Suche:     

Schlaflos mit Kleopatra

Rezensionen

Astrid Delcamp in: Soziale Psychiatrie:
Psychose und Migration
Berlin, Deutschland im Herbst 2015. Der Flüchtlingsstrom beschäftigt die Zivilgesellschaft und uns psychiatrisch Tätige. Die Träger bieten Fortbildungen an, zusätzliche Stellen sollen beantragt werden. Wie sollen wir mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen? Genau in dieser Zeit lese ich "Schlaflos mit Kleopatra". Ich habe das Gefühl, dieses neue Buch aus dem Paranus-Verlag kommt mir wie gerufen. Selajdin Gashi‚der 1962 in Nikushtak‚ Mazedonien‚ geboren worden ist und in Dardanien im heutigen Kosovo aufwuchs, beschreibt den ersten psychotischen Schub eines jungen Mannes, der mit seiner Freundin Sybille Urlaub am Meer macht. Alles beginnt damit, dass der Erzähler nicht mehr schlafen kann und seine Gedanken permanent kreisen. Im ersten Teil des Buches beschreibt der Autor‚wie er sich zunehmend schlechter konzentrieren kann, wie er grübelt und versucht, alles vor seiner Freundin geheim zu halten. Erinnerungen mischen sich schon am ersten Tag mit der Urlaubsrealität.
"Ich wälze mich auf der Matratze hin und her. Ich denke an meine Vergangenheit. Die ist heute besonders lebendig. Ich kam aus einer Gegend‚die kaum ein Europäer jemals besucht hat. Ich habe miterlebt, wie dort die ersten Straßen asphaltiert wurden." Die Situation spitzt sich im Verlauf des gemeinsamen Urlaubs zu. Später lernt er Kleopatra kennen und betrügt seine Freundin mit ihr, trennt sich aber wieder von seiner neuen Liebe. Unklar bleibt mir an dieser Stelle, ob Kleopatra real existiert oder Teil seiner wahnhaften Wahrnehmung ist. Nach der Heimreise mit extremem Schlafentzug bricht er bei einem Freund zusammen und wacht im Krankenhaus auf. Dieser Teil ist geprägt durch die einfache und einfühlsame Beschreibung des Alltags auf der geschlossenen Station. Die Ärzte haben wenig Zeit, die körperliche Verfassung des Erzählers verändert sich stark durch die Einnahme von Psychopharmaka.
Aber da sind ja noch die Mitpatienten. Diese Gespräche untereinander haben mir gut gefallen. im Raucherzimmer findet erstklassige Peer-Beratung statt, und alle sind nett zueinander. Dabei wird der Protagonist auch auf die Nebenwirkungen der Medikamente vorbereitet. Dies alles geschieht unaufgeregt und ohne erhobenen Zeigefinger. Es werden Inhalte psychotischen Erlebens ausgetauscht. Episoden aus der Vergangenheit wechseln sich ab mit Beschreibungen des Stationsalltags. Auch Billard wird gespielt.
Dieser Erfahrungsbericht eines psychiatrieerfahrenen Menschen ist etwas Besonderes. Der Autor kam 1984 nach Köln und studierte dort Germanistik, Philosophie und Anglistik. 1989 machte er erste Erfahrungen mit Psychose und Psychiatrie. Die biografischen Momente im Text haben Wiedererkennungswert. Im letzten Teil des Buches werden der Abschied aus dem Kosovo und die Reise nach Köln zu einer Frau beschrieben. DieserTeil hat mir am besten gefallen. Mir wird eine Welt näher gebracht, die ich nicht kenne. Aber auch die Frage wird aufgeworfen, ob das Verlassen der Heimat mit der Lebenskrise im Zusammenhang steht.
Das letzte Kapitel erzählt von der wiedergewonnenen Freiheit nach der Entlassung aus der Klinik. Ein paar Fragen bleiben: Was hat zu der Krise geführt? Existierte Kleopatra wirklich oder nur in der Fantasie des Erzählers? Welchen Einfluss hatten Migration und Flucht auf sein Leben?
Ich bin gespannt auf weitere Bücher, denn dieses macht neugierig auf andere Geschichten des Autors, der heute als Übersetzer und Dolmetscher tätig ist. Die Kombination aus seinem Erfahrungswissen über psychische Erkrankung, aus literarischer Begabung und Migrationshintergrund ist sicher zukünftig noch gefragter und wichtiger bei den Überlegungen zur Versorgung von Flüchtlingen.
Ich freue mich auf neue Texte und empfehle als Einstieg sein Erstlingswerk. Es lohnt, sich die Zeit zum Lesen zu nehmen!

