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Helfensbedürftig

Rezensionen

Eine ausführliche Rezension von Prof. Kurt Witterstätter zu dem Buch "Helfensbedürftig" finden Sie auf der Seite www.socialnet.de
Sein Fazit:
Ein beeindruckendes Mahnzeichen zur humaneren sozialen Einbindung Hilfebedürftiger in selbstbestimmten Wohn-Pflegegruppen richtet Institutionskritiker Klaus Dörner mit seinem neuen Buch „Helfensbedürftig“ erneut auf. Respekt gebietend sind der zeitkritische, geistige Horizont und die Sorgfalt im Detail, mit der die neue Schrift erstellt ist, wenn auch Dörners methodischer Ansatz der Ambulantisierung aus seinen früheren Schriften bekannt ist.

Elisabeth von Thadden in: Die Zeit vom 19. April 2012 in einem Artikel über den Erfolg von "Ziemlich beste Freunde":
Tatsächlich gehen gegenwärtig ideelle Motive und soziale Realität neue Verbindungen ein, ob in der Debatte um Gemeingüter, die von der Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom belebt wurde, ob in der Zunahme genossenschaftlichen Wirtschaftens und von Nachbarschaftsvereinen oder in der Diskussion, welche sozialen und politischen Antworten es auf den Pflegebedarf gibt. In Deutschland ist die Zahl der anerkannten Schwerbehinderten inzwischen auf 7 Millionen gestiegen, und die Zahl der Pflegebedürftigen auf 2,34 Millionen. Aber es gibt eben nicht nur den Bedarf: Der Psychiater Klaus Dörner entwirft in seinem jüngsten Buch Helfensbedürftig (Edition Jakob van Hoddis, Paranus Verlag, Neumünster 2012) das empirisch dicht belegte Porträt einer „Bürgerbewegung“, wie er sie nennt, die in jüngster Zeit allein 2000 Projekte des gemeinsamen Wohnens organisiert hat, mehr noch: das Bild einer inklusionswilligen Gesellschaft, die nun mit ihren sozialen Erfindungen auf ein politisches Echo angewiesen ist.
Bürger und Institutionen passen nicht gut genug zueinander. Bürger, Profis und der Staat können sich die Aufgaben klüger aufteilen, als es bisher geschieht. Was Dörner in seiner Feldforschung an Motivation in dieser neuen Bürgerbewegung erkundet, hat mit einer Moral der Aufopferung wenig zu tun, sondern den meisten geht es, genau wie dem Pflegerfreund Abdel Sellou, der nie eine feste Erwerbsarbeit wollte, um einen Mix aus Selbstbestimmung und dem Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun. Sellou verfasst von sich selbst das Porträt eines Mannes, der ohne Skrupel ein Sozialsystem ausgenutzt hat, von dem er sich nicht gemeint fühlte. Das Leben mit Pozzo aber findet er sinnvoll.

Beatrix Brunelle in: Psychologie heute:
Helfer statt Heim
Klaus Dörner lehnt Heime ab – er plädiert für einen „Bürger-Profi-Mix“, um Pflegebedürftigen menschlich zu begegnen

Helfensbedürftig? Es handelt sich um eine Wortschöpfung von Klaus Dörner, die der Klärung bedarf. Mit dem Titel Helfensbedürftig wendet er sich besonders an Menschen in der dritten Lebensphase, an Rentner mit viel freier Zeit, die 65- bis 80-Jährigen. Diese nämlich haben – das belegen empirische Studien – seit 1980 für sich entdeckt, dass sie anderen alten hilfsbedürftigen, oft dementen Menschen einen Teil ihrer Freizeit widmen wollen. Sie sind selbst entsprechend helfensbedürftig, was nichts anderes meint, als dass die meisten Menschen für andere wichtig sein wollen und dass sie neben der Entlastung zum Ausgleich auch eine soziale Belastung suchen, um ausgelastet zu sein.
Dörner ist der wohl profilierteste Vertreter der deutschen Sozialpsychiatrie. Er glaubt, dass das auf Selbstbestimmung und Leistung zielende Menschenbild des Industriezeitalters überholt ist. Er sieht den Menschen vor allem als Beziehungswesen. Für ihn steht fest: Die Industrieepoche verwandelt sich immer mehr in eine Dienstleistungsepoche.
Der Autor berichtet auch über die Vergangenheit im Industriezeitalter, wo „wertlose Menschen“ in Heimen und großen Institutionen fern der Gesellschaft untergebracht wurden und auch immer noch untergebracht werden. Die meisten Menschen wünschen sich, in der eigenen Wohnung leben und sterben zu dürfen oder in der Vertrautheit ihres Stadtviertels oder Dorfes. Daher sind für den Autor Heime die denkbar schlechteste Lösung, was auch im Untertitel „Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert“ zum Ausdruck kommt.
Der „dritte Sozialraum“, das Stadtviertel oder Dorf, in dem die Integration aller bisher ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen stattfinden kann, gewinnt seit 1980 immer mehr an Bedeutung. So bilden bereits viele engagierte Bürger, Angehörige, Nachbarn und Freunde zusammen mit den notwendigen Profis für die zu Pflegenden eine Art Wahlverwandtschaft, die Dörner als „Bürger-Profi-Mix“ bezeichnet, um Pflegebedürftigen menschenwürdig zu begegnen.
In seinem Buch bezieht der Autor auch ausdrücklich Stellung für die Eingliederung der Dementen in unsere Gesellschaft, denn aus seiner Sicht ist Demenz keine Krankheit, sondern eine Begleiterscheinung des Alters.
Man staunt, wenn man liest, dass bereits 1961 das Bundessozialhilfegesetz der ambulanten Pflege den Vorzug vor der stationären gab. Doch damals geschah das Gegenteil, denn Institutionen und Heime hatten bis 1980 Hochkonjunktur. Mittlerweile gibt es schon vermehrte Möglichkeiten, um Demente, Pflegebedürftige oder Schwerstbehinderte außerhalb von Heimen wieder in die Gesellschaft aufzunehmen. So existieren in Deutschland etwa 2000 Projekte des generationsübergreifenden Siedelns. Der Autor beschreibt viele Facetten gelungener Einbindung in den dritten Sozialraum, sodass die Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft berechtigt erscheint.

Deutsche Behinderten-Zeitschrift:
„Helfensbedürftig“, das Wort gibt es eigentlich gar nicht.
Dörner sucht ermutigende Beispiele von Initiativen im Dritten Sozialraum, dem Raum zwischen Staat und Nachbarschaft, dort, wo privat und öffentlich sich überkreuzen. Nachbarschaft, Heimat, hier entscheidet sich, ob wir die Krisen und Herausforderungen, auch die demografische, in denen wir stecken und noch tiefer geraten können, meistern oder nicht. Dörner, Jahrgang 1933, schreibt mit der Souveränität eines praktischen Theoretikers. Er hat seine eigenen Erklärungsversuche dazu, wie es bei der heraufziehenden Industriegesellschaft zu den mannigfaltigen Ausgrenzungen gekommen ist, damals von den Initiatoren gedacht als Beitrag besonderer Zuwendung und besonderen Schutzes. Und warum dies heute nicht mehr human ist.
Was der Einzelne, die Gruppe tun kann und was Politik, Staat und Wirtschaft zu tun und zu unterlassen haben, schreibt Dörner auf. Das ist immer pragmatisch und immer radikal gedacht, vom Schwächsten her, dem männlichen dementen Single. Ein an- und aufregendes Buch, nützlich, anspruchsvoll und wert, in die Zitierkartelle der professoralen Experten der Zivilgesellschaft zu kommen. Der Verlag, auch wieder typisch Dörner, ist gelebte Inklusion.
Das Buch ist eine Pflichtlektüre für alle Engagierten, die über den Tellerrand ihres persönlich guten Wirkens hinausdenken, sich aber nicht in politikwissenschaftlichen Abgehobenheiten verirren wollen.

