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Gastfreundschaft

Rezensionen

Andreas Manteufel in: systhema:
Ausgehend von der Kritik an der Rehabilitationstheorie und der Ausgrenzungsdebatte der Sozialpsychiatrie begründet Kal die Praxis des Kwartiermakens in den vielen unterschiedlichen Ausgestaltungen, z.B. als "Wegbegleiterin", "Freundschaftsdienst" (der oder die "Buddy"), Sorgenanlaufstelle, Psychose-Seminar oder Multilog. Stets geht es darum, die chronisch psychisch Kranken zurück in die "normale" Gesellschaft zu führen.
Dem Paranus-Verlag ist zu verdanken, dass solche Bücher überhaupt den Weg in die psychosoziale Debatte finden, und jedem, der an dieser Debatte teilnimmt, sei empfohlen, sich über das Angebot dieses Verlags zu informieren.
(Anmerkung des Verlages: Danke!)

Wenn Fremde Freunde werden
"Wenn wir eine inklusive Gesellschaft wollen, müssen wir Wege finden, um Menschen, die anders sind, auch tatsächlich aufzunehmen." Holger Wittig-Koppe, Fachreferent des PARITÄTISCHEN, sieht in dem Konzept Kwartiermaken große Chancen. Die Erfahrungen aus den Niederlanden zeigten, dass das Modell funktioniere und sich bürgerschaftliches Engagement entwickele, wenn es gefordert sei: "Wenn es einen Rahmen gibt, finden sich Menschen - einzelne Personen, Vereine oder auch Firmen - die bereit sind, ihn auszufüllen."
sozial - Die Mitgliederzeitschrift des PARITÄTISCHEN Schleswig-Holstein

Annemarie Jost auf www.socialnet.de/rezensionen
Zielgruppe
Kwartiermaken ist der Titel einer in den 90er Jahren entwickelten niederländischen Initiative, die das Ziel verfolgt, die soziale Integration psychiatrieerfahrener Menschen zu fördern und hierbei insbesondere einem gesellschaftlichen Klima den Weg zu bereiten, welches "Bürgern mit Eigenheiten" ermöglicht, sich zur Sprache zu bringen und teilzuhaben. Das Buch ist aus der Projekttätigkeit und Promotion der Autorin hervorgegangen und wendet sich an sozialpsychiatrisch engagierte Fachkräfte, an Studierende, ehrenamtliche Helfer und Tätige in Berufszweigen ohne ausdrücklichen Bezug zur Psychiatrie (z.B. in Verwaltungen), die sich engagieren möchten, psychisch Kranken einen besseren Zugang zu ermöglichen

Zum Inhalt
Die Autorin setzt sich zunächst kritisch mit dem Normalisierungsprinzip auseinander und betont, dass Normalisierung zwei Seiten hat: eine emanzipierende und eine unterdrückende. Wird Normalität einseitig von den "Vernünftigen" definiert, so verkümmern Begegnung und Dialog. Die Integration psychisch kranker Menschen kann demzufolge erst gelingen, wenn Konversationsräume geschaffen werden, und die anderen bereit sind, sich nicht mehr total mit der herrschenden Kultur zu identifizieren, sondern empfindsam für den anderen - den "Spielverderber" - werden. Das Entstehen von Gastfreundschaft verlangt eine Reflexion der bestehenden Verhältnisse, ein Loslassen geeichter Muster, um dem fremden anderen wirklich entgegentreten zu können.

Hierzu bedarf es Wegbereitern. Im Projekt "Kwartiermaken" sind dies Fachkräfte, die zunächst mit allen Beteiligten Gespräche geführt haben und die Orte, an denen sich chronisch psychisch kranke Menschen aufhalten, aufgesucht haben. Sie haben nach Nischen gesucht, nach Umgebungen, in denen Betroffene Selbstwertgefühl entwickeln konnten, sich zur Sprache bringen und teilhaben konnten. Und sie haben Gruppen aufgebaut, in denen im gleichberechtigten Dialog über psychiatrische Erfahrungen gesprochen wurde. Diese Gruppen - Multilog genannt - sind am ehesten Psychoseseminaren vergleichbar, mit dem Unterschied, dass nicht nur Betroffene, Angehörige und Professionelle miteinander sprechen, sondern ebenso Tätige aus anderen Berufsfeldern, die mit psychisch Kranken zu tun haben - Mitarbeiter von Wohnungsbaugesellschaften oder Ämtern, Polizisten, Lehrer ...

