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Mein großer Bruder

Leseprobe

Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir, was in der Welt und in unserem eigenen Innern vorgeht.
In diesem Sprechen lernen wir menschlich zu sein.
Hannah Arendt

Mein großer Bruder

Mit der Brille auf der Nase siehst Du aus wie ein denkwütiger Philosoph. Doch was in Dir vorgeht, weiß ich nicht. Tief verborgen hältst Du die Erinnerung in Dir fest. Ähnlich wie früher: Stumm hast Du der Welt den Rücken gekehrt – und mir wortlos von Deiner erzählt.
Einst waren wir Freunde. Seite an Seite hast Du, mein Verbündeter, mit mir auf der Treppe ausgeharrt. Meine ersten sieben Jahre.
Angestellte verschiedenster Nationalitäten bemühten sich, uns ihre Sprache beizubringen; wie Kindern aus der Fremde blieb uns das Schweizerdeutsch lange fremd. Doch ein Blick, eine Geste genügte und beide wussten wir, was der andere meinte. Vor allem wenn Deine kleinen Hände zum verbotenen Wasserhahn hindrängten: Mal für Mal wollten wir herausfinden, ob die mütterliche Aussage, dass Menschen sich im warmen Bad auflösen, zutrifft.
Mit Dir, meinem schweigsamen Bruder, konnte mir nichts geschehen: Mit Dir wollte ich groß werden – und den Platz an Deiner Seite und in Deinem Herzen für immer behalten.
Ganz langsam verlor die Erinnerung an unser heimliches Bad ihre Kraft. Und mit ihr die Magie wortloser Verständigung: Still, ohne Ankündigung, hast Du Dich von unserem gemeinsamen Weg entfernt – in eine Welt, in die ich Dir nicht zu folgen vermochte. In der ich den Sinn Deiner drängenden Fragen nicht begriff. Noch weniger die zunehmende Bosheit in Deinem Blick. Warum Du, wie ein Lagerkommandant, über Familie samt Angestellte geherrscht hast, war mir unerklärlich. Ebenso, warum die Zuneigung aus Deinen Augen, aus Deinem Herzen, verschwunden war.
Als ich Dich, als beinah mündigen Mann, das letzte Mal sah, waren keine Fragen mehr in Deinem Blick. Nur noch undurchdringbare Kälte. Nie mehr wolltest Du mit irgendeinem Lebewesen etwas zu tun haben.
Für fast zwanzig Jahre.
Dein Hass verschwand. Und mit ihm Dein einst so unbeugsamer Lebenswille.
Lange habe ich für Deine Befreiung gekämpft. Doch weder Ärzte noch Behörden wollten glauben, dass „der schweigsame Denker“ im mütterlichen Gefängnis über die Jahre langsam zugrunde ging.
Nach Jahrzehnten traf ich im ehemaligen Kinderzimmer auf einen Unbekannten: auf einen blicklosen, auf einen gebrochenen Menschen. Auf eine Gestalt, die nichts mehr mit meinem Bruder gemein hatte.
Du hast überlebt. Und einen mühseligen Kampf gewonnen. Langsam, äußerst vorsichtig, gesundet auch der verwundetste Teil – Dein Vertrauen.
Letzthin sah ich Dich nach Hause laufen: sicheren Schrittes, stark und aufrecht. Augenblicke später, als Du mir das Gesicht zugewendet hast und ich das Strahlen in Deinen Augen bemerkte, wurde mir klar, dass ich meinen einstigen Weggefährten vor mir hatte: jenen Bruder, den ich so gern gehabt habe.

27. November 1997: Das jahrelange Ringen mit Mutter, Verwandten und Behörden ist zu Ende – endlich, nach achtzehn Jahren, kann ich Dich aus der alten Villa befreien.
Nachdem mein Partner und ich sämtliche Regale und Schränke durchsucht haben, steigen wir in den Keller hinunter – auch hier Berge von Kleidern und Schuhen, doch keine in Deiner Größe. Unterdessen trifft der Polizei-Sanitäter ein. Seine Aufforderung ist nüchtern, seine Stimme beruhigend: es gibt kein Zögern bei Dir.
Ebenso wenig, als wir Dir zur Not Mutters ausgebeulte Pyjamahose samt Badeschlappen überziehen. Der Weg nach draußen erscheint lang. An den Rücken des städtischen Beamten gestützt taumelst Du schließlich ins Freie – gemeinsam lagern wir Dich auf den Rücksitz seines Autos.
Auf der Notfallstation gleich die Frage, warum der Regierungsstatthalter (als Fußnote mit *: Der Regierungsstatthalter ist in der Schweiz verantwortlich für die Wahrnehmung verschiedener öffentlicher Aufgaben und zugleich Aufsichts- und Beschwerdestelle für Vormundschaftsfragen auf der Ebene der Kantone (= Bundesländer).) die Einweisung ausgerechnet aufs Wochenende angeordnet hat. Dass die notfallmäßige Hospitalisierung tags zuvor sabotiert worden war, kann niemand wissen – ebenso wenig, dass ich seit fast zwei Jahrzehnten auf diese Untersuchung warte.
Bei der Abklärung weißt Du selbst auf die Frage nach Deinem Namen keine Antwort. Reglos verharrst Du auf der Notfallliege.
Du wiegst 120 Kilo. Dein Körper ist aufgedunsen, beinahe bewegungsunfähig. Die Augen ausdruckslos: Du scheinst mich nicht zu erkennen.
Hinter mir betritt der Leiter der städtischen Vormundschaftsbehörde die Kabine. Unverzüglich drängt er darauf, Dich nach Hause zu bringen. Obwohl er Dein Leben maßgeblich mitbestimmt hat, sieht Herr Albers Dich heute zum ersten Mal. Flüchtig reicht er Dir die Hand.
Kurz darauf erfahre ich vom Oberarzt, dass der Bericht Deines Hausarztes irreführend sei. Nochmals bittet der Behördenbeamte darum, Dich nach Hause zu bringen. Als er lediglich ein Kopfschütteln erntet, erwägt Albers Dich zur Mutter zu verlegen – da diese sich im selben Spital aufhalte. Die Antwort des leitenden Arztes fällt deutlich aus. „Diese Situation können Sie nicht beurteilen. Offensichtlich fehlt es Ihnen an Kompetenz und Fachwissen!“
Stunden später wirst Du per Krankenwagen in die Notaufnahme der Psychiatrischen Uni-Klinik in Bern überführt.
Zuhause füllt sich der Anrufbeantworter mit Kampfansagen unserer Verwandten. Noch ist das Ringen um Dich nicht zu Ende. Doch selbst der Einsatz von Onkel Hermann, Chirurg und Gynäkologe, ist vergeblich – niemand kann Dich mehr in Deine düstere Kammer zurückschaffen.


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