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Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?

Leseprobe

Vorwort der Herausgeber:

Inklusion kommt.

So wollten wir das Vorwort für dieses Buch beginnen lassen – vor drei Monaten. Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen gehören die Grundsätze einer inklusiven Teilhabe behinderter Menschen zum state of the art einer zeitgemäßen Politik für Menschen mit Behinderung. Das wollten wir gerne glauben – bei aller Skepsis, ob die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung dies selbstverständliche Paradigma wirklich umsetzen wollen und ob die ökonomische Krisensituation dieses überhaupt erlaubt.

Jetzt, knapp drei Monate, später, müssen wir feststellen, unsere Skepsis, ob Inklusion vom politischen System wirklich gewollt wird, ist deutlich größer geworden:
– Der Bundesaußenminister betätigt sich als sozialer Brandstifter, um die Umfragewerte seiner Partei zu retten, und diffamiert viele Millionen Menschen, die unser Wirtschaftssystem ausgegrenzt hat.
– In Schleswig-Holstein gibt es Absichtserklärungen sowohl vons Seiten der Kommunen, als auch vom Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Landtag, bei den 5600 Millionen Euro, die derzeit jährlich für die Teilhabe behinderter Menschen ausgegeben werden, 100 Millionen Euro einzusparen.
– Immer wieder ist aus Kreisen der „Koordinierungsstelle soziale Hilfen“ der schleswig-holsteinischen Kreise, aber auch von denr sozialpolitischen Experten der der FDP-Fraktion, zu hören, Wahlfreiheit und Vielfalt des Angebots seien zwar schön und gut, aber leisten könne man sie sich nicht mehrdies könne man sich nicht mehr leisten. Große Einrichtungen seien eben wirtschaftlicher.
– Bei dem verzweifelten Versuch den schleswig-holsteinischen Landeshaushalt zu sanieren, geraten immer wieder die Zuwendungen in den Fokus, die der Aufrechterhaltung einer sozialen Infrastruktur dienen: AIDS-Hilfen, Schuldnerberatungsstellen, Begegnungsstätten, Betreuungsvereine, Kindertagesstätten, Familienbildungsstätten und so weiter. Übrigens Aalles Angebote, bei denen bürgerschaftliches Engagement in erheblichem Umfang unmittelbar in die Arbeit zumindest aber beim Träger in einem erheblichen Umfang bürgerschaftliches Engagement eingebunden ist.
– Ein Bundesaußenminister, betätigt sich als sozialer Brandstifter, um die Umfragewerte seiner Partei zu retten, und diffamiert viele Millionen Menschen, die unser Wirtschaftssystem ausgegrenzt hat.

Diese Liste alarmierender aktueller Entwicklungen ließe sich sicher noch reichlich fortsetzen. Deutlich wird, dass Werte wie Solidarität, Gastfreundschaft, Teilhabe, Bürgerengagement, Selbstbestimmung in der derzeitigen Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich sind. Aber genau diese Werte müssen gestärkt werden, wenn Inklusion für Menschen mit Behinderung möglich sein soll.

Trotzdem wir halten wir daran fest: Inklusion kommt, wenn genügend Menschen sie wollen. Aber auch die Sorge der an diesem Buch BeteiligtenAutoren bleibt: Wwas kommt dabei raus, wenn nur PPolitik und Verwaltung definieren, was sie unter Inklusion verstehen?

Zurzeit besteht durchaus die Gefahr, dass das Paradigma Inklusion missbraucht wird, um Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung zu reduzieren und um so die Kosten des Sozialstaates zu senken. Es passt ja durchaus in den neo-liberalen Zeitgeist (von dem vielleicht mittlerweile nur noch ein Gespenst übrig geblieben ist), der Gemeinschaft die Verantwortung für „ihre“ Menschen mit Behinderung zurückzugeben und die Teilhabeleistungen möglichst weitgehend dem Bürgerengagement zu überlassen.