Sibylle Prins in: Sozialpsychiatrische Informationen:
Durchdacht und literarisch bearbeitet!
„Oh nein“, dachte ich beim allerersten Anlesen dieses Buches, „nicht schon wieder ein Erfahrungsbericht eines Psychotikers, der fünftausenddreihundertachtundvierzigste, den ich (gefühlt) lese – ich kann das nicht mehr, das kenne ich schon in allen Varianten, muss das sein?“ Doch schon bald merkte ich, dass ich im Irrtum war. Diese Kapitel und Beschreibungen eines ersten psychotischen Schubes eines jungen Mannes, der mit veränderter Wahrnehmung und veränderten Gedanken in einem gemeinsamen Urlaub mit der Freundin beginnt, sind mitnichten einfach nur „aufgeschrieben“. Das ist alles fein säuberlich durchkomponiert, die Reflexionen, die in einer sehr lesbaren, klaren und einfach erscheinenden Sprache daherkommen, sind gründlich durchgearbeitet. Es ist zwar geschrieben aus der Perspektive des sehr jungen Mannes, aber dahinter steckt doch ein schon gereifterer Mensch. Allmählich geriet ich beim Lesen in den Sog dieses Buches, las es an einem Samstagnachmittag und Sonntagvormittag in einem durch. Ja, es ist ein Erfahrungsbericht – aber was für ein durchdachter und literarisch bearbeiteter! Natürlich fühlte ich mich in vielen Punkten in eigenen Erlebnissen berührt, zum Beispiel das veränderte Zeiterleben in der Psychose oder das Gefühl der tiefen, ja mystischen Schau. Andere Psychose-Erfahrene werden, da bin ich sicher, auch Bekanntes wiederfinden. Der Protagonist landet, wie es anscheinend unumgänglich ist, auch in der Psychiatrie, wo, wen wundert es, das Beste dort die Mitpatienten sind. Aber er hütet sich, bei allem, was ihn danach drängen könnte, nun die „Normalität“ oder die Psychiatrie völlig zu verteufeln, auch da ist eine, mitunter sanft (selbst-)ironische gründliche Reflexion am Werk. Verwoben in die erzählte Geschichte – die ich eher als autobiografischen Roman denn als reinen Erfahrungsbericht sehen würde – sind noch eine (oder eigentlich zwei) Liebesgeschichten sowie die Auseinandersetzung des Autors mit dem Verlassen seiner Heimat in Albanien. Auch das stimmig eingearbeitet. Und es ist auch ein ziemlich philosophisches Buch – der Autor hat zwar auch Philosophie studiert, aber sie kommt hier weder akademisch daher, noch hatte ich das Gefühl, da verstiege sich ein Psychose-Erfahrener in philosophische Höhen, die er eigentlich nicht beherrscht, sondern es ist eine Auseinandersetzung mit Themen wie „Verrücktsein“ oder „Stigma“, Selbstentfremdung und Selbstfindung, die alte Frage „wer bin ich?“auf einem alltäglichen, verständlichen, und dann doch wieder gehobenen Niveau. Nach der Lektüre bin ich mir sicher, dass ich das Buch wieder einmal lesen werde, was selten vorkommt. Und ich hoffe, dass es von diesem Autor noch mehr Bücher gibt oder geben wird!

