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Angehörige sind Erfahrene

Leseprobe

Fritz Bremer

Vorwort

Angehörige psychisch erkrankter Menschen haben so viel zu erzählen. Sie haben etwas zu sagen. Aber wo ist ihr Wissen aufgeschrieben und nachzulesen? Wo wird es wirklich zur Kenntnis genommen?
Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns seit Jahren. Konkreter wurde es 2012. In der Zeit, als Hartwig Hansen an dem Buch „Der Sinn meiner Psychose“ arbeitete, sprachen wir über die Idee, ein „Angehörigenbuch“ herauszugeben, das anders sein sollte als die bisherigen im Paranus-Verlag: Eine Sammlung verschiedener Beiträge, vieler verschiedener Erfahrungen. Noch verliefen unsere Gespräche zaghaft und sehr skeptisch abwägend. Mich beschäftigte das Thema sehr und immer mehr – u.a. wegen meiner eigenen Erfahrungen in meiner Familie.
„… Die vielfältigen Erfahrungen von Angehörigen sind noch gar nicht richtig entdeckt. Sie sichtbar zu machen, wäre eine Bereicherung für alle Beteiligten und ist der Vollständigkeit wegen auch notwendig. Auch in den Trialog-Seminaren kommt ihr Wissen nicht ausreichend zur Geltung. Mir scheint, die Angehörigen kommen nach all der Reformarbeit, nach all den Trialog-Veranstaltungen nicht mehr, sondern eher weniger vor.“
„Das ist wahrscheinlich zutreffend. Andererseits – wir kennen doch beide die ernüchternden Erfahrungen mit unseren Angehörigenbüchern. Und du sagst es ja selbst. Man muss doch die Frage stellen: Wer will das lesen? Wollen 'Profis' und 'Psychiatrie-Erfahrene' tatsächlich etwas von den Angehörigen wissen? Und die Angehörigen kennen ihre eigenen Geschichten und die der anderen in den Angehörigengruppen. Wollen sie selbst das alles noch mal lesen? Wer sucht so ein Buch? ...“
Auf diese Fragen fanden wir vorerst keine Antworten. So ging das Gespräch zwischen Hartwig Hansen und mir über Monate hin und her.
Unter anderem Dorothea Buck half uns auf die Sprünge. Wir erzählten ihr von der Idee, eine Buchreihe zu machen: Psychoseerfahrene Menschen berichten, depressionserfahrene Menschen berichten, stimmenhörende Menschen, Angehörige berichten, Kinder psychisch erkrankter Eltern ...
Die Erfahrungen mit „Der Sinn meiner Psychose“ seien doch mehr als ermutigend. Dorothea Buck fand, das sei eine sehr gute Idee: „Eine Reihe von Büchern, um das Erfahrungswissen zu betonen. Das solltet ihr unbedingt machen.“
Anfang 2013 wurde ich eingeladen, ein Referat für die Bundestrialog-Tagung zu schreiben. Während der Arbeit daran rückte ein Anliegen immer mehr in den Vordergrund: das Besondere und ganz Eigene der Erfahrungen der Angehörigen deutlich zu machen. Klarzustellen, dass sie nicht irgendwie „Miterfahrene“ oder vor allem „Mitleidende“ sind, sondern in ihrem Leben eine eigenständige, sehr genau wahr- und ernst zu nehmende, zu respektierende Erfahrung machen. Es ging mir darum, zu sagen: „Angehörigen-Erfahrungen“ müssen gehört werden. Sie sind wichtig für „Profis“, für „Psychiatrie-Erfahrene“ und auch für andere Menschen, die mit Psychiatrie gar nichts zu tun haben. Angehörige können zum Beispiel darüber berichten, wie das ist, wenn man unerwartet und unvorbereitet vor einer völlig neuen und schwer beunruhigenden Situation steht. Sie können erzählen, wie sie lernten, mit dieser Herausforderung umzugehen ...
Und was ist eigentlich mit „Profis“, die zugleich „Angehörige“ sind? Wo und wie kann ihr besonderes Wissen fruchtbar und konstruktiv werden? Das Referat „Angehörige sind Erfahrene“ erschien später in „Soziale Psychiatrie“ Heft 4/2013.