Es ist notwendigbesteht aber auch die Chance, den derzeitigen Zustand unserer Gesellschaft unter der Fragestellung zu untersuchen, mit der Frage, ob er Inklusion behindert oder befördert. Inklusion, die ja nicht mehr und nicht weniger s anderes bedeutet, als dass Menschen in ihrem Anderssein ihren selbstverständlichen, gleichberechtigten Raum in der Gesellschaft finden, stellt die Frage nach der Art und Weise, wie wir in dieser Gesellschaft leben wollen. Eine Frage, die angesichts von Finanz-, Wirtschafts-, und diverser andererr Krisen vielleicht den Tatsachen unseres Lebens m Zeitgeist viel näher ist als alle neoliberalen Antworten. Deutlich wird jedenfalls, dass Inklusion sich nicht umsetzen lässt mit einer Sozialpolitik, die sich nur als Armuts- und Nachteilsverhinderungspolitik versteht. Der Streit darüber, wie Inklusion sich entwickelnumsetzen lässt, macht mal wieder einmal mehr deutlich, dass Sozialpolitik, die sich nicht als Gesellschaftspolitik versteht, zu kurz greift. In der Inklusionsdebatte Es geht es um den qualitativen Wandel des Miteinanders und nicht um die quantitative Veränderung der finanziellen Transfers.

Genau die SorgeW, was kommt dabei raus, wenn das Paradigma Inklusion in der Politik für Menschen mit Behinderung Raum greift –, der kurze Sprung in die Sparfalle der Finanzpolitik oder der große Sprung zu den gesellschaftspolitischen Fragen, wie wollen wir das Miteinander in dieser Gesellschaft künftig gestalten? – genau diese Diskussion, treibt die Herausgeber, die und Autorinnen und Autoren dieses Buches um. Alle Autorinnen und Autoren sind überzeugte Verfechter des inklusiven Grundgedankens: Menschen mit Behinderung sind gleichberechtigte und selbstbestimmte Bürger dieses Landes. Aber alle sindsie sind auch erfahren genug, um zu wissen, dass mit Begriffen regelhaft unterschiedliche Interessen verbunden sind und mit wohlklingenden Worten auch Missstände kaschiert werden könnenbegriffliche Welten immer wieder gegen den Strich gebürstet werden müssen, um ein Bild von der wirklichen Welt zu bekommen.

In diesem Sinne ist dieses Buch kein Beitrag zur Kritik des Paradigmas Inklusion, sondern ein Beitrag zur Kritik des Missbrauchs des Paradigmas für unlautere Zwecke.

Dass Inklusion den Bezug auf ethische Werte und Orientierungen braucht, macht Andreas Lob-Hüdepohl in seinem Beitrag deutlich. Die Menschenrechtsorientierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geht aus seiner Sicht über die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen hinaus. Sie verlangt die Bereitschaft, das, was behinderte Menschen zur Vielfalt und Lebendigkeit einer Gesellschaft beitragen, wertzuschätzen.

Auf die UN-Konvention bezieht sich ebenfalls Michael Wunder. An ihr verdeutlicht er die Unterschiede der Paradigmen Integration und Inklusion. Auch er weist auf die Notwendigkeit hin, Inklusion ethisch zu fundieren. Mit der Care Ethik hat er ein ethisches Konzept gefunden, das die Achtsamkeit als notwendiges Korrektiv zur alleinigen Betonung der Selbstbestimmung einführt. Mit Hilfe der Care Ethik gelingt es ihm, die Asssistentenrolle der Professionellen zu reflektieren.

In seinen zehn Thesen gelingt machtes Klaus von Lüpke fast spürbar zu machen, wie die Kultur einer Gesellschaft sich ändert, wenn es gelingt, Inklusion – als Wiedererlangung des Sozialen – zu verwirklichen.

Georg Theunissen warnt davor, bei aller Begeisterung für das Konzept Inklusion, die Wirklichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. An fünf Schlüsselproblemen zeigt er auf, wie wichtig es ist, Inklusion in der Praxis kritisch zu reflektieren, damit sie nicht zu einer Leerformel wirdgerinnt.

Dass der Diskurs zur Inklusion eng verbunden ist mit dem Diskurs über Bürgergesellschaft und bürgerschaftliches Engagement stellt Holger Wittig-Koppe herausfest. Inklusion braucht die Auseinandersetzung darüber, wie wir miteinander zusammenleben wollen. Aber ebenso wie Inklusion ist bürgerschaftliches Engagement bedroht, neoliberal als staatliches Sparkonzept missbraucht zu werden. Er setzt dagegen, Inklusion zu einer Strategie sozialer Arbeit zu machen, die Bürgergesellschaft bewusst als streitbaren Gegenentwurf zu neoliberalen Konzepten aufnimmt.

Auch Ingmar Steinhart ist sich der Gefahr bewusst, dass Inklusion eine vergängliche Worthülse bleiben kann. Er beschreibtversucht die Herausforderungen zu beschreiben, denen sich sowohl die Leistungsträger als auch die Leistungsanbieter stellen müssen, ebenso wie die ihre politischen „Überbauten“ in der kKommunale Ppolitik und dien Verbänden der freien Wohlfahrtspflege.