Andreas Manteufel, Bonn, auf www.systemagazin.de:
Dass ein Buch besonders gut ist, merkt man daran, dass man es kaum noch aus der Hand legen will, hat man einmal mit der Lektüre begonnen. „Schlaflos mit Kleopatra“ erzeugt diese Neugierde, die von der ersten Seite an zum Weiterlesen zwingt. Es geht in dieser Erzählung um einen jungen Mann, dessen Denken und Wahrnehmen, und damit natürlich auch seine Beziehung, sich verändern. Während eines Sommerurlaubs mit seiner Freundin am Strand verdichten sich diese Erfahrungen, die er zwar an sich selbst registriert, für die er aber keine Worte, kein Konzept, keine Lösung findet. „Gerade das Nichtverstehen der eigenen, verzwickten Lage ist der Gräuel eines Psychotikers“, wird er später zu Protokoll geben. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub eskaliert seine Hilflosigkeit sich selbst gegenüber, was zu einem Psychiatrieaufenthalt, einer Diagnose und einer medikamentösen Behandlung führt. Dieses starke Stück Literatur reiht sich im Paranusverlag in die Rubrik „Erfahrungen“ ein, denn der Autor schreibt über seine eigenen Erlebnisse. In der psychotischen Entgleisung spiegeln sich als Kontexte so typische Themen wie Erwachsenwerden, Loslösung von der Familie, Migration und Selbstfindung.
Als Psychiatriemitarbeiter war ich besonders gespannt über die Beschreibung des Klinikaufenthalts, der laut Umschlaginformation in das Jahr 1989 datiert werden muss. Es ist die Rede von freundlichem pflegerischen und ärztlichen Personal, aber einer Atmosphäre knappster Gesprächszeiten mit Patienten. Das gilt für die eilige Chefarztvisite („Der Chefarzt verlässt mit seinem Gefolge und wehendem Kittel das Zimmer“) genauso wie für das „Arztgespräch mit Dr. M.“, über das der Autor reflektiert: „Ich habe zu wenig über das, was ich habe, erfahren. Gerne hätte ich einen Fachmann als Zuhörer, der Zeit hat und nicht gleich nach drei Minuten auf die Uhr schaut. Wobei ich trotzdem glaube, dass Dr. M. ein guter Arzt ist. Nicht überheblich und kein Ignorant“. Die Hauptrollen auf der Station spielen aber nicht Ärzte, Psychologen oder sonstiges Personal, sondern die Mitpatienten. Sie nehmen sich des „Neuen“ an, erklären ihm die Verhaltenskodizes einer geschlossenen Station und sprechen offen über den Sinn von Psychosen. Solche Dialoge, manchmal auch Monologe, werden ausführlich beschrieben, denn sie scheinen den Autor damals deutlich intensiver beeindruckt und beeinflusst zu haben, als die Gesprächsfragmente mit den „Fachleuten“.
In seiner souveränen Art muss der Literat Gashi weder spektakuläre Psychiatriestories, noch wütende Kritik am psychiatrischen Behandlungswesen auftischen, um Spannung, Nachdenklichkeit und manchmal auch Rührung zu erzeugen. Als Psychiatriepatient erleben ihn die Leserinnen und Leser überwiegend in einer fein beobachtenden und beschreibenden Rolle. Vielleicht ist das nicht nur seiner Intention als Schriftsteller geschuldet, sondern hat ihm diese Zurückhaltung damals auch dabei geholfen, einen längeren Aufenthalt in der Klinik zu vermeiden und seinen Mitpatienten bald wieder die Hand zum Abschied reichen zu können.
Der kurze, aber seismographisch präzise Einblick in eine psychiatrische Akutstation ist so aktuell wie er nur sein kann. Realistischer kann man die Sehnsüchte und Blockierungen in der Therapeut-Patient (oder wegen mir „Professioneller-Erfahrener“)-Kommunikation nicht in Worte fassen.
Es ist wohl die Kombination von literarischer Begabung auf der einen und Selbsterfahrung in Bezug auf das Thema auf der anderen Seite, die dieses Buch so besonders macht. „Schlaflos mit Kleopatra“ zu lesen kostet nur ein Wochenende. Ich empfehle das wärmstens.

