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Wie auf verschiedenen Planeten

Rezensionen

Andreas Manteufel in: Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung:
„Okay, wenn Ihre Mutter psychisch krank ist und Ihr Bruder ebenfalls, dann haben Sie eine ungefähr 75-prozentige Wahrscheinlichkeit, ebenfalls zu erkranken.“ (S.133) Nun, auch das ist eine Art, über generationsübergreifende innerfamiliäre Verwicklungen in psychische Krankheiten zu sprechen. Die achtzehnjährige Frau, die diese Mitteilung vom Psychiater ihres Bruders erhielt, wurde später Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, vom Ärger dieser Bemerkung angestachelt, wie sie in ihrem Beitrag schreibt.
Das vorliegende Buch stellt Erfahrungsberichte von Eltern und Kindern aus Familien, in denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, vor. Sielaff selbst umrahmt diese Geschichten mit Informationen zum Thema und eigenen Erfahrungen aus ihrer Arbeit. Am Beispiel des „Ex-In“-Projekts macht sie deutlich, dass Hilfsangebote am ehesten als Ermutigung und Anleitung zur gegenseitigen Selbsthilfe gemeint sind, nicht als Fremdhilfe nach dem „Therapeut-Patient“-Modell.
In allen Kapiteln spielt das Thema „Schuldgefühle“ eine dominierende Rolle, häufig auch die hohen Erwartungen an die Elternrolle und das Scheitern daran, es „perfekt“ machen zu wollen. Viele Geschichten sind traurig. Doch die Grundaussage des Buches ist eine hoffnungsvolle. Sielaff ermutigt zum Gespräch. „Eine Kultur des Miteinandersprechens ist noch immer nicht selbstverständlich, weder innerhalb der Familien mit seelisch erkrankten Eltern, noch außerhalb der Familien in gesellschaftlichen Zusammenhängen.“ (S. 185)
Viele suchen die Selbsthilfe auf, weil sie dort auf Menschen mit ähnlichen Erfahrungen stoßen. Das hilft, sich verstanden zu fühlen und allmählich „einige Selbstverurteilungen aufzulösen“ (S.186). Sielaff vertraut auf die eigenen Kräfte, etwa unter den Themen „Familienresilienz“, „Überlebenskunst“ oder das Verwandeln von Teufelskreisen in „Engelskreise“. Das Buch wirbt insgesamt dafür, ein schwieriges Thema offener als bisher anzusprechen und mit der ganzen Familie nach Lösungen zu suchen.
Mittlerweile wird die Eltern-Kinder-Thematik in der Psychiatrie größer geschrieben, so gibt es bei uns in Bonn einige außerklinische Hilfsangebote in diese Richtung. Im Rahmen der stationären Behandlung ist meine Erfahrung aber, dass die Zeit für das Gespräch mit den Angehörigen, auch den Kindern, der allgeneinen Zeitknappheit, dem Dokumentationsdruck und dem damit verbundenen Rückzug auf psychopathologische Basics zum Opfer fällt.
Dieses Buch kann ich wärmstens empfehlen, nicht zur Vorbereitung der Facharztprüfung, sondern zur Einstimmung auf das Gespräch mit den Betroffenen über das heikle Thema des Umgangs zwischen psychisch kranken Eltern und ihren Kindern.

Cornelia Schäfer in: Psychosoziale Umschau:
»Wie ein Alien« sei ihr die Mutter vorgekommen, schreibt eine inzwischen erwachsene Tochter über ihr Empfinden in der Kindheit, die überschattet war von der Psychose der Mutter. Jedes Mal, wenn die Mutter diesen ganz bestimmten Gesichtsausdruck bekam, der ihr Abdriften in die paranoide Welt ankündigte, musste die Tochter mit aller Kraft dagegen ankämpfen, mit in die kalten Räume gezogen zu werden. »Ich will nichts davon. Nichts!«
Wenn Eltern psychisch krank werden, kommt das nicht selten einer Zerreißprobe für die ganze Familie gleich. In dem Buch der Psychologin Gyöngyvér Sielaff legen Töchter, Mütter, ein Sohn und ein Vater ein bewegendes Zeugnis davon ab. Der Angst, Wut und Sehnsucht, dem Mitleid und Befremden der einstigen Kinder stehen vor allem Hilflosigkeit und Schuldgefühle der Mütter gegenüber: »Meine Hülle sorgte für die Hülle meines Sohnes.«
Und Scham, auf beiden Seiten. Denn psychische Krankheit konfrontiert alle Familienmitglieder mit ihrer Ohnmacht, und meistens leidet jeder für sich alleine. Dafür sorgt schon das Stigma, das ihr immer noch anhaftet.
Umso wichtiger war es Gyöngyvér Sielaff, ihr Buch als Medium der Begegnung anzulegen. Erkrankte oder einst kranke Eltern erfahren dort, worunter Kinder besonders leiden, aber auch, was ihnen Wege der Bewältigung und des Wachstums aus der Katastrophe zu bahnen vermag. Und die einstigen Kinder können ein Verständnis dafür gewinnen, wie verzweifelt Eltern meist darum ringen, ihren Söhnen und Töchtern trotz der Krankheit Liebe und Fürsorge angedeihen zu lassen. Dieses Trotzdem und Gerade-Deswegen ist eine der Stärken des Buches und derer, die darin erzählen. In all dem Schmerz und Elend blitzen immer wieder kostbare gelungene Momente, Kraft, Selbsterkenntnis und Liebe auf – wie Trittsteine im wilden Wasser, Ressourcen, die manches möglich machen: selbst in großer Not ein Stück Normalität zu retten etwa, weiter zu leben und sogar zu reifen.