Während Steinhart versucht, pragmatisch Vorschläge zur Umsetzung des Inklusionsparadigmas zu machten, verweisen Jürgen Schiedeck und Martin Stahlmann auf die neoliberalenn Inklusionsfallenn. Wenn Inklusion nur die Anerkennung der individuellen Verschiedenheit einfordert, öffnet sie sich unreflektiert einem neoliberalen Denken, das Individualisierung verbindet mit Deregulierung und dem freien Spiel des Marktes.

Den Blick auf den europäischen Diskurs zur Inklusion öffnen Birgit Görres und Christian Zechert in ihrem Beitrag. Sie berichten über einige Projekte in Nachbarländern, die zum Ziel haben, Tabus, Stigmata und Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen zu verringern.

Mit dem Beitrag von Doortje Kal bleiben wir noch einen Augenblick in einem europäischen Nachbarland. Unter der Überschrift „Sehnsucht nach Sichtbarkeit“ Sie betont sie die besondere Bedeutung einer kulturellen, künstlerischen Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behinderung für die Entwicklung einer gastfreundlichen Gesellschaft. Eindrucksvolle Beispiele sind hierfür die Kwartiermakersfestivals in den Niederlanden.

Inklusion kann nur gelingen, wenn Organisationen der Sozialpsychiatrie und der Behindertenhilfe in sich selbst eine inklusive Kultur leben. Wie diese inklusive Kultur in einer Organisation entwickelt wird, zeigt Fritz Bremer in seinem Beitrag auf. Öffnung in den Sozialraum kann nur erfolgreich gelingen, wenn trialogische Arbeit und Mitwirkung der NutzerInnen die selbstverständliche Grundlage für neue soziale Erfindungen bilden.

Dass der Sozialraum aber nicht das heile Wohnzimmer ist, in das nun auch Menschen mit Behinderung eintreten dürfen, macht Sandra Landhäußer deutlich.
Unter Verweis auf empirische Untersuchungen stellt sie fest, dass gerade sozial benachteiligte Menschen im Gemeinwesen am wenigsten über soziales Kapital verfügen. Damit entsteht die Gefahr, dass bei dem Verweis auf informelle Netzwerke soziale Ungleichheit verschleiert wird.

Ernst von Kardorff wendet sich einem zweiten für Inklusion wichtigen gesellschaftlichen System zu: der Erwerbsarbeit. Er warnt davor, Teilhabe am Arbeitsleben allein auf die Teilhabe an Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt zu reduzieren. Er verweist auf die vielfältigen Formen von gesellschaftlichen anerkannten Tätigkeitsformen in zivilgesellschaftlichen Projekten und Initiativen, die auch für Menschen mit Behinderung gesellschaftliche Teilnahme ermöglichen.

In ihrem abschließenden Beitrag nimmt uns Nachdem in allen Beiträgen sich Professionelle so ihre Gedanken gemacht haben zur Inklusion und ihren Widersprüchen, reflektiert in dem letzen Beitrag des Buches Sibylle Prins als unsichtbare Beobachter mit zu einem Treffen von Psychiatrie-Erfahrenen, die – durchaus vielstimmig – ihre Assoziationen und Erlebnisse zum Begriff „Teilhabe“ austauschendie Schwierigkeiten der Diskussion um Teilhabe für Psychiatrie-Erfahrene.

Ans Ende des Buches haben wir die Stellungnahme der SOLTAUER INITIATIVE „Moralisch aufwärts im Abschwung? – UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Kontext von Sozial- und Wirtschaftspolitik“ gestellt, weil wir der Auffassung sind, dass die Stellungnahme noch wesentlich mehr Beachtung verdient und weil sie aus unserer Sicht für alle in diesem Buch versammelten Beiträge eine gute Klammer ist.

Wir würden uns freuen, wenn dieses Buch zur notwendigen Auseinandersetzung um die Entwicklung von Inklusion beiträgt, ohne Widersprüche vorschnell zu entschärfen und Unebenheiten zu glätten. Unser Interesse liegt dabei nicht im ideologisierenden Gebrauch des Begriffes, sondern in der konkreten, differenzierten Arbeit an Alltagsfragen. Die Realisierung von Inklusion kann nur dann gelingen, wenn der Widerstreit um sie lebendig ausgetragen werden kann.

Holger Wittig-Koppe für die Herausgeber


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