Renate Schernus in Psychosoziale Umschau 4/2012:
Werkzeugkiste für Weltverbesserer
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, ehemaliger ärztlicher Leiter der westfälischen psychiatrischen Klinik Gütersloh, ist einer der wenigen Psychiater, vielleicht sogar der derzeit einzige, denen es gelingt, sich weit über das eigene Fachgebiet hinaus Gehör zu verschaffen.
Mit seinem zuletzt erschienenen Buch »Helfensbedürftig« legt er anknüpfend an die bereits erschienene Schrift »Leben und sterben, wo ich hingehöre – Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem« so etwas wie eine (moral)philosophisch untermauerte Werkzeugkiste für unverdrossene Weltverbesserer vor.
Seine These: Es ist höchste Zeit, sich endgültig von der Epoche der industriell geprägten Gesellschaft, die die Ausgrenzung behinderter, fremder oder wie auch immer andersartiger Menschen förderte, zu verabschieden. Der Übergang ins Dienstleistungszeitalter mit der Chance zu weitgehender Inklusion konkretisiere sich, was Dörner mit einer beeindruckenden Fülle von Beispielen bürgerschaftlichen Engagements aus dem In- und Ausland untermauert.
Der Leserkreis, an den das Buch sich richtet, ist weit gefächert. Es sind erstens normale Bürger und Bürgerinnen, die sich angestiftet fühlen könnten, einen Teil ihrer Zeit als Sozialzeit zu leben, um die für jeden notwendige »Tagesdosis an Bedeutung für andere« zu erreichen. Hier sieht Dörner ein großes »integrationsförderliches Potenzial«. Ein Potenzial, das die Dienstleistungsgesellschaft gleichsam zu einer »Hilfeleistungsgesellschaft« mache, insbesondere für die alten und dementen Menschen, schließlich aber auch für alle anderen benachteiligten Gruppen. Zu den anzusprechenden Bürgern zählt er insbesondere auch diejenigen Rentnerinnen und Rentner, die in ihrer dritten Lebensphase tätig sein wollen und können und sich nicht den »kurzatmigen Sozialkonstrukten« »Alter« oder »Ruhestand« ergeben.
Überhaupt dürften alle systemisch geschulten Profis von Klaus Dörners Beschreibung sozialer, zwischenmenschlicher Verhältnisse entzückt sein, da er ein Meister des »reframing« ist. So z.B., wenn er Demenz »als neue menschliche Seinsweise« charakterisiert, der wir »viele tiefgehende Einsichten verdanken«, und die deutlich mache, »dass im existenziellen Kern alle Menschen sich gegenseitig nicht verstehen können«.
Angesprochen werden durch Klaus Dörners Ausführungen natürlich auch alle Profis, insbesondere, die in leitenden Stellungen. Sie hätten unter anderem zu lernen, sich um den angemessenen Bürger-Profi-Mix zu kümmern und um die Pflege des Sozialraums.
Drittens werden Politiker aller Couleur in die Pflicht genommen und hier thematisiert Klaus Dörner mehr als in früheren Schriften auch die Gefahren möglicher Perversionen der Dienstleistungsgesellschaft, insbesondere durch die skandalöse Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche und durch Denkmodelle, die das Soziale in Analogie zur Automobilindustrie gestalten wollen.
Klaus Dörner schreibt streckenweise mit dem Zungenschlag eines hochgespannten moralischen Imperativs. Einmal abgesehen davon, dass dies bei dem einen oder anderen vielleicht einen gewissen Widerstand auslöst, könnte die Leserin, der Leser sich daran erinnern, dass gerade die so leidenschaftlich gewollten Weltverbesserungen historisch gesehen häufig in ihr Gegenteil umschlugen, und dass es auch aus jüngster Zeit Beispiele dafür gibt, wie verheißungsvolle Visionen sozialer Umgestaltungen oft recht technokratisch und damit schädlich für die damit zu beglückenden Menschen umgesetzt werden.
Diese Gefahr sieht Dörner selbst auch. Immer wieder spricht er wichtige Fragen der Grundhaltung an und mahnt trotz aller Leidenschaftlichkeit zu Geduld und Langsamkeit in der Umsetzung. Solche mahnenden Töne sollten auch bei dem Kapitel über die verantwortliche Auflösung der Heime nicht überlesen werden.
Diese kurze holzschnittartige Zusammenfassung wird dem facettenreichen Buch keineswegs gerecht. Es wird gerade dadurch so facettenreich, dass es anthropologische und philosophische Nachdenklichkeit mit geschichtlichen Rückblicken und gegenwärtigen Beobachtungen gelingender, insbesondere gelingender bürgerschaftlicher Arbeit ins Gespräch bringt. Da hilft nur selbst lesen.

5-Sterne-Rezension von Henning Von Vieregge auf amazon.de:
Vom Ideal der guten Gemeinschaft und wie wir dem schon näher gekommen sind
"Helfensbedürftig": Typisch Dörner in der Argumentation. Ja, das Wort gibt es eigentlich gar nicht. Aber als ich es mal zufällig gesagt habe, sagt Dörner, ist es auf große Zustimmung gestoßen. Es gibt, das ist eine zentrale Aussage des Autors, die in diesem Wort steckt, in jedem von uns nicht nur hilfsbedürftige, sondern auch helfensbedürftige Anteile. Letztere soll man nicht unterdrücken, sondern leben. Dann hilft man sich und anderen. Dieses Buch ist eine spannende Fortsetzung des Buches "Leben und sterben, wo ich hingehöre", und zwar in Inhalt und Form. Dörner reist durch die Lande, hält Vorträge und hört zu, schreibt auf. Er sucht ermutigende Beispiele von Initiativen im Dritten Sozialraum, dem Raum zwischen Staat und Nachbarschaft, dort, wo privat und öffentlich sich überkreuzen. Nachbarschaft, Heimat, hier entscheidet sich, ob wir die Krisen und Herausforderungen, auch die demografische, in denen wir stecken und noch tiefer geraten können, meistern oder nicht. Dörner, Jahrgang 33, schreibt mit der Souveränität eines praktischen Theoretikers. Er hat seine eigenen Erklärungsversuche dazu, wie es bei der heraufziehenden Industriegesellschaft zu den mannigfaltigen Ausgrenzungen gekommen ist, damals von den Initiatoren gedacht als Beitrag besonderer Zuwendung und besonderen Schutzes. Und warum dies heute nicht mehr human ist. Was der Einzelne, die Gruppe tun kann und was Politik, Staat und Wirtschaft zu tun und zu unterlassen haben, schreibt Dörner auf. Das ist immer pragmatisch und immer radikal gedacht, vom Schwächsten her, dem männlichen dementen Single. Ein an- und aufregendes Buch, nützlich, anspruchsvoll und wert, in die Zitierkartelle der professoralen Experten der Zivilgesellschaft zu kommen. Der Verlag, auch wieder typisch Dörner, ist gelebte Inklusion. Das Buch ist Pflichtlektüre für alle Engagierten, die über den Tellerrand ihres persönlichen guten Wirkens hinausdenken, sich aber nicht in politikwissenschaftlichen Abgehobenheiten verirren wollen.

