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Psychiatrisches Alphabet

Leseprobe

Vorwort von Maria Rave-Schwank

In diesem Psychiatrischen Alphabet buchstabiert Wolfgang Werner wichtige Wörter mit kurzen, überraschenden Geschichten. Überraschend, weil die gängigen Erwartungen in den Geschichten nicht erfüllt werden: der Fremde, „Xenos“, ist schließlich der Gebende, der sein Butterbrot verschenkt. Manchmal finden die Schwachen eine Lösung (“Elfmeter“), manchmal die Stärkeren („Durchhalten“). „Die Starken können auch einmal die Schwachen sein, sie sind ebenfalls für Hilfe dankbar“, mahnt uns der Autor bei der „Begleitung“. Der Buchstabe U erzählt bei einer Hochzeitsrede nicht über die vollkommene Liebe, sondern über die Unvollkommene Liebe, die Freiheit erstrahlt neu bei einem kleinen Spiel in der Berghütte, und das Ich, das lang gesuchte und viel diskutierte wird in einem Satz am Bauzaun einfach klar – um nur einige Beispiele zu nennen.
Es sind dichte, kunstvolle Situationen, die verwundern, die mich zum Nachdenken und Nachlesen auffordern und manchmal vieldeutig bleiben, wie es der Dichtkunst zusteht (Ist der Trainer der Aufrichtige, der dem Patienten Hoffnung macht? Wann schlägt die Ungewissheit bei Kurt Valentin, der Hauptperson, um in panische Angst? Wird das Fußballspielen unwichtig, nachdem er Todesangst erlebt hat?).
Erst unter dem Buchstaben W outet sich der Autor als Kurt Valentin, das literarische Ich. Dieser autobiografische Aspekt des Büchleins wirkt auf mich ermutigend. Indem der Leser dem Autor zuhört und ihm Glauben schenkt, gewinnt er Mut, sich auch selbst als einer zu zeigen, der unvollkommen, der verletzt oder krank ist. „Zeige deine Wunde“, sagt Joseph Beuys; und „das muss nicht schaden“, könnte Wolfgang Werner draufsetzen.
Es ist ein radikal subjektives Alphabet mit menschlichen und psychiatrischen Tugenden (z.B. „Aufrichtigkeit“, „Nachfragen“, „Treue“, „Dabeisein“, „Ordnen“, „Qualität“) und Notwendigkeiten (z.B. „Hunger“, „Sexualität“, „Psychopharmaka“, Sterben). Ergänzungen oder Hinweise auf fehlende Notwendigkeiten (z.B. Geld, Tätigkeit) und Tugenden (z.B. Lob/ Kritik-, Zorn) sind also kaum am Platz.

Von den vielen Möglichkeiten, die diese paradoxen Geschichten in sich bergen, will ich wenigstens drei anführen.
Zuerst: es ist ein Buch, das Routine hinterfragt. Es wird deutlich, wie Routine am Patienten vorbeigehen kann (z.B. in der beschriebenen Chefvisite in „Elfmeter“: ein geplanter und wichtiger Teil des Tages wird „durchgezogen“, obwohl die Situation eine spontane Änderung verlangt hätte. Erst ein „Zwischenfall“, das Elfmeterschießen einer Patientin mit der Blumenvase, holt die Beteiligten aus der Routine in die Gegenwart der Station.
Im Abschnitt „Mensch“ werden die ICD 10 Diagnosen-Gruppen versuchsweise in Alltagssprache übersetzt und klingen dabei weniger kränkend als das Vokabular der Psychiatrie. Überhaupt und in allen Buchstaben-Geschichten werden Sprache und Verständlichkeit ernst genommen. Der Leser erfährt darin Wertschätzung und Geschwisterlichkeit, „fraternite“.

Und schließlich: Kunst und Psychiatrie können sich gegenseitig nützen. „Kunst“ ist in der Geschichte Werners der geschenkte halbe Satz, die Situation verdichtend. Kunst im Alltag der Psychiatrie kann ein Wort sein, das den andern auf sich oder auf die Welt hinweist, die es auch noch gibt (außer dem eigenen Leid), ein Gedicht, ein Herbstblatt, das vom Sterben erzählt, der Hinweis auf eine gute Fernsehsendung, ein Buch, eine Postkarte.

Die schwarz-weißen Fotos verstärken diese Offenheit gegenüber der Kunst. Sie bieten dem Leser Bilder aus einer sich ändernden Natur an, durch die wir verlangsamt blättern können, nachdenken, vorlesen, nachschauen, nachlesen zum Beispiel bei Büchners Lenz, der in der Vogesen-Landschaft auch in diesem Buch präsent ist. Und wer unsicher ist, wo anfangen, dem rate ich zur „Qualität“, einfach wunderbar.


F wie: Freiheit

Es ist Samstagabend, als Kurt Valentin in dem kleinen Vogesendorf ankommt. Am nächsten Morgen verlässt er schon früh das Gasthaus, um den Berg hinaufzusteigen. Kurt Valentin läuft dort oben stundenlang durch den Schnee, immer den Horizont vor Augen. Der Himmel scheint in die Erde überzugehen. Oder umgekehrt: Die Erde in den Himmel. Oder umgekehrt. Kurt Valentin freut sich an dem Schaukelspiel seiner Gedanken. Als es dunkel wird, sieht er eine Hütte auf der Anhöhe. Als er sie erreicht, ist es Nacht.
Mit ihm ist ein anderer gekommen, ein junger Mann mit langen blonden Haaren. Die beiden setzen sich an den einzigen Tisch, auf dem eine Lampe brennt. Sie berichten sich, wie sie gegangen sind. Der Wirt tritt zu ihnen und schlägt ein Spiel vor: der Jüngere soll mit geschlossenen Augen einen Buchstaben in der Zeitung ankreuzen, der Ältere dazu ein Wort nennen, der Jüngere dann eine Geschichte erzählen. Der Blonde kneift die Augen zu und trifft ein F. „F wie die Freiheit”, ruft Kurt Valentin, der gerade an seinen Weg auf dem weiten Schneefeld denkt. Der andere schaut unter sich. Sein Gesicht wird blass.
Dann richtet er sich auf: „Doch, ich weiß eine Geschichte, meine Geschichte. Mit drei Jahren bin ich ins Kinderheim gekommen, mit 15 in die Jugendstrafanstalt. Seit Mittwoch bin ich frei.”
Am nächsten Morgen gehen die beiden zusammen den steilen Anstieg hinauf bis zum Gipfel, von wo sie auf die Ebene hinabsehen können. Der Wind bläst ihnen die Haare aus den Gesichtern, und ihre Gedanken gehen, wohin sie wollen.


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