Dass Kinder und Eltern dabei Unterstützung brauchen, Psychiatrie und Jugendhilfe diese aber noch nicht in der nötigen Qualität und Quantität leisten, daran lässt die Psychologin keinen Zweifel. Hat sie doch selbst aus der Not unzureichender und fehlender Hilfen heraus wegweisende Beratung und Gruppenangebote für betroffene Familien, Mütter und Kinder ins Leben gerufen, die neben einfühlsamer fachlicher Zuwendung einen Raum für geschwisterliche Solidarität bieten. Nicht zuletzt der Austausch mit anderen Betroffenen und das Angenommenwerden mit der eigenen Geschichte ermöglicht es, den Teufelskreis aus Schweigen, Isolation und Selbstentwertung hinter sich zu lassen und in etwas einzutreten, das Gyöngyvér Sielaff »Engelskreis« nennt: die Erfahrung, über Verstörendes und Beschämendes sprechen zu können und durch Erklärung, Verständnis und Beistand entlastet und gestärkt zu werden.
Zu einer solchen, die ganze Familie in den Blick nehmenden Hilfe, die erst noch flächendeckend zu schaffen ist, sollten auch krisenerfahrene Mütter (und Väter) mit EX-IN-Schulung beitragen können, wünscht sich die Psychologin: als »Mitmütter«, engagiert und bezahlt von Jugendämtern, Erziehungsberatungsstellen, Kinderärzten, Anbietern integrierter Versorgung und anderen. Solche »Mitmütter« würden Betroffenen Zuversicht vermitteln, Profis ermuntern, die Erfahrung eigener Lebenskrisen einzubringen und auch selbst mit ihren Familien profitieren. So freut sich eine EX-IN-Absolventin, die bereits von verschiedenen Gruppen angefragt wurde: »Gleichzeitig erlebe ich es als eine große Erweiterung, dass meine eigene Krankheit und mein Umgang mit ihr für andere hilfreich sein könnte. Hier tut sich eine Tür auf und meine Kinder haben dies ebenfalls sehr genau wahrgenommen.«

Sibylle Prins in: Dr. med. Mabuse:
An vielen Orten ist es derzeit „modern“ , das Augenmerk auf die Situation der Kinder aus Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen zu legen. Unterstützungsprojekte schießen wie Pilze aus dem Boden. Das ist sicherlich gut so und längst überfällig. Manchmal geraten dabei allerdings die psychiatrieerfahrenen Eltern in eine etwas schräge Perspektive: sie sind der „Problemfall“, und müssen beispielsweise ein standardisiertes Elterntraining absolvieren, um ihre „Verantwortungsbereitschaft“ zu steigern.
Dieses Buch ist ganz anders. Nach einem Vorwort von Kirsten Boie, der Autorin von „Mit Kindern redet ja keiner“ (Fischer 2005), in dem sie u.a. die gesellschaftlichen Belastungen und Erwartungen aufgreift, denen Familien, insbesondere die Mütter, heute unterliegen, folgen einführende Worte von Gyöngyvér Sielaff. Erleichternderweise geht sie darauf ein, dass auch ohne psychiatrische Diagnose Familien häufig sehr belastet sein können, und nicht immer ein Hort der Geborgenheit für ihre Mitglieder darstellen. Tragischerweise sind sie oft ein Ort, an dem Menschen füreinander gut sein wollen, aber es nicht sein können. Und dennoch können dieselben Familien daneben auch viele Ressourcen aufweisen. Krisen jeglicher Art können für Einzelne und für Familien (oder größere Netzwerke) eine große Katastrophe darstellen und viel Leid verursachen, aber auch einen Neuanfang bedeuten.
Danach ist Raum für viele Erfahrungsberichte. Von psychiatrieerfahrenen Müttern und einem Vater. Von jugendlichen und erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern. Mancher Literatur aus dem trialogischen Umfeld wird vorgeworfen, sie würde psychische Erkrankungen verharmlosen, vor lauter Verständnis „weichspülen“. Die schrecklichen und dramatischen Erlebnisse, die damit verbunden sein können, würden ausgeblendet oder schöngeredet. Und auch ich bin schon bei solcher Lektüre unterbrochen worden durch Situationen und Beispiele, an die diese Literatur nicht heranreichte. Das mag vielleicht Sinn machen, wenn es um Abbau von (Selbst-) Stigmatisierung, Vorurteilen oder um Entängstigung geht. Nicht so in diesem Buch. Hier wird nichts beschönigt. Die Berichte sind allesamt berührend, manche sehr erschütternd. Die Erfahrungen sind alle unterschiedlich, dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Gefühle, die oft genannt werden: Scham. Wut. Verzweiflung. Schuldgefühle, auf Seiten der Eltern wie der Kinder. Isolation. Die Belastung durch erzwungenes Schweigen, nach innen wie nach außen. Deutlich wird auch, welche große Rolle für Kinder nicht belastete Bezugspersonen spielen, auch für die Eltern die Unterstützung von außen. Wer an das Buch mit der Einstellung herangehen will „Kenne ich alles schon“, wird überrascht sein: so finden sich z.B. auch zwei Beiträge über den nicht erfüllten Kinderwunsch psychiatrieerfahrener Frauen. Sowie zwei weitere über Familien, in denen sich Mütter das Leben nahmen. Es ist viel von Versöhnung die Rede, von dem Wunsch nach Versöhnung, aber auch von Unversöhnlichem. Von den Grenzen des Verständnisses. Dennoch macht dieses Buch Hoffnung. Zum einen, weil alle, die berichten, sich eben dazu aufgemacht haben, ihr Schweigen endlich zu brechen. Zum anderen durch die vorgestellten Unterstützungsmaßnahmen am Ende des Buches. Therapeutische Gruppen für die jüngeren Kinder. Angeleitete Selbsthilfegruppen für bereits erwachsene Kinder. Unterstützungsgruppen für psychiatrieerfahrene Mütter. Ganz am Schluss eine in Anfängen schon verwirklichte Zukunftsvision: Das sog. „Mitmutter-Konzept“. Kompetente krisenerfahrene Mütter, die zum Beispiel eine Ex-In-Ausbildung absolviert haben, unterstützen Mütter, die mit ihren Krisen und dem Gefühl der Überforderung allein stehen. Als Konzept integriert in die psychosoziale Versorgung und Jugendhilfe, von Kostenträgern übernommen. Um auf diesem Weg weiterzukommen finden sich im Anhang hilfreiche Literaturangaben und Internet-Adressen.