Christian Zechert berichtete, Asmus Finzen habe bei einer Angehörigen-Tagung ein Referat gehalten und seien in Teilen zu ähnlichen Aussagen gekommen. Sein Text erschien unter dem Titel „Die Psychiatrie – eine Zumutung für die Familie?“ in „Soziale Psychiatrie“ Heft 4/2014.
Durch Christian Zechert erfuhren wir auch von dem Buch „Schizophrenie ist scheiße, Mama! – Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter“ (2013, Frankfurt a. M.) von Janine Berg-Peer. Sie findet einen neuen Ton, einen selbstbewussten und schon dadurch ermutigenden Ton für das Erzählen ihrer Erfahrungen. Inzwischen fand die Redaktion der „Sozialen Psychiatrie“ Interesse an der Idee, ein Themenheft zur Situation der Angehörigen zu gestalten: „Un-erhört?! Angehörige in der Psychiatrie“ (4/2014).
Und Hartwig Hansen und ich waren zu einem Ergebnis gekommen: Wir arbeiteten nun an einem Buch mit Beiträgen von Müttern, Vätern und PartnerInnen. Wir wollten Raum schaffen für das Besondere der Erfahrungen von Angehörigen. Wir wollten ermutigen, tatsächlich von sich zu erzählen. Wir sammelten Fragen, die uns wichtig erschienen, und schickten sie in einem Schreibaufruf an die zukünftigen Autorinnen und Autoren. Hier einige Auszüge: „… Es geht uns mit diesem Buchprojekt nicht um die Beschreibung der Not und des Leidens des psychiatrieerfahrenen Menschen aus der Sicht der Angehörigen. Es geht uns um die Angehörigen-Erfahrung selbst.
Nicht Wie leidet der andere?, sondern: Was belastet mich?
Nicht Was hat dem anderen geholfen? Stattdessen: Was hat mir geholfen?
Und nicht Welchen Sinn hat das alles im Leben des/der anderen? Vielmehr: Welchen Sinn hat diese Erfahrung in meinem Leben?
… lassen Sie sich beim Schreiben bitte durch folgende Fragen inspirieren:
– Wie haben Sie reagiert, als Sie die Diagnose ihres Angehörigen erfuhren? Mit Schock und Erschrecken? Oder war die Information auch hilfreich?
– Wurde Ihnen beratende, begleitende Hilfe angeboten?
– Wie konnten Sie die kränkende Konfusion, die es bedeutet, wenn man erfährt, ab sofort Angehöriger eines psychisch erkrankten Menschen zu sein, aushalten und womöglich überwinden?
– Konnten Sie das ganz Außergewöhnliche, das Besonderer Ihrer Angehörigen-Erfahrung bemerken? Wann? Wie? In welchem Zusammenhang?
– Konnten Sie lernen, diese neue Lebenssituation, diese unfassbare Herausforderung, Kränkung, Belastung zu akzeptieren?
– Wie haben Sie es geschafft, aus einer etwaigen Schockstarre und Leidenshaltung, aus dem Gefühl Warum gerade ich/wir? herauszutreten?
– Wie konnten Sie sich aus der Fixierung auf das Mitleiden, bzw. auf das Wohlergehen des anderen lösen?
– Gab es dabei ein Schlüsselerlebnis? Personen, die Sie ermutigten? Einen Traum ...?
– Ist die oft empfohlene Abgrenzung vom erkrankten Angehörigen wirklich hilfreich und gut? Wie sind Sie damit umgegangen?
– Was kann ich tatsächlich für meinen Angehörigen tun?
– Konnten Sie dieser unerwarteten Erfahrung, die so gar nicht zu Ihrem Lebensplan gehörte, einen Platz in Ihrer Lebensgeschichte einräumen?
– Hat diese Erfahrung in Ihrem Leben, in Ihrer Entwicklung inzwischen gar einen Sinn?
– Wenn Ja – was hat Ihnen da geholfen? Gab es auch dazu ein Schlüsselerlebnis?
– Wie würden Sie den Sinn Ihrer Angehörigen-Erfahrung beschreiben? Welche Bedeutung hat sie in Ihrer Lebensgeschichte?
– War es Ihnen möglich, Ihrer Belastung, Ihrer herausfordernden Erfahrung eine konstruktive Wendung zu geben? Wer oder was hat Ihnen eventuell dabei geholfen?
– Wie wirkte sich diese Wendung, diese Veränderung in Ihrer Haltung auf Sie selbst und auf Ihre/Ihren Angehörige/n aus?
– Gibt es für Sie – inzwischen – positive Aspekte Ihrer besonderen Angehörigen-Erfahrung?
Und schlieĂźlich:
– Was halten Sie mit Blick auf all Ihre Erfahrungen für besonders wichtig?“