Martin Osinski in: Soziale Psychiatrie:
Neologistisch
Kinder, wie die Zeit vergeht! Schon wieder sind fünf Jahre vergangen, seit „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ erschienen ist. Das war so etwas wie das Reisetagebuch zu Klaus Dörners Never-Ending-Tour durch die Republik. Ein Kompendium beispielhafter Bürgerhilfeprojekte, ein schlau angelegtes Werk, mit dem Dörner wie ein wandernder Handwerksgeselle das regionale Wissen und Können wertschätzt und von Sozialraum zu Sozialraum weiterträgt. „Sterben wo ich hingehöre“ hieß das letzte Kapitel jenes Buches, das ich seinerzeit ein bisschen angstvoll daraufhin untersucht habe, ob es so etwas wie Klaus Dörners Schlusswort unter sein Lebenswerk gewesen sein könnte.
Nun sind wir fünf Jahre weiter, und rückblickend auch klüger, was das Leben und Wirken Professor Dörners betrifft. Unermüdlich hat er seine bundesweiten Feldstudien vorangetrieben, ist jeden zweiten Tag auf Vortrags- und Forschungsreise gewesen. Daneben hat er weiter geschrieben, unter anderem „Helfende Berufe im Marktdoping“ (2008).
Nun also „Helfensbedürftig. Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert.“ Schon mit dem Titel sind zwei wesentliche Aspekte des Buchs auf den Punkt gebracht. Der anschaulich-selbsterklärende Neologismus, „Helfens-Bedürftigkeit“, greift das Credo der letzten Jahrzehnte auf – jeder Mensch will nützlich sein, will gebraucht werden. Mit dem „Dienstleistungsjahrhundert“ führt Dörner seine neue Hypothese ein, wir befänden uns am Ende der 150-jährigen Epoche der Industriegesellschaft; was nun komme, habe noch keinen Namen, weshalb er als Arbeitshypothese die Dienstleistungsgesellschaft und das Dienstleistungsjahrhundert ausrufe. Mit beidem beweist der 78-jährige eindrucksvoll seine ungebrochene Kreativität.
Wie schon in „Leben und sterben...“ stellt Dörner eine Fülle von Beispielen zur Verfügung, die die Praxis des dritten Sozialraums (zwischen dem ersten Sozialraum des Privaten und dem zweiten Sozialraum des Öffentlichen) veranschaulichen. In diesem Teil ist auch das neue Werk wieder so etwas wie ein Handwerksbuch, mit vielen aktuellen Schlaglichtern auf bundesdeutsche Lebenspraxis. Jetzt allerdings geht Dörner weiter, induktiv vom konkreten Fall weg und hin zu einer „neuen und zukunftsfähigen Hilfekultur für alle“ (S. 6). „Dazu braucht man aber jetzt nicht mehr nur die Bürger- und Profihelfer an der Basis, sondern jetzt muss man auch die Verantwortlichen und Machthaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Hierarchien – von der Kommune über die Wirtschaft bis zur Bundespolitik – ins Boot holen...“ (ebd.)
Das also ist das aktuelle Unternehmen – die „Verallgemeinerung der neuen Hilfekultur“ – nimmt etwa drei Viertel des Buches ein. „Wer hat ab heute was mit wem zu tun?“, so die Leitfrage. In zehn Kapiteln, konzentrisch vom Individuum ausgehend, über Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Gesundheitswesen usw., leitet Dörner Entwicklungsaufgaben für Gesellschaft, Verwaltung und Politik ab.
Auf der Ebene des Individuums stellt er uns zehn Thesen aus der Ich-Perspektive eines Dementen zur Verfügung, um darauf aufmerksam zu machen, „dass Demente – wie alle anderen Menschen – ihr Leben/Dasein dann als sinnvoll empfinden können, wenn sie auf ihre Tagesdosis an Bedeutung für Andere kommen...“ (S. 51). Auf der siebten Ebene („Marktwirtschaft – Marktgesellschaft – Gemeinwirtschaft“) entwickelt Dörner das Gütersloher Inklusionskonzept weiter („Bei uns findet Betreutes Wohnen am Arbeitsplatz statt“; S. 151). Konsequent dem demographischen Wandel folgend finden heute psychisch kranke Menschen Arbeit in der Dementen-Pflege, wird die Qualität des „slow-work“ neu entdeckt. Der nimmermüde Dauerarbeiter Dörner dekliniert das Thema Arbeitswelt neu, immer seiner These vom gerade heraufziehenden Dienstleistungsjahrhundert folgend. Dabei schreibt er – fast beiläufig, aber absolut einleuchtend - ein aktuelles Kapitel der Soltauer Kritik an der Vermarktwirtschaftlichung des Sozialen. Für mich eine der spannendsten Passagen des Buches.
Darauf folgen die Ebenen acht bis zehn: Dörners Aufträge an verantwortliche Profis im Gesundheitswesen; neuntens eine hochverdichtete Fassung der mittlerweile dreißig Jahre anhaltenden Argumentationskampagne zur Überwindung der Heime-Sonderwelt, nicht neu für altgediente „Heimwerker“, aber sehr tauglich für die Ausbildung des nachwachsenden Fachpersonals. Über den Tenor des Kapitels ist mit dem Untertitel bereits alles gesagt („Heimfrei ...“). Und schließlich zehntens eine Art Auftragsbuch für Politik und Verwaltung: „Was haben die Politik-Verantwortlichen zu tun?“
Auch hier variiert Klaus Dörner noch einmal seinen kategorischen Imperativ - das Gemeinwesen vom Letzten her denken und organisieren. Er bleibt dabei seinem geduldigen Humanismus treu, indem er auch noch die schwierigsten seiner Leser da abholt, wo sie stehen (eigentlich schon viel zu lange stehen, meines ungeduldigen Erachtens...): „Aus der Perspektive der konzentrischen Kreise (dieses Buches) sind sie zunächst mal am bedauernswertesten: All die MdBs, MdLs, all die Minister und Senatoren und die sonstigen Bewohner der politischen Chefetagen haben naturgemäß die geringste Ahnung von unseren Problemen...“ (S. 226). Das hat schon was, wie der Alte vom Hamburger Elbufer zielgruppenorientiert ums Ziel herumschreibt, um auf dem Umweg über empathische Ohrenöffnung dann doch unbeirrbar, unnachgiebig zum Kern der Sache vorzudringen, und bis zur letzten Zeile dranzubleiben.
Nachtrag: Letzte Woche war Klaus Dörner in Neuruppin, nach langer Zeit mal wieder. Fünfhundert Bahnkilometer für einige Gespräche und für einen seiner Leuchtturm-Vorträge, die uns Bürgern und Profis gleichermaßen gut tun. Ich gestehe hier, ich habe mein „Helfensbedürftig“-Exemplar signieren lassen. Für eine kritisch-distanzierte Rezension war es da sowieso schon zu spät. Ich empfinde es als großes Geschenk, dass Klaus Dörner diese Zeitzeugenarbeit leistet. Der Paranus-Verlag, als Zuverdienstprojekt keineswegs vom wirtschaftlichen Erfolg verwöhnt, bietet den neuen Dörner für nur zwanzig Euro an. Das sollte mit zügigem Ausverkauf der ersten Auflage gedankt werden. Mein Fazit also: kaufen, lesen, weiterdenken!

Rezension von Karin Wisch in: systhema:
Alle Menschen haben das Grundbedürfnis nach einer Tagesdosis an Bedeutung für andere, auch körperlich oder psychisch Erkrankte, Langsame, Alterspflegebedürftige oder Demente. Diese Aussage ist der Grundtenor des neuen Buches von Klaus Dörner. Und für Menschen mit Hilfebedarf ist die sozialraumnahe minimale Lösung zu suchen.
Das können für Demente zu Beispiel verschiedenste Formen von Wohngemeinschaften sein, die von einem Bürger-Profi-Mix unterstützt werden. Dabei sind Bürger aus der Nachbarschaft engagiert, die Zeit haben und diese im Interesse des Gemeinwohls gegen geringes Entgelt oder ohne Bezahlung sinnvoll investieren.
Die Wohngemeinschaften sind eingebettet in den Sozialraum oder die Nachbarschaft, die Treffpunkte und soziale Möglichkeiten bieten. Im ehemaligen "Tante-Emma-Laden" arbeiten, von der Agentur für Arbeit unterstützt, langsame Mitarbeiter, die an einer Supermarkt-Kasse keine Chance haben. Schüler unterstützen z.B. Alterspflegebedürftige, Demente oder Behinderte im Rahmen eines schulisches Programms. Menschen mit Zeit, wegen sogenannten Ruhestands, Arbeitslosigkeit, psychischer oder körperlicher Krankheit finden wichtige unterstützende Aufgaben in ihrem Sozialraum. Dies funktioniert nach Klaus Dörners Grundthese: Alle Menschen sind helfensbedürftig. So kann Inklusion gelingen, wenn es selbstverständlich ist, dass verschiedenste Menschen in einem Sozialraum sich gegenseitig unterstützen und Verantwortung für das Ganze spüren. Hilfreich sein hilft gesund zu sein.
Faszinierend in diesem Buch sind die unglaublich vielen Beispiele von neuen Lebensformen, normalen Wohnmöglichkeiten, ungewöhnlichen Hilfeformen und Sozialraumbudgets mit dazu gehörenden Adressen, Veröffentlichungen und Namen der Ansprechpartner.
Nicht nur im Hinblick auf die Unterstützung Alterspflegebedürftiger und Dementer sind die Überlegungen und Praxisbeispiele großartig, sondern auch mit dem Gedanken, dass jetzt ein neue Epoche nach der Industriegesellschaft begonnen haben könnte, die man später rückblickend vielleicht Dienstleistungsgesellschaft nennen wird. Und in dieser Gesellschaft wird das nebeneinander stehende Säulen-Konzept weniger effektiv sein, als das miteinander planende Sozialraum-Konzept. Klaus Dörner weist nach: diese Epoche hat schon begonnen!