Dieses Buch lebt von der Erfahrung. Der Erfahrung der unmittelbar betroffenen Eltern und Kinder, aber ganz wesentlich auch der professionellen Erfahrung der Autorin. Und von ihrer Warmherzigkeit. Aus allen diesen Gründen ist es sehr viel mehr als nur eine weitere Sammlung von Erfahrungsberichten. Sondern ein fundiertes Fachbuch für alle, die mit Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen zu tun haben. Für psychiatrieerfahrene Eltern und deren Kindern ist es sicherlich auch ein Gewinn. Und noch ein Tipp: es liest sich sogar hochspannend!
Zu Beginn dieser Besprechung schrieb ich, dass es heutzutage mehr Aufmerksamkeit gibt für Kinder aus psychisch belasteten Familien. Das stimmt wohl nur bedingt. Die Erfahrungen insbesondere in Kliniken und mit Ärzten belegen, dass Kinder als Mitbetroffene und mit ihren Bedürfnissen oft nicht wahrgenommen werden. Dass psychisch erkrankte Menschen nicht in ihrer Elternrolle gesehen werden. Das Thema „gesehen werden“ ist übrigens ein durchgängiges Motiv in diesem Buch. Das wünsche ich mir auch für dieses Buch und für die Menschen, um die es darin geht: viel Aufmerksamkeit!

Tina Pruschmann in: Ergotherapie und Rehabilitation 07/2012:
Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Erfahrungsberichten. Die Herausgeberin verhandelt psychische Erkrankungen konsequent als Familienthema. Sie verbindet die Erlebnisse Betroffener und ihrer Kinder mit den Möglichkeiten einer therapeutischen Begleitung und stärkt damit auf eindrückliche Weise den sozialpsychiatrischen Blick. Und sie zeigt, was Psychose existentiell für die Betroffenen und deren Kinder bedeutet.
Den Kern des Buches bilden die Lebensberichte von psychoseerfahrenen Müttern und einem Vater sowie von jugendlichen und erwachsenen Kindern psychisch erkrankter Eltern. Diese Berichte sind unmittelbar und berührend. Auch Extremerfahrungen wie elterlicher Suizid, Zwangssterilisierung in der NS-Zeit und Schwangerschaftsabbrüche werden nicht ausgespart. Es geht aber nicht nur um die Katastrophenerfahrung und Traumatisierung, sondern immer auch um das Sich-Abarbeiten und das Kämpfen um die Beziehung. So bleibt Platz für Themen wie Neuanfang und Reifung.
Die Herausgeberin arbeitet als Psychotherapeutin in einer Sozialpsychiatrischen Psychoseambulanz und ist Koordinatorin bei EX-IN, einem Projekt des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Es stellt Erlebnisse und Erkenntnisse von Psychiatrie-Erfahrenen in den Mittelpunkt. Darüber hinaus ist sie Initiatorin eines „Mitmutterprojektes“. Obwohl sie selbst professionell in der Psychiatrie tätig ist, stellt sich im ersten Kapitel die Frage nach ihrem ganz persönlichen Bezug zum Thema. Sie erodiert damit die strikte Dichotomie von krank=belastet/gesund=nicht belastet, ohne psychische Erkrankungen und ihre Folgen für das Leben der Kinder zu verharmlosen oder zu relativieren. Im letzten Teil des Buches zeigt sie an ganz konkreten Beispielen, wie eine therapeutisch begleitete Arbeit mit psychose-erfahrenen Eltern und betroffenen Kindern aussehen kann und wie sich vor allem der Kreislauf aus Schuldgefühl, Sprachlosigkeit und Tabuisierung durchbrechen lässt.
Insgesamt öffnet Sielaff gerade für angehende Ergotherapeutinnen den Blick über den Tellerrand der biologistischen Krankheitskategorien hinaus. Das ist wichtig. Denn gute Ergotherapie in der Psychiatrie hat immer einen sozialpsychiatrischen Ansatz und sollte im Alltagsleben der Betroffenen stattfinden.
Der Anhang beinhaltet eine Liste ausgewählter Literatur, hilfreiche Internetadressen und DVD-Empfehlungen zum Thema.

