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Brückenschlag Band 12, 1996

Leseprobe

Gabriele Löffler

Carpe Diem

Jeden Morgen um halb neun warte ich auf den kleinen Zug nach Tübingen. Ich bin noch müde, wie immer seit meiner Erkrankung. In meinem Gehirn kreisen Worte eines jungen russischen Schriftstellers aus dem Gulag: "In jedem Antlitz auf der Lagerstraße begegnete mir das deine, Herr." Ich denke mir, so schreibt nur, wer dem Himmel nahe, dem Sterben nahe ist. Ich kenne diese Sprache.
"Achtung auf Gleis zwei. Der Eiltriebwagen nach Tübingen hat Einfahrt. Bitte Achtung auf Gleis zwei", verkündet der Lautsprecher wie auf einem Flugplatz, obgleich es hier nur zwei Gleise und drei Beamte gibt. Die Menschen, oder besser die Figuren, denn die Zeit ist vorüber, in der ich mich immer auf das Menschliche bezog, die zwanzig Figuren auf dem Bahnsteig also drängen zu den Türen und steigen ein. Ich bin froh um einen Sitzplatz, bin müde und suche den Namen des russischen Schriftstellers. 33 Jahre war er alt, als er starb. Das tägliche Pendeln bin ich noch nicht gewohnt. Noch ist mir der Nahverkehr zu schnell. Ich möchte innehalten im Neckartal, möchte mich freuen auf das Tübinger Schloß, wie früher, als ich von weither kam. In der Zeit, in der ich Heimat empfinden konnte, also vor meiner Erkrankung.
Da ist Tübingen. Ich eile zur Tagesklinik, frierend, wie immer seit meiner Erkrankung. In der Neckargasse wickle ich mich fester in meine Jacke und denke irgendwann, daß das ein Frieren von Innen ist, daran kann meine Jacke nichts ändern. In der Tagesklinik gibt es Kaffee. Den ersten des Tages. Die erste Veranstaltung ist eine Hausversammlung, die kürzer ist als ein Augenblick, so daß es scheint als setze man sich und stehe wieder auf – das war’s dann schon. Einen schönen Tag. Wieder Kaffee vor dem umfangreichsten Teil des Morgenprogramms, der Beschäftigungstherapie. Ich sitze in der Nähstube und fertige zwei Stunden lang Kissen in Patchworktechnik an. Eines um das andere wird fertig in immer neuen Farben und Mustern. Ich habe mein Leben lang genäht. Neben der Schule in der Freizeit, im Studium an Wochenenden. Abgrenzungskämpfe mit meiner Mutter tobten um Schnittmuster und Nähmaschine. Jetzt denke ich beim Nähen ständig über meine Erkrankung nach, suche Erklärungen dafür, finde keine – wieder ist ein Kissen fertig. Ich darf neuen Stoff heraussuchen, was mir Freude macht.

Kaffeepause (steht auf dem Stundenplan). Ich flüchte aus der Raucherecke in meinen Ruhesessel. Bei den Rauchern ist es mir zu laut und zu verqualmt. Ich lächle über mich Zauberfigur im Ruhesessel einer Villa des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ich blinzle durch die Butzenscheiben und denke über soziale Fragen jener Zeit nach. Ich könnte auch meine eigene soziale Lage bedenken, doch kann ich diese immer noch nicht ganz begreifen. Ich staune, wie viel die Krankheit zerstört hat, wie schlimm sie war. Wie müde und dankbar bin ich morgens um elf in meinem Ruhesessel. "Sie waren krank", sagen alle, und ich mir immer wieder: "Ich bin tatsächlich krank gewesen." Ich muß meinen Ruhesessel verlassen zu einer der vielen Besprechungen, die zwar gut gemeint und ein Anlaß zum Reden sind, mir meine Müdigkeit aber nur noch deutlicher zeigen. Danach brauche ich dringend eine Portion Kaffee, während wir auf das Mittagessen warten.
Dann komme ich endlich, endlich zum Schlafen. Ich träume manchmal ein wenig von den alten Bäumen draußen, von dem Teich und möchte nichts anderes hören und sehen und vor allem von allem nie etwas erfahren haben, das mit Krankheit zu tun hat. Aufwachen mit: "Komm, es war wie ein Traum." Aufstehen und zur Arbeit gehen. Ich fahre hoch, Blick zur Uhr, die Gesprächsgruppe wartet. Das ist die schwierigste Stunde des Tages: zehn Menschen, die sich eigentlich nichts zu sagen haben, da alle ohnehin etwa wissen, was keiner nochmals erfahren will. Trotzdem soll man reden jeden Tag in der Woche eine Stunde lang. Es sit fast unmöglich. Die Stunde liegt irgendwo zwischen Schweigemeditation, Tränen, Aufmunterung und Gespräch. Sie ist sehr anstrengend und eigentlich eine einzige good-will Aktion.
Danach gibt es den verdienten Kaffee vor einer künstlerischen Stunde, Malen, Tonen oder Bewegungstherapie. Eine Stunde noch denke ich und freue mich auf das Ende des Tages wie auf den Abschluß von Schulstunden. Irgendwie erinnert mich die Tagesklinik am ehesten an Schule, was sie am wenigsten sein will. Wie das wohl kommt? Um 16 Uhr eile ich zum Bahnhof. Bald fährt mein kleiner Zug zurück. In Rottenburg am Bahndamm grüßen zwei goldgelbe Löwenzahnblumen.


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