Dagmar Hülsewiesche in Ergotherapie und Rehabilitation:
Dörner schreibt nach eigener Aussage erneut seine „Lebensklage mit Herzblut“: seine Vision einer heimfreien Zukunft, die eingebettet ist in eine neue Hilfekultur für alle. Richtet sich sein Vorgängerband „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ vorwiegend an die Profi-Helfer, erweitert er in „Helfensbedürftig“ den Kreis der Angesprochenen um die Verantwortlichen an der Macht in den Kommunen, der Wirtschaft und der Bundespolitik. Er liefert ihnen und uns seine „Gebrauchsanweisung“, wie „Heimfrei“ mit allen Gesellschaftsgruppen zu schaffen ist.
Zwei zentrale Fragen stellt er voran: Welche ambulanten Hilfeformen – geleistet von Profis und Bürgern – haben sich so bewährt, dass sie quasi aus der Bürgerbewegung heraus für die Allgemeinheit gültig werden können, um psychisch erkrankte, demente und behinderte Mitmenschen gänzlich zu integrieren? Inwieweit befinden wir uns in einem epochalen Umbruch von der Industriegesellschaft zur, wie Dörner es vorschlägt, Dienstleistungsgesellschaft? Dazu verfasst er drei inhaltlich ausführliche Kapitel. Er beginnt mit einer Bestandsaufnahme der Bürgerhilfebewegung der letzten Jahrzehnte. Dazu gehören entsprechende Stiftungen, Nachbarschaftsvereine, die Hospizbewegung und ambulant betreute Wohnformen. Im zweiten Kapitel widmet er sich der Kritik an der Industriegesellschaft, die in ihrer 150 Jahre währenden Geschichte eine „Trenn-“ und schließlich „Ausgliederungsgesellschaft“ wurde. Sie entwickelte aus Motiven, die Dörner umfangreich und nachvollziehbar beschreibt, eine Heimkultur für „Kranke, Verrückte und Alte“, die im Industriealisierungsprozess nicht (mehr) gebraucht wurden. Erst mit der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft entstand eine „Hilfeleistungsgesellschaft“, und er zeigt genau auf, welche Faktoren dazu führten. Im dritten und ausführlichsten Teil des Buches macht sich Dörner an die große Aufgabe der Gegenwart, die Vernetzung erfordert: „Wann hat ab heute was mit wem zu tun?“ Er beginnt hier bei jedem einzelnen Verantwortlichen und endet bei der Heimaufsicht und den politisch Aktiven. Und er sagt jedem, auch uns Ergotherapeuten, was seine/unsere Aufgaben zur Integration und Inklusion alter und behinderter Menschen sind. Dörner regt an – auch zum Widerspruch – sein Buch ist daher sehr empfehlenswert.

Beatrix Brunelle in: Der Eppendorfer:
"Helfensbedürftig“ auf zu neuen Wegen
Prof. Klaus Dörner und die Bewegung der Bürgerhilfewilligen

Helfensbedürftig ? Das Wort gibt es eigentlich gar nicht. Es handelt sich um eine Schöpfung des Autors. Es meint, dass es der Mensch braucht, gebraucht zu werden. Im Unterschied zu früher, so Dörner, entdeckten Bürger zunehmend – das zeigen empirische Studien –, dass sie anderen Hilfsbedürftigen, zu pflegenden und oft dementen Menschen einen Teil ihrer Freizeit widmen wollen und neben Entlastung auch eine soziale Belastung suchen, um gesund zu leben und sich ausgelastet zu fühlen. Das habe zu einer Art „neuer Bürgerhilfebewegung“ und vielen neuen ambulanten Hilfeformen – nicht zuletzt im „Bürgerprofimix – geführt, von denen Dörner in seinem Buch eine Vielzahl aufführt. Er sieht den Menschen vor allem als Beziehungswesen in einer Beziehungs- oder Inklusionsgesellschaft – im Gegensatz zu den an Selbstbestimmung und Leistungswerten ausgerichteten Individuen innerhalb der Industriegesellschaft, die sich mehr und mehr in eine „Dienstleistungsepoche“ wandele.
„Wertlose Menschen“ in Heimen und großen Institutionen fern der Gesellschaft unterzubringen, wo sie ihrer Freiheit und Teilhabe beraubt würden, sei eine Folge des Industriezeitalters. Heime sind für den Autor die denkbar schlechteste Lösung. Heimverantwortliche fordert er u.a. auf, ihre Bewohnerzahl klein zu halten, sozialraumorientiert zu denken und zu handeln und Wohnpflegegruppen zu initiieren. Dem Willen der meisten Menschen entspreche es, in der eigenen Wohnung oder in der Vertrautheit ihres Stadtviertels bzw. Dorfes leben und sterben zu dürfen. Daher auch der Untertitel des Buches: „Heimfrei ins Dienstleistungsjahrhundert“. Dabei hilft die Bürgerbewegung, eine Nachbarschaftsbewegung im sogenannten dritten Sozialraum, womit das Stadtviertel, das Quartier oder das Dorf gemeint ist. Es gibt bereits viele engagierte Bürger, Angehörige, Nachbarn und Freunde, die zusammen mit Profis für die zu Pflegenden als eine Art Wahlverwandtschaft agieren und im „Bürger-Profi-Mix“ vernetzte Hilfen bieten. Auch Kirchen sind vielerorts im Boot, indem sie Mittagessen organisieren oder den Gemeindesaal für verschiedene Bürgertreffen zur Verfügung stellen etc.
In seinem Buch bezieht Klaus Dörner insbesondere ausdrücklich Stellung für die Eingliederung der demenzkranken Menschen in unserer Gesellschaft. Denn, so Dörner, Demenz sei keine Krankheit, sondern gehöre bei vielen zum Altern, zum Menschsein dazu. Und die Betreuung von altersverwirrten Menschen bedeute wesentlich mehr als eine lästige Pflichterfüllung, biete sie doch u.a. den einzig wirksamen Schutz vor der Idee vom lebensunwerten Leben.
Man staunt, wenn man liest, dass das Bundessozialhilfegesetz schon 1961 erstmals das Prinzip ambulant vor stationär zur Gesetzesnorm erhob. Mit dem Resultat, dass eine Bilanz 1980 ergab, dass die Zahl der Heimplätze daraufhin nicht etwa gesunken, sondern gestiegen sei, so Dörner. Heute verlangt auch die UN-Behindertenrechtskonvention die Inklusion aller Menschen. Wege dahin zeigen eine Vielzahl von Sozialraum-Projekten und Möglichkeiten, Hilfebedürftige außerhalb von Heimen zu versorgen und in die Gesellschaft zu integrieren. Im Buch ist u.a. die Rede von circa 2000 Projekten des „generationsübergreifenden Siedelns“ , die seit 1980 entstanden seien: 500 Gastfamilien betreuen behinderte oder pflegebedürftige Menschen allein im Raum Ravensburg, 1000 ambulant betreute Wohnpflegegruppen in Deutschland sowie 5 „schwäbische Tandems“ (ein Modell bezahlbarer Rund-um-die-Uhr-Hilfe in der eigenen Wohnung, nicht von spanischen, sondern von deutschen Frauen).
Zur Finanzierung von Alternativen zum Heim schlägt Dörner ein Sozialraumbudget vor, das zwischen medizinischen und sozialen Kostenträgern vereinbart oder vielleicht von einer Stiftung finanziert wird. Auch die inzwischen zunehmenden Kooperationen mit Wohnungsbaugesellschaften könnten eine weitgehend heimfreie Versorgung näherbringen.
Klaus Dörner beschreibt viele Facetten gelungener Einbindung in den dritten Sozialraum. Das Buch stärkt die Hoffnung auf eine menschlichere Gesellschaft. Es ist zudem ein enagagiertes Plädoyer für demente Menschen und andere Ausgeschlossene dieser Gesellschaft – und nicht zuletzt eine Art Nachschlagewerk, eine Fundgrube an Informationen für all diejenigen, die sich im Dörnerschen Sinne entsprechend engagieren wollen.