Christine Theml in: Nicht ohne uns:
Ihre Beobachtungen und Gedanken unterfüttert die Autorin in diesem Buch mit eindrucksvollen Erfahrungsberichten Betroffener. Wenn sie selbst nach ihrem Bezugspunkt zu dem Thema gefragt wird, kann sie antworten, dass sie bisher von existentiell erschütternden seelischen Krisen verschont geblieben ist, auch ihre Herkunftsfamilie „normal unvollkommen“ war, aber ihren einleitenden Abschnitt „Persönliche Einsichten – Eine Annährung“ beendet sie so: „Diese Erkenntnis macht mir auch deutlich, dass zu unserem Dasein gehört, in tiefe Krisen zu geraten, und dass die fundamentalsten Themen unseres menschlichen Ringens uns eher verbinden als trennen. Nirgendwo wird unsere Einmaligkeit und gleichzeitige tiefe Verbundenheit so deutlich spürbar wie an den Kreuzungen seelischer Erschütterungen.“ (S. 17)
Vielleicht liegt hier die natürliche Lösung für das oft beklagte, sich hartnäckig haltende Phänomen der Stigmatisierung psychischer Erkrankung. Es ist erfreulich, dass zunehmend Literatur von engagierten Menschen auf den Markt kommt, die sich vom Leid der anderen berühren lassen, ihn als ebenbürtigen Mitmenschen betrachten und nun auch als Experten aus Erfahrung schätzen – seine ureigenen Erfahrungen als Ausgangspunkt für persönliche Entwicklung ahnen.
In diesem Buch wird vermutet, dass eine Depression auch eine Schutzfunktion hat. „Jedenfalls bietet sie auch einen Raum, um uns neu sortieren und verorten zu können.“ (S. 17)
Dem folgenden Kapitel geht auch ein Zitat von Vaclav Havel voran: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.“
Gerade wenn das Thema Eltern – Kinder und psychische Erkrankung ins Zentrum gerückt wird, wird auf die Notwendigkeit eines systemischen Herangehens aufmerksam gemacht. Noch immer sind die Schnittstellen Erwachsenenpsychiatrie und Jugendhilfe problematisch, weil gesondert agierend.
Die Leidtragenden sind immer die Betroffenen. Wenn ein Elternteil psychisch erkrankt, plötzlich verschwindet, dann unter Umständen verändert zurückkehrt in die Familie und allen Schweigen verordnet wird oder aber das Schweigen sich ganz von allein einstellt, wird es besonders für die Kinder schwierig und prägend fürs Leben.
Davon erzählt das Buch sehr eindrucksvoll. Immer wieder wird betont, wie wichtig das Reden ist, der ehrliche Umgang untereinander und möglichst auch nach draußen. Man sollte sich unbedingt die passende Hilfe suchen, auch wenn das oft schwierig ist. Aber auch an die Außenstehenden appelliert die Autorin: „Wer Menschen in schwierigen Lebenslagen helfen muss und will, dessen Beruf erfordert die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und Kultivierung der Fähigkeit zum Mitgefühl. Oftmals spielen staatliche Institutionen Schicksal in den Biografien von Menschen, die aus vielfältigsten Gründen eine Zeit lang hilfsbedürftig sind. Die Brisanz der Krisensituation sowie die Schutzlosigkeit der Betroffenen sollten die handelnden Menschen mit Demut, Respekt und Verantwortungsbewusstsein erfüllen. Die Gefahr des Machtmissbrauchs, der subtilen Anmaßung oder auch nur der schlichten Überforderung besteht und prägt im schlimmsten Fall Schicksale.“ (S. 20)
Eine große Hilfe sehe ich auch im Verständnis der Autorin für Lebenskrisen. Übergänge haben ein enormes Befreiungspotenzial, kann man auf S. 23 lesen. „Unterdrückte Energien, verborgene Wünsche und ungeborene Ideen treten durch den Zusammenbruch plötzlich ans Licht und können sich entfalten. Während dieses Wandels können sich Gedanken und Empfindungen stark verdichten und eine bisher nicht gekannte Intensität annehmen.
Krisen sind Zeiten der Dünnhäutigkeit, die oft auch unangenehme körperliche Begleiterscheinungen mit sich bringen und mitunter als bedrohlich erlebt werden können. In diesen Zeiten müssen wir unser Vertrauen in das uns geschenkte Leben immer neu erringen.“
Dann folgen die Geschichte von Lena (Vom Leben im Irrgarten), von Hanna (Vom Leben ohne Vorbilder), von Linnea (Vom Leben ohne Heimat) und von Milena (Alles hat schon einen tieferen Sinn). Schließlich folgt das Thema, das dem Buch den Titel gibt: Wie auf verschiedenen Planeten. An zehn Erfahrungsberichten kann der Leser eine gewisse Breite zur Thematik erhalten.