Weiterhin wurden im Projekt "Kwartiermaken" ehrenamtliche Freundschaftsdienste organisiert, bei denen sich Menschen verpflichten, für ein Jahr einen halben Arbeitstag pro Woche für einen psychisch kranken Menschen ein "Buddy" zu sein, jemand der eine offene aufmerksame Beziehung beginnt, den Freund, dort abholt, wo er steht, und Interesse, Geduld und Zeit aufbringt, Gespräche führt, begleitet und gemeinsam etwas unternimmt.

Insgesamt thematisiert das Projekt "Kwartiermaken" die Notwendigkeit, der Tendenz zur Ausgrenzung eine moralische Sensibilität auf verschiedenen Ebenen entgegenzusetzen. Hierbei werden auch Behördenpraktiken hinterfragt, die Kompetenzen voraussetzen, die die Zielgruppe gerade nicht hat - z.B. auf einen amtssprachlichen Brief angemessen zu antworten.

Fazit
Doortje Kal schreibt engagiert, regt zur ethischen Reflexion an, schildert praktische Projektinitiativen und lässt auch Betroffene zu Wort kommen. Das Buch hätte stilistisch und in seiner Gliederung vielleicht noch verbessert werden können, aber zeigt interessante Wege auf, Gemeinwesenarbeit und Sozialpsychiatrie zu verbinden.