Peter Frömmig in: Kultur Joker, Freiburg:
Aktuelles zur sozialen Lage der Nation
Schon mit seinen früheren Untersuchungen zeigte der promovierte Mediziner und Philosoph Klaus Dörner, der von 1980 bis 1996 Leitender Arzt an der Westfälischen Klinik war, Wege zu einer neuen Kultur des Helfens auf. Wege zu einer alternativen Versorgung und Betreuung alter und hilfsbedürftiger Menschen, die nach seiner Ansicht nur zum Ziel führen könnten, „wenn ich immer alle Hilfsbedürftigen im Auge habe, ob ich nun mit 10 Jahren im Wachkoma bin, mit 20 geistig behindert, mit 30 körperlich behindert, mit 40 hirntraumatisiert, mit 50 chronisch psychisch krank, mit 60 chronisch körperkrank, mit 70 alterspflegebedürftig oder mit 80 dement“. Die Grundvoraussetzung dafür sieht Dörner seit jeher in der Einbeziehung von freiwilligen Helfern aus der Bevölkerung, da ein zukunftsfähiges Helfen grundsätzlich stets ein „Bürger-Profi-Mix“ sein müsse.
Ein ermutigendes Signal war die Weiterführung und Ergänzung der schon in den 1980er Jahren gegründeten ambulanten und stationären Hospizdienste, ambulante Nachbarschafts-Wohnpflegegruppen, wie sie seither in Bielefeld, Berlin, Ettenheim und andernorts entstanden sind. Da auf Kommune wie auch auf die Kirchengemeinden nicht mehr wie früher zu bauen sei, schrieb Dörner schon vor Jahren, bliebe nur dieses „Zwischengebilde des dritten Sozialraums, der zwischen dem Sozialraum des Privaten und dem Sozialraum des Öffentlichen“ liege.
Nach der Kostenkrise seit 1980, dem folgendem Staats- und Marktversagen mit einhergehender, weltweiter Deinstitutionalisierung entstand eine neue, solidaritäts-orientierte Bürgerbewegung , „ein postsäkulares Menschenbild als Bürger-Mitgift für eine neue Kultur des Helfens“. So Dörner, längst anerkannter Vordenker für eine neu entstehende und neu verstandene Kultur des Soziallebens. Die sich damals formierenden Arbeitskreise unter Bürgern waren erste Anzeichen einer Trendwende, bei zunehmender Dringlichkeit bis heute fortwirkend. Das atemberaubende Ausmaß der vor uns stehenden sozialen Aufgaben ist menschheitsgeschichtlich völlig neuartig. Bei wachsendem Nachholbedarf für die Politik.
Dörners Bücher mit Titeln wie „Tödliches Mitleid – Zur Sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens“ oder „Leben und sterben, wo ich hingehöre – Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem“ waren jeweils Fingerzeige auf wunde Stellen unseres Sozialsystems und zugleich Ratgeber für die Praxis. Immer geschrieben in einem Stil, der sowohl Profis als auch Laien zugänglich ist. Sein neues Buch, eine inhaltliche Weiterführung von „Leben und sterben, wo ich hingehöre“, trägt den seltsamen Titel „Helfensbedürftig“. Der Autor erklärt, dass dieses Wort, welches es in der deutschen Sprache eigentlich nicht gibt, ihm versehentlich aus der Feder gerutscht sei, er sich aber nicht mehr davon habe trennen wollen. Zumal Zuschriften von Lesern und Leserinnen ihn darin bestärkten. Das Wort „helfensbedürftig“ sei ihm gerade in seiner ironischen Berechnung und witzigen Paradoxie so wichtig, weil „ich mit meinem gesund-egoistischen, natürlichen Willen dieses Bedürfnis gar nicht – oder nur widerwillig – wollen kann“. Lese man nicht täglich in der Zeitung, dass Menschen immer mehr nur an sich selbst denken? Und spreche man nicht oft auf geradezu zynische Weise von einem „Helfersyndrom“, wenn einer mal versuche, von sich selbst abzusehen?
Dörner beruft sich auf die empirisch gesicherte Tatsache, „dass heute […] ein bis zwei Drittel der Bevölkerung dazu neigen, einen Teil ihrer so schönen freien Zeit als ‚soziale Arbeit’ für fremde andere zu verausgaben und dass es so zu einer Art neuen Bürgerhilfebewegung gekommen ist“. In den letzten dreißig Jahren seien derart viele neue ambulante Hilfeformen, nicht zuletzt in jenem „Bürger-Profi-Mix“ entstanden und erprobt worden, dass es an der Zeit sei, sie übersichtlich zu sammeln und kritisch zu bewerten.
Dörner untersucht historisch, wie es „zu einem so tiefgehenden Verhaltenswandel eines größeren Teils der Bürger“ in unserem Land kommen konnte. Daraus ergibt sich die Frage, wie eine zukunftsfähige Hilfekultur für die Allgemeinheit zu entwickeln sei. Unerlässlich dabei wäre allerdings, neben Bürger- und Profihelfern an der Basis, auch „die Verantwortlichen und Machthaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Hierarchien – von der Kommune über die Wirtschaft bis zur Bundespolitik – ins Boot zu holen“. Dies ist das erklärte Hauptanliegen eines informativen, aufschlussreichen Buches, in dem eine Gebrauchsanweisung zur Lektüre und zum Studium gleich auf den ersten Seiten mitgeliefert wird.
In seinen aktuellen Nachforschungen geht Klaus Dörner von der Hypothese aus, dass wir uns im Umbruch von zwei Epochen befinden: von der 150-jährigen Epoche der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Welche Konsequenzen das für uns hat, wie schwer der „Abschied von der Faszination der Industriegesellschaft“ fallen wird, wird überdeutlich. Der Autor zeigt die „Perversion des Fortschritts“ auf und prognostiziert, dass die aufkommende Dienstleistungsgesellschaft im Zuge von „unser aller Alterung“ nicht nur den Arbeitsmarkt revolutionieren wird. Eine entscheidende Veränderung zeige sich alleine schon darin: Während in der Industriegesellschaft die Menschen zur Hilfe gebracht wurden, wird in der Dienstleistungsgesellschaft die Hilfe zu den Menschen gebracht. Mit dieser Vereinfachung bringt Dörner den Epochenwandel, von dem wir ausgehen müssten, auf eine Hilfsformel. Freilich sind die Umwälzungen, die uns bevorstehen, so gewaltig und komplex, dass wir sie heute in ihrem gesamten Ausmaß kaum vorhersagen, allenfalls partiell erahnen können. Daher stellt Dörner seine Hypothese immer wieder auf den Prüfstand, auch um den Leser zum Mitdenken aufzufordern.
Eines jedenfalls ist schon gewiss, und das kann Dörner nicht oft genug betonen: „Wir wachsen in eine Gesellschaft hinein mit dem größten Hilfebedarf der Menschheitsgeschichte, bedingt durch den ständigen Zuwachs an Alterspflegebedürftigen/Dementen, an körperlich chronisch Kranken, aber auch an ‚Neo-Psychisch-Kranken’…“ Ein weites Feld an Hilfebedürftigkeit von Mitmenschen, das sich da vor uns auftut und kaum ansatzweise von der Politik begriffen wird. Dörners Bericht hat etwas Insistierendes, aber seine Wiederholungen haben auch Methode. Aufgrund seiner praktischen Erfahrungen als Mediziner und Heimleiter versteht er es, von der Notwendigkeit der Bürgerhilfebewegung zu überzeugen. Und indem er deren Entwicklungsstand überschaubar darstellt, gibt er allen Aktiven auf diesem Gebiet sowie interessierten Außenstehenden eine Orientierungshilfe. (Kontaktadressen zu einschlägigen Einrichtungen sind für alle, die Beratungswünsche haben, unten hinzugefügt.)
In „konzentrischen Kreisen“, verteilt über zehn Kapitel, kommt Dörner von konkreten Einzelbeispielen des Helfens zum Allgemeinen. Es ist eine lange Liste, die abgehandelt wird: „1. Selbsthilfe, 2. Familienhilfe, 3. Sozialraum- und Nachbarschaftshilfe, 4. kirchliche Gemeindehilfe, 5. Bildungsmedien, 6. Kommunale Initiativen, 7. Beiträge der Wirtschaft, 8. Die Rolle der Verantwortlichen für Gesundheit und Soziales.“
An neunter Stelle, und ab und da erhöht Dörner seine Nachdrücklichkeit, „folgen die Verantwortlichen für die Heime, deren Schlüsselstellung für ein zukunftsfähiges Hilfesystem entscheidend ist, weshalb, wenn ich ihnen nicht einleuchte, das Buch im Wesentlichen für die Katz war“. Um schließlich bei Punkt 10 zu landen, „bei den politisch Verantwortlichen und beim Gesetzgeber“. Denn last not least seien sie es, die „zu ihrer Verallgemeinerungs-Bedeutung für eine neue, tragfähige Hilfekultur“ erst in Zukunft finden müssten. Hier fasst Dörner den jetzigen Zustand unseres Soziallebens im Verhältnis zu den Entscheidungen der Politik zusammen.
Einmal mehr gegeißelt wird die einstige Revision der Sozialhilfe, initiiert durch Peter Hartz, einen Repräsentanten der Autoindustrie, der mit „industrieller Logik“ zu Werke gegangen sei.
Das habe zu einem menschenunwürdigen Umgang mit Sozialhilfeempfängern geführt, zur Behandlung von „Menschen wie Sachen, die man restlos durchrationalisieren kann“. Und dass die Krankenkasse seit 2004 kein Sterbegeld mehr zahlen, sei zwar im Sinne der Marktrationalisierung nachvollziehbar, habe aber die Zahl der Sozialhilfe-Einfachbestattungen, für die der Verwaltungsvermerk „Abtrag“ gelte, um mehr als ein Drittel ansteigen lassen. Was in solchen Fällen dazu führe, „dass zwischen Tod und Bestattung keinerlei symbolische Handlung erfolgt“. Ergebnis: „Die Sterbekultur, bisher stets die Wiege jeglicher Kultur seit Beginn der Menschheitsgeschichte, zerfranst und zerfällt.“
Die wachsende politische Resignation der meisten Bürger erklärt Dörner vor allem damit, „dass die Politiker selbst sich für ohnmächtig halten gegenüber diversen gesellschaftliche Interessengruppen, insbesondere gegenüber dem Kapital, das sie für dynamisch bewegender halten als sich selbst …“
Zum Ausblick Adressen von Sozialinitiativen und -einrichtungen in Baden-Württemberg, die aus der Bürgerhilfebewegung hervorgegangen sind: Arkade e.V., Gartenstraße 3, 88212 Ravensburg, www.arkade-ev.de; Stiftung „Innovation und Pflege“, Obere Vorstadt 16, 71063 Sindelfingen, www.stiftung-innovation-pflege.de.
Ein weiteres Beispiel ist das in Baden-Württemberg schon vielfältig bewährte Konzept der „Lebensräume für Jung und Alt“ der Stiftung Liebenau sowie das Projekt „Gesundes Kinzigtal“, www.gesundes-kinzigtal.de, mit dem Strukturen und Ressourcen des vorhandenen Sozialraums im Sinne der „Wohlfahrt“ weiterentwickelt werden sollen.