Peter Mannsdorff in: Psychosoziale Umschau:
Das Gären einer Psychose im Sommerurlaub
Der Titel lässt auf eine verklärte Liebe mit psychischen Ausnahmezuständen schließen; der Untertitel eher auf eine Krankengeschichte. Ich habe mich auf die Liebesgeschichte eingelassen und bin nicht enttäuscht worden.
Es wird eine einfühlsame erotische Geschichte erzählt – eine Mischung aus Erlebnisbericht und autobiografischem Roman. Wenn es denn ein Roman ist, ist es ein Roman über das Gären einer Psychose und dem bösen Erwachen in der Klinik.
Der Protagonist, der dem Leser zu Anfang ohne eigene Identität mit dem selbst gewählten Namen Keops nahegebracht wird, verbringt mit seiner Freundin Ferien im Süden am Meer. Eine schöne Frau – Kleopatra – verführt ihn ungeachtet der unmittelbaren Nähe der Freundin, als Keops gerade in eine Phase wirrer Gedanken von Grübeleien und im Kopf selbstgeführten Dialogen mit seiner Freundin gerät. Er kann sich auf nichts mehr konzentrieren, liest, um den Schein der Normalität zu wahren, aber keine Zeile erfasst er. Ständig kreisen seine Gedanken um den Urknall und die Endlosigkeit des Universums. Und jetzt noch die Sehnsucht nach dem prickelnden, unbekannten Neuen – nach Kleopatra.
Dieser Teil des Romans brilliert durch seine sprachliche Knappheit, die Belanglosigkeit von jeglichem Gesagten und Gedachten wird authentisch wiedergegeben. Man kann den Einfluss der sengenden Sonne, die den Protagonisten so wirr denken lässt, gut spüren. Parallelen zu Camus’ ‚Fremden’, wo die gleißende Sonne auch eine große Rolle spielt, drängen sich auf.
Als es aber am Ende des Urlaubs zur Trennung zwischen Keops und Kleopatra kommt und klar geworden ist, dass es mehr als ein One-Night-Stand war, wird der Leser skeptisch. Da frage ich mich zum Beispiel als in diesen Dingen auch erfahrener Leser, warum denn keine Adressen ausgetauscht werden. Hineinschreien möchte man es vor Verzweiflung dem Protagonisten in sein Manuskript, aber diese ‚Unterlassungssünde’ macht den Leser bis zur letzten Zeile des Romans neugierig: Werden sich die beiden wiedersehen, hören sie doch noch etwas voneinander?
Für jene, die Stimmungsbilder aus psychiatrischen Stationen lesen wollen, scheint der zweite Teil des Erfahrungsberichts wie auf den Leib geschneidert zu sein. Denn auf einer psychiatrischen Station in Deutschland landet der Protagonist, der sich inzwischen mit seiner wahren Identität outet – Selajdin Gashi. Allerdings fehlen mir in den vielen Reflexionen konkrete Hinweise auf ‚Schlüsselerlebnisse’, die möglicherweise zu Gashis Psychose führten. Mir ist vieles nicht griffig genug. Auch in den Rückblicken in seine Kindheit und Jugend kann ich kaum andocken.
Mir ist diese Ursachenforschung aufgrund ähnlicher Erfahrungen sehr wichtig gewesen, aber ich fordere sie nicht als ein Muss in diesem Buch ein, wird der Autor doch seine Gründe gehabt haben, ihr auszuweichen. An einer Stelle am Ende des Romans schreibt er: Ich weiß, dass ich die Gründe für den Ausbruch dieser Krise selbst erkennen und schließlich auch selbst bewältigen muss.
Ich wünschte, der Autor hätte mit dieser Form der ‚Seelenarbeit’ und ‚Spurensuche’ bereits in diesem Buch begonnen. Aber wie ich das Talent des Autors und die literarische Qualität dieses Buches einschätze, werden noch weitere Erfahrungsberichte und Romane folgen, in denen er dann vielleicht auf die von mir erwünschte ‚Spurensuche’ geht. Ich bin jeweils auf die möglichen Ursachen seiner Krise gespannt und freue mich auf weitere Texte. Es empfiehlt sich auf alle Fälle den Lesern dieses Erstlingswerks, die Entwicklung des Autors weiter mitzuverfolgen.
Ich jedenfalls konnte mich als Psychose-Erfahrener an vielen Stellen mit dem Erzählten identifizieren. Ich habe das Buch übrigens im Sommerurlaub gelesen. Und dafür ist es auch geeignet. Aber auch für den Winter und Frühling ist es ideal und schließlich wieder für den kommenden Sommer als Erinnerung an der vergangenen ...
Unter dem Strich – bitte weitersagen!