Der Schreibaufruf ging an Personen, von denen wir annahmen, sie könnten Interesse haben, und an die SprecherInnen der Landesverbände der Angehörigen. Die Reaktionen waren beeindruckend: Viele der von uns angesprochenen Frauen (Mütter) waren sehr angetan von der Idee, fanden die Fragen anregend und waren sofort bereit zu schreiben.
Einige der Angesprochenen teilten uns mit, sie seien nach nun vielen Jahren der Auseinandersetzung mit psychischer Erkrankung, der Lebenssituation des Angehörigen und der Psychiatrie müde und auch resigniert.
Andere berichteten von schlechten Erfahrungen mit Veröffentlichungen, die zum Anlass von Streit und Zerwürfnis in der Familie geworden seien. Die Teilnahme an der Angehörigengruppe sei in der Familie akzeptiert – aber mehr nicht. Einige Mütter, Väter, PartnerInnen erklärten, sie würden sich nicht trauen an die Öffentlichkeit zu gehen, da sie negative Folgen für die erkrankten Angehörigen befürchteten. Wenn überhaupt – dann nur unter Pseudonym.
Teils heftige Reaktionen lösten die Fragen nach dem Sinn und nach „positiven Aspekten der Angehörigen-Erfahrung“ aus. Zum Beispiel: „In der Fragestellung komme eine psychologisierende Sichtweise auf die Angehörigen zum Ausdruck.“ Und das sei herablassend und unangemessen.
In einer anderen Stellungnahme hieß es, es gäbe da nichts Positives. Die Erfahrung als Angehörige sei unfreiwillig und unerwünscht.
Barbara Mechelke schrieb uns: „…Die Frage nach dem Sinn ist hier immer positiv belegt und ich kann einer Krankheit nichts Positives abgewinnen, ich stehe einer Krankheit neutral gegenüber. Dass jede Krankheit und insbesondere schwere Krankheiten das Leben nicht nur des von ihr Betroffenen, sondern auch das des gesamten familiären und sozialen Umfeldes beeinflusst, ist natürlich unbestreitbar. In diesem Zusammenhang halte ich auch die immer wieder zu hörenden Aussagen 'psychisch Kranke sind nicht krank, sie sind nur anders' u.Ä. für zynisch, es bagatellisiert die psychische Krankheit ...
Um nicht missverstanden zu werden, ich halte das Leben von psychisch kranken Menschen und das Leben mit ihnen trotz aller Einschränkungen, die die psychische Krankheit mit sich bringt, für lebenswert. Es kommt auf die innere Haltung an, wie man mit diesem Leben und Zusammenleben umgeht, und wir haben nur dieses eine Leben …“
Ein Ehemann hatte mit der Arbeit am Text begonnen und teilte dann mit: „… ich habe in den letzten Wochen versucht, alles niederzuschreiben, was wir (meine Kinder und ich) mit meiner Ex-Frau (Diagnose F. 20.0) seit 2008 erlebt haben.
Ich musste das dann abbrechen; es ist vermutlich noch zu früh. Ich kann das (noch) nicht. Die Emotionen haben mich überrannt. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Ich unterstütze Sie gerne bei einem späteren Projekt.“