Es kann auch zur Falle werden, wenn sich Betroffene Hilfe holen. „Leider kam es zu selten vor, dass sich die Behandelnden ausreichend Zeit für das Erarbeiten von individuellen Lösungen nehmen konnten oder wollten. Dieses Vorgehen führte bei den Betroffenen oft zu einer Selbstzuschreibung als psychisch krank und mündete in einer langfristigen Abhängigkeit von Tabletten sowie in einer Abgabe der Verantwortung für sich selbst, da ja das Gefühl vorherrschte, eine biologisch bedingte Erkrankung sei nur medikamentös behandelbar.“ (S. 145)
Gyöngyvér Sielaff plädiert dafür, „gute Modelle der Zusammenarbeit zu schaffen, die auch andere ermutigen, passende Hilfsangebote frühzeitig in Anspruch zu nehmen.“ (S. 89)
Zum Abschluss fasst die Autorin zusammen, was die Erfahrungsberichte transportieren, was sie selbst in ihrer langjährigen Arbeit zusammentragen konnte. Sie berichtet von den Traumen, die schnelle Lösungen manchmal auslösen: die Sterilisation in der Vergangenheit, der Schwangerschaftsabbruch, der Elternsuizid.
Dem folgen Angebote, wie aus Teufelskreise Engelskreise werden können. „Es braucht eine neue Sprache, um etwas mitteilen zu können, was uns verunsichert und verstört. Um diese finden zu können, ist eine ruhige Situation ohne Angst vor unkontrollierbaren Folgen notwendig.“ (S. 185)
Angebote können therapeutische Gruppenangebote für Kinder sein, in denen sie Kind sein dürfen, „Wurzelarbeit“ – therapeutisch angeleitete Erwachsenenkindergruppen, therapeutisch begleitete Muttergruppen. Voraussetzung sind klare gesetzliche Rahmenbedingungen zur Finanzierung von Präventivangeboten. „Es macht längerfristig nur Sinn, die Familie als System, aus einer Hand zu unterstützen. Was eine Familie angeht, kann nur eine Familie gemeinsam – gegebenenfalls mit Unterstützung – lösen.“ (S. 205)
Daraus ergibt sich nun mit großer Logik das Mitmutterkonzept: Krisenerfahrene Mütter stärken und begleiten krisenerfahrene Mütter. Ein Zitat von Martin Gutl geht diesem Kapitel voran: „Selbst ratlos sein und doch viele beraten können; selber gebrochen sein und doch vielen als Halt dienen; selbst Angst haben und doch Vertrauen ausstrahlen. Das alles ist Menschsein, ist wirkliches Leben.“

Bettina Jahnke, I.d.E.E. e.V.:
Mutter – Seelen – allein
Mutterseelenallein – dieses Wort durchzieht das Buch wie ein roter Faden und hallt auch nach Ende der Lektüre nach. Trotzdem ist „Wie auf verschiedenen Planeten“ ein Buch der Hoffnung. Denn es zielt auf ein zutiefst menschliches Gefühl ab, das uns alle miteinander verbindet:
Haben wir nicht alle eine Mutter?
Haben wir nicht alle eine Seele?
Sind wir nicht alle auf der Suche nach einem erfüllten Leben auf uns allein gestellt?
Gyöngyvér Sielaff, eine Psychotherapeutin aus Hamburg, die seit vielen Jahren Kinder und Eltern begleitet, deren Leben durch seelische Erschütterungen gebrandmarkt sind, hat ein Buch geschrieben über Angehörige. Für Angehörige, Profis und Betroffene. Denn alle sind sie auch Angehörige.
Es ist ein bewegendes Buch, das Familiengeschichten so verdichtet umreißt, dass es einem mitunter die Luft abschnürt.
Es ist ein wegweisendes Buch, mit dem sie die Idee des Mitmutterkonzepts bekannt macht, worin psychiatrieerfahrene Mütter Familien im Ausnahmezustand begleiten.
Es ist ein wunderbar konstruktives Buch, das Teufelskreise benennt, um ihnen Engelskreise gegenüberzustellen.
Familienleben als Teufelskreis? Einige wohlbehütete Leser mag diese Idee vielleicht befremden. Die Familie kennen sie als „sicheren und geschützten Ort“, an dem sie erstmalig verschiedene Rollen für ihr späteres Leben in der Gesellschaft studieren konnten: als Sohn, als Tochter, als Bruder, als Schwester, als Vater, als Mutter.
Und ohne Zweifel sind es die Mütter, denen in der Familie die zentrale Rolle zufällt. Denn sie halten die Familien nach innen zusammen.
Was aber passiert, wenn ein Elternteil dauerhaft erkrankt und die Familie belastet, statt sie zu stützen?
Irmela Boden, selbst Tochter eines psychisch kranken Vaters, beschreibt die Verhaltensmuster von Kindern, die sich diesem Ausnahmezustand dauerhaft anpassen müssen: „ich übte Liebkindsein, meine Schwester versuchte den Trotz, meine andere Schwester verharrte im Kleinsein und mein Bruder entwischte nach draußen.“ Jedes Kind entwickelte seine eigene Überlebensstrategie in einer zunehmend isolierten Familie, die irgendwann zum hermetisch abgeriegelten Zirkus mutierte: „Kein Atemraum, kein Stimmraum, nur Augen überall“.
Göngyvér Sielaff gibt in ihrem Buch Kinder und Eltern eine Stimme, die versuchen, das Unfassbare fassbar zu machen. Menschen, die sehr hart und tapfer daran arbeiten, ihr Leid in Worte zu fassen. Menschen, die sich trotz ihrer verzweifelten Suche nach Nähe und Geborgenheit ein Stück von ihrer eigenen Familie distanzieren müssen, damit ihnen das eigene Leben nicht aus den Händen gleitet.
Zehn Erfahrungsberichte hat Göngyvér Sielaff zusammen getragen. Darin beschreiben Eltern und Kinder von Schuldgefühlen und Selbststigmatisierung, von Wut und Angst, von Sprachlosigkeit und Lähmung.