Ferdinand Laholli, BĂĽckeburg, (u.a.) in der albanischen Literaturzeitschrift "Sara":
Der gespaltene Mensch
Ich habe das GlĂĽck, dieses Buch am Strand von Golem (Albanien) zu lesen. Wie in dem Buch von Gashi ist der Sand warm und das Meer unruhig.
In dem Buch handelt es sich um ein Pärchen, das Urlaub am Meer macht. Der Mann weiß, dass er ein poetisches Buch in der Hand hält, doch plötzlich wirft er die Frage auf: Was ist Poesie? Weiter erinnert er sich daran, dass er während seiner studentischen Zeit Poesie lesen musste. Die Frau liest schweigend etwas, während der Mann versucht sich genüsslich zu sonnen. Die Frau längst vertieft in ihrem Buch; der Mann versucht allemal vor seinen Gedanken zu fliehen, die mal zu einem inneren Dialog mit der Geliebten führen, mal zur Genesis des Lebens; mal führen sie ihn zur fernen Heimat, und mal zum starken Verlangen an nichts zu denken. Plötzlich lastet das Denken höllisch in ihm. Hier gilt dann nicht mehr die Maxime: Ich denke, also bin ich.
Während andere Autoren schon auf der ersten Seite versuchen ihre Erzählfähigkeit zu beweisen, springt Gashi plötzlich und lässig von einem Kapitel zum anderen, wo sich verschiedene Teile von Gedanken sich ausbreiten, die scheinbar einer Zerstreuung gleichen. Auf den ersten Blick erschwert diese Art von Erzählung dem klassischen Leser die Aufmerksamkeit, entfremdet den Wunsch die Hypothesen weiter zu lesen, die für wahr gehalten werden, und die Wirklichkeit, an die gezweifelt wird. Aber, Selajdin Gashi, der Philosophie studiert hat, weiß, dass er sein Wort an den aufmerksamen, geduldigen Leser richtet. Und gerade ein solcher Leser nimmt wahr, dass der Autor sich des stilistischen „Durcheinanders“ im ersten Kapitel bewusst ist, wo sich in einer sanften Vision immer heftiger der gespaltene Mensch herauskristallisiert. Genau der Zwiespalt des Menschen ist auch das Leitmotiv dieses Buches, das nach dem zweiten Kapitel bis zum Schluss einen festhält mit der erzählerischen Gewandtheit der Ereignisse, wo jede Grenze zwischen der Realität und Fantasie verschwindet.
Der Zweifel an sich selbst, aber auch an den anderen um einen herum, geistert gleich am Anfang. Wenn ein solches Gefühl wohl dosiert ist, das heißt unter Kontrolle, besitzt es die Werte der Fürsorge, jener Fürsorge, die dazu führt, dass wir abermals unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten in Richtung der Verwirklichung eines Zieles kontrollieren. Doch ein ständiger Zweifel nimmt irgendwann die Ausmaße der Angst, die nun nicht mehr geistert, um uns vor einem Kapitalfehler zu bewahren, sondern um uns bloß das zerrissene Hemd der Überzeugung gegenüber uns selbst auszuziehen. In einem solchen Augenblick fühlt sich der Mensch so nackt, so leer wie nie zuvor unter dem Einfluss seiner Schlaflosigkeit, wo das Verhältnis zum Dasein dämmert und dämmert. Meisterhaft entfalten sich vor unseren Augen unwirkliche Bilder der Wirklichkeit.
Schaut man sich den Titel an, oder das Bild auf der Vorderseite, ist es kein Fehler, wenn man glaubt, man ließe sich auf eine Liebesgeschichte ein. Doch lasst es uns offen sagen: das Buch birgt in sich mehr als bloß diese Annahme, vielmehr ist das Thema mit philosophischen Zügen eine unbewanderte Landschaft in der albanischen Literatur. Der Zwiespalt, eine fast unbehandelte Thematik, die mir seltsamerweise bekannt, seltsamerweise eine erlebte erscheint. Tatsächlich ist es so. Als ich im Juni 2015 eine Einladung des albanischen Schriftstellerverbands erhielt, nahm ich diese dankend an. Während ich in Richtung Wuppertal fuhr, kam es mir vor, als würde ich fliegen. Es war ein gänzlich unbekanntes Gefühl. Obwohl es warm war, zitterte ich am ganzen Leib. Das sagte ich meiner Frau. Sie hatte Verständnis für meine seelische Lage, die ich hier Freude nenne, denn ich sollte albanische Kollegen und Kolleginnen treffen. Gerade dort traf ich auch zum ersten Mal den Schriftsteller Selajdin Gashi. Heute habe ich den Eindruck, dass ich ein Produkt seines damals noch nicht veröffentlichten Buches „Schlaflos mit Kleopatra“ gewesen bin.
Der Autor ist in dem Buch ein Ich-Erzähler. Bei einer solchen Entscheidung ist es verständlich, dass der Monolog in großen Teilen des Buches herrscht, der aber in Gashis Thematik kein einziges Mal langweilig wird. Der seltene Dialog, der hin und wieder vital auf den Seiten des Buches erscheint, wird wie die Sonne nach einem Sturm und langer Zeit der Enttäuschung erlebt. Der Dialog kommt dann, um uns selbst, aber auch die anderen um uns herum klarer zu sehen. Die miteinander sprechenden Protagonisten sind zunächst rätselhaft, und je mehr sie gezeichnet werden, desto mehr kommen sie beim Leser an. Insbesondere die Protagonisten in der Psychiatrie bleiben unvergessen, die mit ihren genauso kurzen wie einfachen, aber auch philosophischen Äußerungen, sich vor uns wie berührbare Götter erscheinen, so menschlich und lieb, dass man plötzlich den Wunsch hat, wie sie zu sein: ver-rückt.
Ein Buch, das einen mit Mut erfĂĽllt auf dem Weg zum Selbst.

