hatte, die Gottesmutter Maria, die zu ihr sagte: „Mein Kind, von jetzt an heilts.“ Magdalena war von Stund an gesund und kräftig, andere Menschen wurden ebenfalls von Nervenleiden an dieser Stelle, die erst zum „Gnadenhäuschen“, später zur Gnadenkapelle wurde, erlöst. Dem Einspruch von Medizinern wurde nicht stattgegeben, die katholische Geistlichkeit setzte sich durch, und Philippsdorf wurde zum böhmischen Lourde und Magdalena zu einer Bernadette. Die Familie und der Ort gelangten auf dem Hintergrund dieser Heilsgeschichte zu Wohlstand, der noch in die Kindheit Maries hineinreichte, mit den Unruhen des 1. Weltkrieges und der sich anschließenden Weltwirtschaftskrise aber zerrann. Magdalenas Berühmtheit wurde in der Familie verschwiegen, nachdem die Nachkommin Marie Züge des Wahnsinns entwickelte. In der Zeit des Faschismus konnten Erbkrankheiten lebensgefährlich werden.
Kerstin Herrnkind, geborene Schneider, will dem Familiengeheimnis auf die Spur kommen, sie will die Wahrheit wissen. Vier Jahre brauchte sie, das Buch zu schreiben, nachdem sie 2003 im Staatsarchiv in Leipzig Maries Akte gelesen hatte. Eine Akte, die vor allem aus den Zeiten ihres Anstaltslebens berichtete. In dieser Akte fand Kerstin Herrnkind die Worte „Erblichkeit mütterlicherseits“ (S. 266). Die brachten sie auf die Spur der berühmten Verwandten Magdalena Kade, mit der das bisher gehütete Familiengeheimnis begann.
Wie hier Schicksale verflochten sind und wie die Zeitgeschichte – in diesem Fall bedrohlich, ja lebensgefährlich – hineinwirkt, das wird zwar sachlich berichtend und unaufgeregt erzählt, andererseits aber berührend hinsichtlich einer späten Ehrung der ermordeten Marie, um die die Autorin sich bemüht. Denn Mühe ist es, Spuren zu finden, ihnen nachzugehen, Vorurteile als solche zu behandeln, immer in der eigenen Zeit zu bleiben, sich nicht vom Mitleid wegschwemmen zu lassen und die Familie nicht zu denunzieren. Sie ist groß, die Familie, alle Mitglieder in den verschiedenen Generationen haben ihre eigene Geschichte. Am Ende kommen Magdalena und Marie, um deren Schicksal es der Nachfahrin in erster Linie ging, auch tatsächlich zusammen. „Es gibt eine seltsame Arithmetik in unserer Familie. Magdalena wurde 1835 geboren. 65 Jahre später, 1900, kam Marie zur Welt. Wieder 65 Jahre später, sogar fast auf den Tag genau, wurde ich geboren. Aber ich habe nie Gespenster gesehen, wie Magdalena und Marie. Dieses Schicksal ist mir erspart geblieben. Bald nach dem Abendessen, bei dem ich das erste Mal von Marie gehört hatte, fing ich von alleine an zu essen. Zwischen zwanzig und dreißig, also in dem Alter, in dem Magdalena und Marie krank wurden, war ich mit Studium und Volontariat beschäftigt. Lernte das, was mich später befähigen sollte, das Geheimnis unserer Familie zu lüften.“ (S. 275)
Nüchtern erzählt Kerstin Herrnkind von der Geschichte der Euthanasie in Sachsen. Wie sie an Breite und Legitimität gewann, wie sie bereitwillige Helfer und Vollzieher fand. Hier werden auch Zahlen genannt. Erschütternd ist immer wieder, das System hinter den Morden zu sehen, wie durchdacht das Geschehen war, wie um Korrektheit bemüht.
Gerade vor dem Hintergrund der wieder erwachten Naziideologie, dem wieder sichtbarer werdenden Fremdenhass, ist das Buch, das ein Zeugnis dafür ist, wie weit es kommen kann, ein Beitrag zur Ehrung der Opfer und eine Warnung. Und Marie erhält eine späte Würdigung, die ihr sogar nach ihrem Tode damals verweigert wurde. Die Familie hatte wieder abreisen müssen, als sie zur Beisetzung nach Großschweidnitz kam. Es fand keine Beerdigung statt, Marie wurde im Massengrab verscharrt.
„Ein halbes Jahr später (September 2009 – C.T.) bekam Marie endlich so etwas wie einen Grabstein. Der erste Stolperstein, den der Künstler Gunter Demnig im November 2009 in Dresden verlegte, war Marie gewidmet. Am Abend fand für Marie und die anderen, meist jüdischen Opfer aus Dresden in der Synagoge eine Gedenkveranstaltung statt.“ (S. 288)


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