Eines wird darin schnell deutlich: Krankheit ist kein Freibrief. Für niemanden. Sie befreit kein Familienmitglied dauerhaft von Eigenverantwortung. Vor allem Eltern, die ihre Kinder in ihre Wahnwelten hineinziehen, machen sich schuldig, indem sie gewaltsam die Grenzen der Schwächsten überschreiten. Dennoch ist dies eine Schuld, die sich im Prozess der Reflexion wieder tilgen lässt. Dafür ist die Geschichte von Karl-Heinz Pehe ein beeindruckendes Beispiel, der freimütig einräumt: „Es hat Jahre gedauert, bis mir allmählich dämmerte, was ich unseren Kinder (u.a.), überzeugt von den edelsten Absichten zugemutet habe.“ Trotzdem er nach eigenem Bekunden in manisch-depressiven Phasen seine Kinder schwer traumatisierte, sagt seine Tochter heute: „Mittlerweile empfinde ich diese Zeit als wichtig für mich und für unsere Familie. Ich sehe die Krankheit als von meinem Vater und der Familie bewältigt und verbinde deshalb jetzt viel Positives damit. Angst, selber zu erkranken, habe ich nicht. Ich empfinde die Erfahrungen eher als eine Art Schutz.“
Ein Glücksfall, um den Britta Beckmann diese Familie beneiden wird. Die Psychosen ihrer Mutter führen sie in den „Folterkeller“ ihrer Kindheitserinnerungen: „Eine Welt, die nur aus Misstrauen, Böswilligkeit und Kälte besteht. Als würde sich eine kalte Hand auf meine Haut legen und von innen einfrieren.“
Lena Zieseness ist eine Seelenverwandte, deren Welt ebenfalls durch die wahnhafte Mutter gespalten wird. Es gibt nur noch Freunde oder Feinde. Resigniert schlussfolgert sie: „Ich kann meine Mutter nicht beeinflussen, heilen oder retten. Ich kann nur mich selber retten.“
Eine gesunder Akt des Selbstschutzes möchte man an dieser Stelle meinen, wenn nicht wenig später ihre verzweifelte Kinderseele schreite: „Ich will diese bedingungslose Liebe zurückhaben.“
Britta Beckmann macht diese innere Zerrissenheit nachvollziehbarer, wenn sie ihre eigene Seelenlandschaft näher umschreibt: „Da klatscht auf der einen Seite Abwehr, Hass, Angst und auf der anderen wallt Liebe, Wärme und ein Tochtergefühl, trotzdem.“
„Dies ist die Geschichte gebrochener Herzen und schwieriger Beziehungen. Es ist die Geschichte eines Heilungsprozesses.“ Ausgerechnet Leonie, eine psychosekranke Mutter, findet passende Worte, um der emotionalen Odyssee von Familienangehörigen einen neuen Sinn zu geben: „Mein Leben bis jetzt war ein langer Weg, auf dem ich die einzelnen Teile meines Selbst einsammelte, ordnete und versuchte zu erlösen.“
Die eigene Lebensgeschichte erlösen trotz schier unzumutbarer Schicksalsschläge und Opfergänge - dazu braucht es Zeit.
Zeit, damit die Wunden auf der Seele vernarben können.
Narben, die Hoffnung geben.
Denn die vernarbten Seelen erinnern uns daran, dass Heilung möglich ist.
Es braucht Kraft und Fantasie, um unerträgliches Leid in einer Form zu gestalten, damit es annehmbar wird. Heraus kommen dabei Lebensgeschichten, die in die Tiefe gehen ohne in den Abgrund zu führen.
So schreibt Irmela Boden viele Jahre nach dem Tod ihres psychosekranken Vaters einen ganz besonderen Traum nieder:
„Vor mir leuchtet die Sonne und ich gehe auf sie zu. Dabei bemerke ich, wie der Boden unter mir löchrig wird. Ich erkenne, dass ich in luftiger Höhe auf einem riesigen Baum bin. Entschlossen gehe ich weiter auf das Licht zu, über das spärlicher werdende Astwerk hinweg. Hinaus in die haltlose Luft, nur im Glauben an das Licht.“

Birgit Dorninger-Bergner in: Kontakt 4/2011
Kinder von psychisch kranken Eltern – sie wurden lange Zeit nicht gesehen. (Und damit widerfuhr ihnen von gesellschaftlicher bzw. medizinischer Seite dasselbe, was sie meist auch in ihren Familien erleben mussten: Mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen nicht wahrgenommen zu werden ...) Erst in den letzten Jahren werden sie zunehmend "entdeckt".
Entdecken im Sinne von Sichtbar- und Besprechbar-Machen, das ist auch das Anliegen, das die Psychologin Gyöngyvér Sielaff in ihrem Buch "Wie auf verschieden Planeten" erfüllen möchte. Sie hat dazu zahlreiche Erfahrungsberichte zum Thema gesammelt; von nun erwachsenen Kindern, von Müttern und Vätern.