Ăśbersetzung der auf Albanisch verfassten Rezension durch Selajdin Gashi.

Informationen zum Rezensenten: https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Laholli

Verena Liebers in: Eppendorfer:
Wenn Träume überschäumen
Selajdin Gash schildert in seiner autobiografischen Erzählung „Schlaflos mit Kleopatra“ den Ausbruch seiner Psychose während eines Sommerurlaubs mit seiner Freundin. In kurzen, sehr schlicht formulierten Sätzen beschreibt er seine Gedanken und den allmählichen Verlust der Realität. Statt sich mit seiner Freundin zu amĂĽsieren, zieht er sich immer weiter zurĂĽck und leidet unter ständigen GrĂĽbeleien. Nachts findet er keinen Schlaf, tagsĂĽber gleitet er in eine Traumwelt ab.
Immer drängender werden die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Albanien. Seine Freundin beschreibt der Erzähler als zugewandt, aber auch kontrollierend. Sie bemerkt offensichtlich, dass sich ihr Partner verändert, und ist beunruhigt. Eine Nacht verbringt Gashi mit einer Urlaubsbekanntschaft, die ihm wie ein Wunder erscheint, weshalb er sie Kleopatra nennt. Was eine heiße und verspielte Affäre sein könnte , wird für ihn zum Drama, weil er den Unterschied zwischen Traum und Realität, zwischen der Königin und einer Urlaubsbekanntschaft wohl erst rückblickend erkennt.
Die verfrühte Urlaubsrückreise erlebt der Erzähler in einem Ausnahmezustand von extremer Konzentration. Nachdem er 70 Stunden lang wach gewesen ist, kollabiert er schließlich beim Besuch eines albanischen Freunds. Es folgen der Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus, interessante Begegnungen mit weiteren Patienten und eine für den Protagonisten nur begrenzt verständliche ärztliche Behandlung. Auch diese dramatischen Ereignisse beschreibt Selajdin Gashi in seiner unaufgeregten, sachlichen Sprache.
Das Buch gibt Einblick in das Denken eines psychotisch erkrankten Menschen und macht die flieĂźenden Ăśbergänge von gesund und krank deutlich. Aufgrund des Buchtitels bleibt zu vermuten, dass der Autor noch weitere Krisen erlitten hat. Welchen Stellenwert dieses erste psychotische Erlebnis fĂĽr seine Biografie hatte, bleibt aber ebenso offen wie viele andere Fragen.
Zum Beispiel beschäftigt Gashi seine Kindheit offensichtlich sehr, ohne dass fĂĽr den Leser deutlich wird, wieso. Sind diese Kindheitserlebnisse deutlich, weil Selajdin Gashi psychotisch wird – oder sind die unverarbeiteten biografischen Aspekte wichtige Ursache der psychischen Krise? Manche Ăśberlegungen zu Psychose und Psychiatrie sind tiefgehend, aber im Wesentlichen stellt der Autor viele Fragen, die er innerhalb des Buches nicht beantwortet. Trotz der offensichtlich bewegenden Erlebnisse vor, während und nach seiner Krankheit wirken die Schilderungen eher emotionslos.
Aber vielleicht beschreibt gerade das den Kern der Krise: Verstrickt in ein unablässiges Gedankenkarussell verliert der Erzähler den Bezug zu seinen eigenen Gefühlen. Deutlich für den Leser wird in jedem Fall, dass die Psychose ein elementares Lebensereignis ist, das sich auch für Nicht-Betroffene durchaus nachvollziehen lässt. Die Ausnahmezustände nach Verliebtheit und Schlafmangel sind den meisten bekannt. Dem Erkrankten fehlt während der Krise nur die Möglichkeit, das Geschehen ausreichend zu begrenzen und sich von den außergewöhnlichen Erfahrungen zu distanzieren. Das Buch mag für den Autor ein hilfreicher Schritt sein, um den sorgfältig formulierten Ereignissen rückblickend ihren Schrecken zu nehmen.


zurück  zurück