Durch seine Worte wurde uns noch klarer, welche Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Schreiben eines Beitrags verbunden war/ist.
Von Frau Inge Langeloh erhielten wir folgenden beeindruckenden Bericht:
„Natürlich hat die Krankheit unseres Sohnes das Leben verändert in der Familie. Aber es hat uns auch immer ermutigt nicht aufzugeben, ihn nicht allein zu lassen, bei ihm zu bleiben in den guten und schlechten Phasen. Heute ist er 57 Jahre alt und hat sich nach vielen Aufenthalten in der Klinik einigermaßen gefestigt. Er lebt in einer Wohnung alleine, hat Freunde, die ihn besuchen. Er geht jetzt in eine Selbsthilfegruppe in Hamburg, das bringt ihn ein ganzes Stück weiter in seinem Selbstbewusstsein. Ich habe die Zeitschrift Psychosoziale Umschau und einen guten Artikel dort gelesen. Es wurde hier ausdrücklich gesagt, dass die Angehörigen keineswegs nur hilflos den Schwierigkeiten gegenüberstehen, sie sehr wohl Strategien entwickelt haben, um mit der Situation fertig zu werden, die zu eskalieren drohen. Oftmals aber so wahrgenommen werden, wenn dann doch mal Polizei gerufen werden muss. Die Zusammenarbeit mit der Klinik aber klappt kaum, wir werden nicht so wahrgenommen, wie wir es gerne hätten, das hören wir immer wieder. Ich bin die Mutter des Sohnes und bin gerade 85 Jahre alt geworden. Wir haben immer ein gutes Verhältnis gehabt, weil ich immer wieder an seine Genesung, oder Besserung geglaubt habe, das macht sicher viel aus. Vielleicht können sie etwas aus meinem Kurzbericht Wissenswertes entnehmen, es würde mich freuen.“

Durch diese und andere schriftlichen und mündliche Mitteilungen weitete sich unser Blick auf die Vielfalt von Angehörigen-Erfahrungen. Wir lernten etwas über die Bereitschaft, immer wieder zu hoffen, über den Wunsch, andere zu ermutigen, zu einer klaren und nüchternen Betrachtung zu finden – aber auch über den Schmerz und die inneren Widerstände bei der Arbeit an der Vergegenwärtigung des Erlebten. Die nach und nach eingehenden Beiträge empfanden wir als Geschenke. Uns wurde etwas anvertraut.
Am Ende waren es sechzehn Texte, die AutorInnen sind in der Mehrzahl Frauen, und über die Hälfte der Beiträge erscheinen unter einem Pseudonym. Drei Überschriften mögen die Bandbreite der Erfahrungen andeuten, die in diesem Buch zu finden sind: „Die Last, die wir tragen“ (M. Reeger), „Mein langer Weg der Neuorientierung“ (A. Bardelle) und „Von der aufgeregten zur gelassenen Mutter“ (J. Berg-Peer).
Es ist wirklich an der Zeit, den Erfahrungsschatz der Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen neu, genauer und vorbehaltloser wahrzunehmen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihr Vertrauen und ihre Mitarbeit. Wir danken allen, die uns geschrieben haben, die bereit waren, mitzumachen, die uns durch begleitende Gespräche, mit ihren Gedanken, Hinweisen und der Vermittlung von Kontakten unterstützt haben. Herzlichen Dank!
Und den nun vorliegenden Beiträgen, die viel mehr sind als Erfahrungsberichte, wünschen wir viele aufmerksame Leserinnen und Leser.


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