5-Sterne-Rezension von Ursula Talke, Berlin auf amazon.de:
Die Früchte der Reisen des Klaus Dörner
Oder: Wehe, wenn er losgelassen!

In meiner Rezension des letzten - neu herausgegebenen Buches von ihm - "Helfende Berufe im Marktdoping", wähnte ich ja schon, dass wieder etwas in der Schublade keimen könne ... was der Autor aber, als wir uns danach das nächste Mal trafen, dementierte.
Nun hat es aber - vergangenes Jahr schon - ausgekeimt und ist auf dem Markt - eine Trilogie ist komplett, mit dem eben erwähnten und "Leben und sterben wo ich hingehöre".
Das eine für die Bürger, das nächste für die Profis und das dritte nun für die auf den höheren Ebenen Handelnden - bis hin zu den Politikern, die ja schon kräftig dabei sind, Gesetze zu ändern und neue zu schaffen.
Dörnerig, aneckend, unumgänglich - natürlich hat das Buch keine Einleitung, sondern eine Gebrauchsanweisung. Immerhin wird man auf die Fülle vorbereitet - handelt es sich bei dem Werk unter anderem auch um ein Adressbuch und einen Literaturratgeber - von außergewöhnlichen, sonst nur Insidern bekannten Schriften.
Zu Beginn klärt er über den "Entwicklungsstand der Nachbarschaftsbewegung" auf, dann nimmt er Anlauf für den "schweren Abschied von der Faszination der Industriegesellschaft" - während er am Anfang des Buches das "Jahrhundert der Dienstleitungsgesellschaft" proklamiert, schreibt er am Ende vom "Jahrhundert der Demenz" – hm ... es fiel mir nur so auf.
Im dritten Teil hebt er den Zeigefinger: "Auf dem Weg zur Verallgemeinerung der neuen Hilfekultur oder: wer hat ab heute was mit wem zu tun?"
Er hat es gut aufgeschlüsselt: In zehn Einheiten - angefangen bei Selbstsorge bis hin zu den Politikern - wird er konkret, unterlegt seine Thesen mit sagenhaft vielen Praxisbeispielen (das kommt davon, wenn man ständig durchs Land quert!) und erzählt, wie es gehen kann: Immer wieder werden neue Möglichkeiten erfunden, wie alte Menschen zu Hause leben und auch dort sterben können.
Dörner setzt bei uns Zeitgenossen eine Helfensbedürftigkeit voraus - jeder Mensch möchte Bedeutung für andere haben -, wobei er durchaus einräumt, dass man das manchen Menschen auch erst ein bisschen schmackhaft machen müsse.
Er spricht vom dritten Lebensalter - dem nach der altersüblichen Berentung - als neuer Schaffensperiode, die gefüllt werden müsse. Grundsätzlich spricht er aber jeden an - wobei es mir lieb gewesen wäre, wenn er den Aspekt des bedingungslosen Grundeinkommens mehr mit berücksichtigt hätte - dann hätte nämlich Otto Normal-Erwerbstätiger auch die Hände etwas mehr frei für die Nachbarschaftshilfe.
Und auch Menschen mit sogenannten psychischen Erkrankungen (ich greine, weil auch er so an dieser Begrifflichkeit zu klammern scheint), also Menschen, die aufgrund ihrer Beschaffenheit oft nicht erwerbsfähig sind, müssten nicht diese elenden Reha-Schienen durchlaufen, sondern könnten problemloser mit zupacken. Dass sie - aufgrund ihrer vielen Zeit - dazu gut geeignet sind, spricht er ja an.
Demenz erklärt Dörner schlichtweg als Daseinszustand und spricht ihr den Krankheitswert ab. Das finde ich sowohl sehr mutig als auch zukunftsträchtig - ahne ich doch, dass jemand mit Demenz in der Rund-um-die-Uhr-Erträglichkeit eine große Herausforderung darstellt.
Man kommt also nicht dran vorbei, an dem neuen Dörner-Buch - und noch weniger an der Erkenntnis, dass er alles andere als ein Utopist ist - das belegen und beweisen die vielen Beispiele, die er anführt und zur Besichtigung ermuntert - und zum Nachahmen.
Ich hab schon überlegt, ob man daraus nicht eine Vorabend-Serie im Fernsehen machen könnte - in den Regionalsendern im jeweiligen Raum und sonnabends im Ersten oder Zweiten eine Zusammenfassung - sonntags dann das Preisausschreiben für neue Ideen und ihre Umsetzung - ob das die Einschaltquoten erhöhen würde?
Denn die Zukunft droht uns ja zu überholen - die Alterspyramide kippt - und diese - menschheitsgeschichtlich neue Situation, auf die wir zusteuern, will gemeistert werden.
Möge er es noch erleben, das heimfreie Land - dann könnte das nächste Buch doch glatt heißen: "So schnell - das hätt ich nicht gedacht!"
Naja, wer weiß - ?!!