Wenn eine Familie von einer psychischen Erkrankung betroffen ist, so sind alle Familienmitglieder betroffen. Jedes auf seine Weise, auf seinem eigenen Planeten, um mit Sielaffs Bild zu sprechen. Die gesunden PartnerInnen sind durch die Veränderungen häufig überfordert. "Die Überforderung äußert sich in Schuldgefühlen, aber auch in Ungeduld und in wachsenden Ängsten." (S. 24)
Der erkrankte Elternteil hat mit seiner/ihrer Krise zu kämpfen und zudem mit den Schuldgefühlen, als Mutter/Vater versagt zu haben. Siellaff: "Gerade psychisch erkrankte Frauen erlauben sich hier nicht "sich zu zeigen". Sie suchen verzweifelt und verbissen nach individuellen Lösungen, kämpfen um einen geordneten Alltag, um den Kindern ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. (...) Das Verhängnisvolle daran ist, dass sie damit Gefahr laufen, ihrer Umwelt Argumente zu liefern, um nun auch von ihren Mitmenschen als unfähige und inkompetente Mutter bezeichnet zu werden. So bedingen sich Selbst- und Fremdstigmatisierung in unheilvoller Dynamik gegenseitig und können schicksalhaft die Weichen für das weitere Leben mit den Kindern stellen." (S. 24)
Und die Kinder? "Sie erleben neben den unerklärlichen und unberechenbaren Veränderungen des erkrankten Elternteils meist auch noch das Auseinanderbrechen ihrer Familien und beziehen all diese bedrohlichen Entwicklungen häufig auf sich selbst. Sie fühlen sich schuldig und verantwortlich, entwickeln "Erlösungsfantasien" und sind überzeugt, wenn ihnen nur die richtigen Lösungen einfallen und sie sich in dem von ihnen gewünschten Maße verändern würden, könnten sie die gesamte Lebenssituation ihrer Familie beeinflussen, die erhoffte Gesundung herbeiführen und die Eltern wieder zusammenbringen. Das Misslingen ihrer "Mission" erzeugt die Gewissheit, dass sie versagt haben, und sie beschließen, sich noch mehr anzustrengen, bis hin zu Selbstaufgabe." (S. 25)
Was die Planeten doch oft (unheilvoll) verbindet ist das gemeinsame Schweigen, das nicht darüber und mehr miteinander Reden-Können. Dies verbindet und trennt doch voneinander und vom sozialen Umfeld.
"Wie auf verschieden Planeten" vereint zehn teils verstörende, teils hoffnungsgebende, immer berührende Geschichten von Kindern, Müttern, Vätern.
Das ist zum Beispiel Dörthe, krisenerfahrene Mutter, die sich fragt "welche Mutter "normal" / "normaler" ist: ich mit meiner Krisenerfahrung und Arbeit an mir oder die Mutter ohne Krise, ohne Arbeit an sich, mit ihren (unbemerkten) "Fehlverhalten"? (S. 55) Oder Leonie, die ihren kleinen Sohn für einige Jahre zu Pflegeeltern geben musste und die heute sagt: "Erst der radikalere, äußere Schnitt zwischen meinem Sohn und mir sollte dann den Weg zurück zu mir ermöglichen." (S. 65)
Karl-Heinz schildert seine Erfahrung als psychiatrieerfahrener Vater. "Entscheidend wichtig erscheint mir dabei, dass psychiatrieerfahrene Menschen in der Elternrolle nicht nur Probleme machen, sondern immer auch Teil der Lösung sind. Ich sage das auch eigener Erfahrung und kenne auch andere Betroffene, die gelernt haben, trotz ihrer Krisen wieder gut Eltern für ihre Kinder zu sein."(S. 88)
Britta beschreibt ihren Kampf, neben ihrer paranoiden Mutter eine eigene Wahrnehmung zu finden, sich selbst zu vertrauen und trotz ausreichend Distanz nahe sein zu können. Sie beschreibt ihre ambivalente Gefühlswelt so: "Ich war mal ganz im Norden Dänemarks, in Skagen, dort treffen die Nord- und die Ostsee aufeinander. Man kann richtig die Grenze zwischen den zwei Gewässern sehen. Beide Meere sind vom Wesen her komplett unterschiedlich, wie zwei Pole: die Nordsee wild und rau, die Ostsee gemütlich schlammig - und doch liegen sie dicht beieinander. Ich fühle mich manchmal wie diese Grenze. Da klatscht auf der einen Seite Abwehr, Hass, Angst und auf der anderen wallt Liebe, Wärme und ein Tochtergefühl, trotzdem. Zwischen den Meeren liegt eine Ruhe, das ist der Unterschied zu mir." (S. 115)
"Wie auf verschiedenen Planeten" - nach der Lektüre der einzelnen Erfahrungsbericht erscheint der Buchtitel äußerst zutreffend. Wie auf verschieden Planeten bewegen sich die betroffenen Kinder, Mütter, Väter. Jede und jeder würde die Geschichte der Familie ganz anders erzählen. (Einige Male frage ich mich beim Lesen: Wie würde wohl die erkrankte Mutter das Geschehene schildern? Was würde wohl der Sohn darüber erzählen?) Jeder dieser Planeten hat seine eigenen Bedürfnisse, Gefühle, Sichtweisen, Gedanken. Und wie wichtig und befruchtend ist es doch, wenn die Planeten einander ein wenig näher kommen können. Wenn über die Erkrankung gesprochen werden kann, ob nun miteinander oder mit außen stehenden Vertrauenspersonen - das wird in allen Berichten deutlich.
Im letzten Teil des Buchs stellt Sielaff einige Projekte für Kinder psychisch erkrankter Eltern und auch für Mütter mit Psychiatrieerfahrung vor. In all diesen Projekten geht es letztlich darum, aus der Isolation des eigen Planeten zu kommen und mit anderen in Kontakt zu treten. Darüber zu reden mit Menschen, die ähnliches erfahren. Ob das nun die Volksschulkinder sind, die beim Kekse Knabbern miteinander darüber reden können wie das war, als Rettung und Polizei Mama oder Papa geholt haben. Oder die erwachsenen Kinder, die einander mit einer Art Geschwistersolidarität unterstützen. Oder die krisenerfahrenen Mütter, die sich gegenseitig Geduld und Wertschätzung zusprechen. Miteinander reden, aus der Isolation und dem Schweigen in ein Miteinander-Kommunizieren zu kommen - das durchbricht laut Sielaff den Teufelskreis des Schweigens und setzt ihm einen heilsamen "Engelskreis" gegenüber.
Das in meinen Augen Wertvolle an diesem Buch ist, dass diese verschiedenen Planeten, auf denen sich Eltern und Kinder bewegen, erlebbar und auch besser verstehbar werden. Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder -- sie bleiben letztlich verschiedene Planeten. Und das ist auch gut so, denn es geht auch um das Wahrnehmen von: "Ich bin ich selbst." Doch die Planeten können lernen miteinander zu tanzen, einander zu kreisen, vielleicht einander näher zu kommen.

Astrid Nelle in: P & S:
Betroffene als Experten
Schon dem einfühlsamen, differenzierten Vorwort der bekannten Kinderbuchautorin Kirsten Boie wünscht man viele Leser. Boie macht auf die Einsamkeit gerade der Kinder psychisch Kranker aufmerksam („mit Kindern redet ja keiner“) und stimmt auf die zehn bewegenden Erfahrungsberichte Betroffener ein.
Die aus Ungarn stammende und in der Sozialpsychiatrischen Psychoseambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf arbeitende Gyöngyver Sielaff ist Dipl. Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Leiterin von „EX–IN“ („Experienced–Involvement“), einem Projekt, bei dem es um die Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen geht. Im Bewusstsein, „dass eine existentielle und lebensbedrohliche Erkrankung immer eine seelische Erschütterung der gesamten Familie bedeutet“, Kinder psychisch Kranker jedoch von Kliniken und Jugendämtern „immer noch nicht selbstverständlich genug als Teil ihres Familiensystems betrachtet“ werden, hat Sielaff ihr sensibilisierendes Buch geschrieben: „Das Wesentliche über seelische Erschütterungen habe ich von den Müttern und Vätern, diesen Experten ihre Erfahrung, und von ihren Kindern, den Experten des Miterlebens, gelernt.“ Neben ungeheurem Leid, Verwirrung, Einsamkeit, Ohnmacht, Wut, Scham und Schuld kommen in den Erfahrungsberichten psychotisch erkrankter Eltern und ihre heute meist erwachsenen Kinder auch ihre Tapferkeit, Resilienz sowie die Hoffnung und das Heilungspotenzial zum Ausdruck, das sich entfalten kann, wo das Schweigen gebrochen wird und Nöte und Hoffnungen auf beiden Seiten verstanden werden.
Die Patientengeschichten muten dem Leser viel zu: Von verhinderter Mutterschaft durch Zwangssterilisierung und Abtreibungen wird da berichtet, vom Suizid eines Elternteils und anderen extrem schmerzhaften Erfahrungen. Aber sie müssen erzählt werden. „Die qualvolle Sprachlosigkeit der Psychiatrie setzt noch heute Teufelskreise des Schweigens in Gang, die zu schamvoller und verzweifelter Isolation führen können.“ Dagegen geschieht immer wieder Heilsames dadurch, dass Betroffene ihre Sprachlosigkeit überwinden, sich Menschen, die Ähnliches erlebt haben, öffnen und so einen „Teufelskreis“ in einen „Engelskreis“ verwandeln. Vorgestellt wird in diesem Zusammenhang das „Mitmutterkonzept“, in dem krisenerfahrene Mütter andere krisenerfahrene Mütter begleiten und stärken; dem dienen die sog. EX-IN-Kurse, die aus Betroffenen „Genesungsbegleiterinnen“ machen. Hier lernen Menschen, dass die Erkrankung auch Chancen zur Weiterentwicklung birgt, selbst wenn keine Symptomfreiheit erreicht werden kann. Sielaff hat bereits verschiedene Projekte zur Unterstützung Psychiatrieerfahrener und ihrer Familien ins Leben gerufen. Gerade eine institutsübergreifende Arbeit wie die des Mitmutterkonzepts ist bisher aber leider nur im Rahmen gesondert geförderter Modellprojekte möglich. Sielaff setzt sich – auch mit diesem Buch – dafür ein, auf allen Ebenen, von Kinderärzten bis zur Universität, Therapieerfahrene zur Entlastung, Begleitung und Förderung seelisch Erkrankter einzubeziehen, wovon beide Seiten profitieren, die Genesen(d)en und die gerade Erkrankten.
Ein gut zu lesendes und bewegendes Buch, das für eine auf Verständnis, Achtung und Beziehung ausgerichtete Psychiatrie wirbt, aber auch jedem anderen empfohlen werden kann, der seelsorglich, ärztlich oder therapeutisch arbeitet und bereit ist, sich auf die Not psychotisch Erkrankter und ihrer Familien einzulassen und so die Gestaltung eines menschenwürdigen Gesundheitswesens mit voranzubringen.


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