Ausführliche Rezension auf www.schattenblick.de:
"Jeder braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere!"
Klaus Dörner, der bekannte Psychiater und Autor, der sich schon während seiner praktischen klinischen Tätigkeit konsequent für eine Welt ohne Heime engagiert hat, streitet seit langem nicht mehr nur für die Deinstitutionalisierung in der deutschen Psychiatrie und die Inklusion psychisch Kranker und Behinderter, sondern auch für das lebenslange Miteinander von jungen und alten Menschen.
Heutzutage möchte niemand mehr in ein Heim. Darüber hat Dörner in ungezählten Vorträgen berichtet.
Das im 19. und 20. Jahrhundert aufgebaute duale System "Wohnung / Heim", das mit der Industrialisierung und dem trügerischen Versprechen einherging, auch im Alter gut versorgt zu ein, habe ausgedient und stoße auch wirtschaftlich an seine Grenzen.
Zu spüren bekommen das die Betroffenen. Der auf der Hand liegenden Frage, ob denn Menschen, die ihre ökonomische Verwertbarkeit für den Staat und die Gesellschaft verloren haben, in der heutigen Zeit und in Zukunft davon ausgehen müssen, daß sie keinen Anspruch mehr auf ein gesichertes und menschenwürdiges Leben im Alter erheben dürfen, tritt Klaus Dörner mit einem klaren "nein" entgegen, gerade weil die Lebenswirklichkeiten vieler alter Menschen in Deutschland ein beredtes Zeugnis von der katastrophalen Situation ablegen.
Klaus Dörner hat sich nach seiner Emeritierung im Jahr 1996 auf die Suche nach Alternativen begeben.
Der Kampf um das Recht eines jeden Menschen auf Inklusion, also darauf, "in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen von Beginn an dazu zu gehören, Wert geschätzt zu werden, sich als zugehörig erleben und fühlen zu können - unabhängig davon, wodurch die Zugehörigkeit gefährdet ist" [1], hat in seinem Leben und Wirken schon immer eine zentrale Rolle gespielt.
Der Autor ist sich selbst treu geblieben. Galt sein Engagement im Laufe seiner Karriere als Psychiater stets der Deinstitutionalierung und der Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen in ein normales Lebensumfeld, so setzt er sich heute für das alltägliche soziale Miteinander von Alt und Jung, von Pflege- oder Hilfsbedürftigen und Gesunden im vertrauten Lebensumfeld ein.
Denn wer wünscht sich das nicht: alt werden zu können, ohne sich Sorgen um die eigene Versorgung oder eine institutionelle ENDsorgung für den Fall, daß man es allein nicht mehr schafft, machen zu müssen; zu wissen, daß man sich auf sein soziales Umfeld verlassen und stützen kann, daß man mit alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen weiterhin dazugehört und seinen Platz in der vertrauten Umgebung behält; daß man selbst im Fall der Pflegebedürftigkeit sicher sein kann, daß gut für einen gesorgt, man nicht allein gelassen und in ein beliebiges vielleicht sogar ortsfernes Heim abgeschoben wird.
Das Thema des Buches ist brisant und wird es angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse und der demografischen Entwicklung auch in den kommenden Jahren bleiben.
Denn die Zahl der alten Menschen nimmt zu und die Basis der Bevölkerungspyramide schrumpft, was bedeutet, daß immer weniger Jüngere für immer mehr Alte sorgen müssen. Es ist kein Geheimnis, dass sich dieses Problem in den kommenden Jahren noch verschärft, denn laut "Pflegereport 2030" der Bertelsmann Stiftung wird der Pflegebedarf bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent steigen.
Gleichzeitig werden die Sozialleistungen des Staates immer weiter abgebaut. Immer weniger Pflegeleistungen werden von der Kasse übernommen. Für jede pflegerische Erfordernis muss die Rechtfertigung erbracht werden, daß sie wirklich notwendig ist. Das Personal in den Kliniken und Heimen ist überfordert. Es mangelt an Pflegekräften, die sich adäquat kümmern können. Für persönliche Gespräche, die Begleitung bei einem Spaziergang oder Einkauf bleibt keine Zeit und für über die pflegerischen Maßnahmen hinausgehende menschliche Kontakte ist kein Etat vorgesehen.
Überall wird gekürzt, werden Arbeitsplätze eingespart. Das Finanzregime der staatlichen und privaten Heime ist so eng reguliert, daß außer der bloßen Grundpflege und Versorgung keine Reserven vorhanden sind.
Durch den Verfall des Sozialstaats in den letzten Jahrzehnten hat zudem die Altersarmut rapide zugenommen. Immer weniger Menschen können es sich leisten, die für ein würdiges Dasein in einer lebenswerten Umgebung erforderliche Pflege privat zu finanzieren. Renten werden gekürzt und reichen knapp zum Überleben. Viele sind gezwungen, sich trotz ihres Alters und der damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen mit Minijobs noch etwas hinzuzuverdienen. Die heutigen Lebensverhältnisse lassen es in vielen Fällen nicht zu, daß ein Familienangehöriger im Krankheitsfall oder weil er es allein nicht mehr schafft, von der Familie, den Kindern oder Enkeln gepflegt wird. Die Wohnverhältnisse sind zu beengt, die Wege haben sich meist Jahrzehnte zuvor getrennt, und die finanziellen Belastungen erfordern immer öfter mehr als einen Job zum Überleben, so dass auch die dafür benötigte Zeit nicht zur Verfügung steht.
Daß die Versorgung im Alter eines der großen sozialen Probleme unserer Zeit darstellt, ist der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte geschuldet. Fand das Altwerden im vorletzten Jahrhundert noch vorwiegend im Kreis der Familie statt, so entwickelten sich im Zuge der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert Strukturen, die eine gesonderte Unterbringung alter Menschen in Heimen vorsah.
Es blieb [...] der beginnenden Industrialisierung vorbehalten, solche modernen Trennungsoperationen auf immer mehr Lebensformen auszuweiten und vor allem systematisch durchzusetzen. So erzwang die Auslagerung der Güterproduktion aus den Handwerksstuben in die Fabriken die Trennung der Arbeits- von der Lebenswelt und damit eine viel rigidere Geschlechtertrennung als je zuvor. Das dem entsprechende industrielle Menschenbild der einseitigen Leistungsbewertung - ein Mensch ist umso weniger Mensch, je leistungsminderwertiger er ist - führte nach demselben Trennungsmotiv konsequent zur Etablierung flächendeckender Institutionssysteme für psychisch Kranke, Körperbehinderte, geistig Behinderte und in dem Maße, wie diese allmählich zunahmen, auch für Alterspflegebedürftige, Sieche und Demente. Ausgrenzungskriterium für diese Menschen, die ja immerhin Familie, Freunde, Nachbarschaft, ihr Wohnviertel, ihre kirchengemeindliche und kommunale Zugehörigkeit, ihre Freiheit ebenso wie ihre Bedeutung für Andere verloren, waren das Maß ihrer Leistungsminderwertigkeit und ihres Störpotenzials. (S. 25)
Sinn dieses Systems war also die Förderung der für den Fortschritt und die Ökonomisierung der
Wirtschaft notwendigen "Leistungssteigerungsgesellschaft durch Ausgrenzung der Leistungsminderwertigen." (S. 199) Die Devise hieß: stationär vor ambulant, um möglichst viel der
dringend gebrauchten Arbeitskraft, die sonst familiär durch Pflegeaufgaben gebunden wäre, für den Aufbau der Industriegesellschaft freizuhalten. Der gesellschaftliche Wandel hin zur Kleinfamilie und damit zur zunehmenden Vereinzelung war verbunden mit dem Versprechen, im Alter und im Pflegefall vom Staat gut versorgt zu werden.
Die Institutionalisierung und Professionalisierung des Helfens - eine menschheitsgeschichtliche
Ausnahme, wie Dörner interessanterweise betont - ging einher mit einem rasanten medizinisch-technischen Fortschritt, bei dem schon bald absehbar war, daß dieser nicht mit dem
Anspruch eines Sozialstaats, jedem die gleichen Chancen für eine medizinische Versorgung einzuräumen, in Deckung gebracht wurde. Folge war und ist der konsequente Abbau der Sozialleistungen des Staates und eine zunehmende Privatisierung ursprünglich staatlich vorgehaltener Dienstleistungen.
"Helfensbedürftig" ist nicht das erste Buch von Klaus Dörner, das sich mit dem Problem des Alterns in unserer heutigen Gesellschaft und insbesondere mit dem Problem der Versorgung und des Zusammenlebens im Alter befaßt. Es knüpft direkt an das Buch "Leben und Sterben wo ich hingehöre" an, das im Jahr 2007 erschienen ist und in dem der Autor seine Vision eines umfassenden deinstitutionalisierten Hilfesystems mit Bürgerbeteiligung vorstellt. In seinem aktuellen Buch beschreibt er diese wie folgt:
[...] dass wir in der Tat in absehbarer Zeit so weit sein können, wenn wir bloß wollen, dass alle Menschen mit Handicaps bis hin zur Demenz, ihrem Wunsch folgend, in eigenen vier Wänden oder zumindest in der Vertrautheit ihres Stadtviertels bzw. Dorfes leben und sterben [können]. (S. 8)
Klaus Dörner hat sich in seinem Buch "Helfensbedürftig" auf die Suche nach alternativen Modellen für ein Zusammenleben von Alt und Jung in der heutigen Zeit begeben und die Ergebnisse seiner Suche akribisch zusammengetragen. Ohne zu werten, stellt er die verschiedenen Initiativen, Ideen und Ansätze, die es in kleinen und großen Gemeinden in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, vor. Für ihn bietet jeder Ansatz, jede Initiative in dieser Richtung die Chance, etwas zu verändern und die alten Menschen in das alltägliche Leben zu integrieren oder anders gesagt, sie nicht aus dem alltäglichen Leben zu entlassen.
Daß alle Konzepte erst entwickelt werden müssen und bei ihrer Umsetzung häufig korrekturbedürftig sind, setzt er als selbstverständlich voraus. Doch jede Idee ist besser, als die Abschiebung alter Leute in Heime. Dörner wird nicht müde zu betonen, daß jeder Mensch seinen Teil an sozialer Anerkennung braucht. Abgeschoben in Heime wird ihnen die Erfüllung dieses Bedürfnisses verweigert.
Dörners Kritik an den Heimen ist ungebrochen radikal und sein Engagement umso glaubhafter, als die Geschichte der Heime Teil seiner eigenen Lebensgeschichte ist. So kann er aus seiner Zeit als Psychiater und ärztlicher Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh, in der er zusätzlich auch als Abteilungsleiter für 435 Langzeitpatienten und damit für die später in 'Heimbereich' umbenannten Abteilungen des Krankenhauses verantwortlich war, berichten, dass [...] Menschen, die von sich aus die Heimexistenz nie gewählt hätten, schon nach relativ kurzer Zeit jeden Glauben an sich selbst verloren haben, sich dank der dortigen Überversorgung für zu behindert halten, es je wieder verlassen zu können (in Gütersloh waren es anfangs über 90 %), bis die Weite der Welt für sie auf eben dieses Heim zusammenschrumpft, bis Zukunftswünsche und Vergangenheitserinnerungen zugunsten einer sich ewig wiederholenden und bedeutungslosen Gegenwart aufgegeben werden und bis sie in eigentlich sogar gesunder Anpassung an das, was ihnen täglich von uns eingeredet wird, dass es für sie keine Alternative geben könnte [...], von sich selbst behaupten, dieser Heimplatz sei der beste Lebensort für sie, den sie freiwillig nicht wieder aufgeben würden. (S. 203-204)
Das Ansinnen von Dörner in dem Buch "Helfensbedürftig" ist es, durch die Sammlung und Vorstellung der verschiedensten Beispiele neuer Hilfeformen sowie durch eine kritische Bewertung und Verallgemeinerung der unterschiedlichen Ansätze eine neue und zukunftsfähige Hilfekultur für alle zu fördern. Im zweiten Schritt möchte er dann "die Verantwortlichen und Machthaber in den verschiedenen gesellschaftlichen Hierarchien - von der Kommune über die Wirtschaft bis zur Bundespolitik - ins Boot [...] holen." (S. 6), um dieses bürgerschaftliche Engagement der Basis auf gesamtgesellschaftliche Füße zu stellen.
Mehr als 1000 Reisen hat der Autor in den letzten Jahren auf sich genommen, um die verschiedenen Projekte zu besuchen und kennenzulernen. Dabei war es ihm von Anfang an ein besonderes Anliegen, zu einer möglichen Verknüpfung beizutragen, denn viele Ideen kämpfen mit gleichen oder ähnlichen Problemen und könnten sich durch einen gegenseitigen Austausch befördern.
Bei seinen Recherchen ist Klaus Dörner auf ein Phänomen gestoßen, das er als eine Art neue Bürgerhilfebewegung bezeichnet und das mit dem vom Autor neu geschaffenen Begriff "helfensbedürftig" auch in den Titel des Buchs Eingang gefunden hat. Er umfaßt die Erkenntnis des
Autors, daß heute im Unterschied zu früher "ein bis zwei Drittel der Bevölkerung dazu neigen, einen Teil ihrer so schönen freien Zeit als 'soziale Zeit' für Andere zu verausgaben". (S. 6) Das Bedürfnis, helfen zu wollen und helfen zu können, stelle, so der Autor, das tragende Element für ein nachhaltiges Engagement der Bürger dar, denn die Erfüllung dieses Bedürfnisses sei eine Grundvoraussetzung für ein zufriedenes Leben.
Auf Nachfrage von Dörner wurden die folgenden Motive für ein bürgerschaftliches Engagement genannt:
[...], dass man außer dem Konsum und Genuss seiner freien Zeit ein Gleichgewicht zwischen Nehmen und Geben brauche, also außer Freizeit auch ein bisschen sozialgebundene Zeit, um sich gesund zu fühlen, außer Entlastung auch Belastung (seine Tagesdosis an Bedeutung für Andere), um zur Auslastung und damit zur Gesundheit zu kommen und drittens das Interesse an einem Gleichgewicht zwischen sowohl kostenlosen als auch bezahlten Tätigkeiten, je mehr mein Tun sich etablierten Dienstleistungen nähert (im Sinne der Dienstleistungsgesellschaft als Tätigkeitsgesellschaft). (S. 79)
Die vom Autor beobachtete Zunahme der Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, könnte auch gedeutet werden als willkommenes Feigenblatt, das für den weiteren Abbau staatlicher Sozialleistungen herhalten muß. Dörners Appell, sich seinem Engagement für eine bessere Gesellschaft anzuschließen, richtet sich an alle Menschen und wird wohl doch denen vorbehalten bleiben, die sich dieses Engagement auch leisten können.
Die genannten Voraussetzungen für eine unbezahlte Helfenskultur, die auf Menschen in ihrem dritten Lebensalter, d.h. in den 15 bis 20 Jahren nach Beendigung ihrer beruflichen Tätigkeit, setzt, in denen sie sich noch guter Gesundheit und Leistungsfähigkeit erfreuen und ihnen genügend Zeit sowie Geld bzw. Rente für ihr Auskommen zur Verfügung stehen, lassen sich mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen kaum in Deckung bringen. Denn ein großer und anwachsender Teil der Bevölkerung ist sozial nicht so gut abgesichert und hat auch im dritten Lebensalter noch mit existenziellen Sorgen zu kämpfen, die wenig Kraft und Raum für Nachbarschaftshilfe übrig lassen.
Das Engagement des Autors, der seine unbeirrbare Streitbarkeit für die Durchsetzung seiner Vision einer umfassenden Inklusion, also eines gleichberechtigten und unbehinderten Zusammengehörens aller Menschen – auch der alten – in die Waagschale wirft, ist emerkenswert. Am Ende seines Buchs stellt er eine Kernfrage, die er der Diskussion seiner Leser anheim stellt:
Und ist es schließlich nicht sogar so, dass das Grundgesetz uns zu einem solchen oder einem ähnlichen Schritt zwingt, damit wir – jetzt auch noch im Verein mit der Behindertenrechtskonvention – endlich die Ungleichbehandlungs-Perversion zumindest der letzten 150 Jahre beenden, die radikale Gleichheit von Menschen mit und ohne Behinderung realisieren und uns dadurch erst verfassungskonform machen? (S. 246)
Das Buch ist sicherlich keine leichte, aber dennoch eine äußerst spannende Lektüre. Wer sich mit dem brisanten Thema der mangelnden und prekären Altersversorgung in unserer heutigen Gesellschaft allgemein oder im ureigensten Interesse beschäftigt, für den erweist es sich als wahre Fundgrube an Anregungen, Adressen und Sekundärliteratur. Akribisch hat der Autor seine Ausführungen mit Fußnoten und Quellenangaben versehen, die es dem Leser vor allem an Stellen, an denen die Ausführungen und Schlußfolgerungen des Autors etwas kurz gefasst sind, ermöglichen, die Hintergründe der von ihm angestellten Überlegungen zu erkunden. Und die Mühe lohnt sich, denn zum einen hilft sie dabei, der Recherche des Autors tatsächlich zu folgen, und zum anderen wird der interessierte Leser dabei mit Sicherheit auf so manchen lohnenden Exkurs stoßen, der das spannende Thema auf höchst anregende Weise noch vertieft.
Fußnote:
[1] Vortrag "Was meint Inklusion? Zwischen Idee und Realitäten" von Prof. Dr. Theo Klauß am 11. Mai 2009 in Bergisch Gladbach


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