Dr. Arnhild Köpcke in: Sozialpsychiatrische Informationen:
Das niederländische Konzept Kwartiermaken sinnt einerseits auf eine Veränderung der Verhältnisse, in denen Psychiatrie-Erfahrene leben, andererseits auf damit einhergehende Notwendigkeiten zur Veränderung der Gesellschaft. Der Entwurf des Kwartiermakens besteht in der Schaffung eines Raumes für den fremden anderen und geht von der Akzeptanz des Widerstreites aus, der Reibung, die mit der Integration des Fremden einhergeht. Es soll an einer unterstützenden Infrastruktur arbeiten, in der »soziale Partizipation gefördert, Verbundenheit bei der Zielgruppe vergrößert und Ausgrenzungsmechanismen kritisiert werden«. Kwartiermaken versucht, ein Gegengewicht gegen eine Kultur der Versachlichung, Ökonomisierung und Objektivierung zu sein, es soll den gesellschaftlichen Anschluss vereinfachen.
Kwartiermaken ist »im Wesen das Organisieren von Gastfreundschaft. Bei Gastfreundschaft handelt es sich eigentlich um ein Willkommenheißen, ohne Fragen zu stellen«. Eine Form von Solidarität ist gefordert als eine Verpflichtung dem unbestimmten Sprachlosen gegenüber, als demjenigen, dem der Weg zur Öffentlichkeit abgeschnitten ist.
Von Derrida entlehnt die Autorin die Idee der »Chora«, einer Metapher für den Raum, wo Vermittlung und Grenzüberschreitung zwischen mir und dem anderen stattfinden kann. Es geht um einen Raum, wo der Gegensatz zwischen Verrücktsein und Normalität relativiert werden kann. Für den Gastgeber ist das Bemühen notwendig, »sich selbst zusammenzureißen und nicht der willenlose Anhänger der herrschenden Schablone zu sein«. Durch diesen Zwischenschritt, diesen Aufschub wird er zugänglich für das Fremde.
Kwartiermaken fühlt sich als zuständig, wenn der Kontakt zwischen dem Normalen und dem Verrückten nicht zustande kommt, was zur Isolation und Ausgrenzung führt, versteht sich als Organisieren von Gastfreundschaft außerhalb der Psychiatrie.
Kal übt Kritik am herrschenden medizinischen Krankheitsbegriff und strebt ein »Andersdenken über Anderssein« an.
Mehrstimmigkeit und Hermeneutik werden gefordert und im Multilog geübt. Angeregt durch die deutschen Psychoseseminare entwickelte sich in den Niederlanden der Multilog. Der versteht sich als eine Nische, in der der Psychiatrie-Erfahrene als Gesprächspartner anerkannt wird. Er wendet sich gegen die »Homogenisierung«, in der der Ohnmächtige nicht gesehen oder respektiert wird und damit bildlich gesprochen »getötet« wird.
Ziel des Multilogs ist ein Beitrag zu Rückkehr der eigenen Stimme, zum Zurückgewinnen der eigenen Geschichte, die Wiederherstellung der eigenen beschädigten Identität, um schließlich weiterleben zu können.
Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Integration des Verrückten, Fremden bildet der Freundschaftsdienst. Ein ehrenamtlich tätiger Bürger knüpft Freundschaft zu einem Bedürftigen, um dadurch Isolation und Vereinsamung aufzuheben.
Ein theoretisches Fundament findet der Freundschaftsdienst in der »Präsenztheorie« Baarts: »Das Präsentsein in einem Kontext des Leidens sei wichtig und ist Trost.« In diesem Sinne ist der Freundschaftsdienst Kulturkritik und schafft einen nicht bezifferbaren Wert: Jemand, der seinen Weg nicht findet, bekommt einen Buddy, um mit ihm gemeinsam loszugehen.
Freundschaftsdienst ist auch eine Reaktion auf das Fehlen von Präsenz, er realisiert eine sorgende Bürgerschaft. »Der existentielle Kern einer sorgenden Beziehung ist die Erfahrung, dass man gebraucht wird.«
»Ein Konzept von Bürgerschaft, in das der Wert der Sorge aufgenommen ist, eröffnet für Bürger und Behörden Perspektiven, mit dem Widerstreit umzugehen, der zwischen dem Vertrauten und dem Fremden besteht. Gute Sorge fördert dann die Selbstachtung des um Sorge Ersuchenden und des Sorge Gebenden.«
Eine »Sorgeanlaufstelle« kann als Beispiel einer Infrastruktur betrachtet werden, die Bürgern hilft, mit dem Widerstreit, der niemals bei D. Kal übersehen wird, zu leben. Das Schnellerwerden der technisierten Gesellschaft scheint Selbstzweck: Zweit- und Drittklassebürgerschaft bleiben für die weniger Schnellen übrig, an ihnen entzünden sich die trägen Fragen, die den Wert des Lebens betreffen. Kwartiermaken geht es darum, die schnellen und die langsamen Personenkreise miteinander in Beziehung zu bringen.
Letztlich zielt Kwartiermaken auf eine beteiligte Gesellschaft, die Raum für »Andersleistende« schafft. Die Psychiatrie sollte den Fokus von reiner Machbarkeit auf die Präsenz verschieben.
Träge Fragen müssen in den Mittelpunkt des Schnellerwerdens gerückt werden. Kwartiermaken geht von der Überzeugung aus, dass das Leben mit den anderen, Fremden vor allem, an existenzieller Qualität gewinnt. Das niederländische Konzept Kwartiermaken stellt sich dar
als ein gelungener Versuch von mehr Integration psychisch erkrankter Menschen, als ein Schritt hin zu mehr Gemeindepsychiatrie.
Das Buch ist spannend zu lesen und verzichtet nicht auf die Reflexion theoretischer Grundlagen. Es wäre wünschenswert, dass das Konzept auch in unserem Lande auf fruchtbaren Boden fällt, der erst noch zu beackern ist.

Ursula Talke (Berlin) auf www.amazon.de:
"Freunde fürs Leben"
Vielleicht nicht gerade gleich fürs ganze Leben sollen sie sein, die Buddys, aber doch erstmal für den Alltag, den ohne Freunde und einsam zu bewältigen für jeden Menschen schwierig wäre. Für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, die es zum Teil recht schwer haben, Freundschaften zu schließen oder aber von ihren Freunden rausgewürfelt werden, wenn sie in der Klapsmühle landen, ist es umso mehr niederschmetternd, wenn schlicht und einfach niemand da ist. Denn auch die Angehörigen fallen manchmal aus.
Um diesen Missstand ansatzweise zu beheben, hat Doortje Kal "Kwartiermaken", ein Projekt, von der niederländischen Regierung finanziert, gegründet und durchgeführt. Es beinhaltet so genannte "Buddy-Dienste", Ehrenamtliche erklären sich bereit, jemanden zu besuchen und Freizeit gemeinsam zu verbringen. (ein "Buddy" ist so etwas wie ein Kumpel)
Davon berichtet das Buch, das eine übersetzte Doktorarbeit ist. In recht wissenschaftlicher Sprache, die gerade für die Menschengruppe, um die es geht, eher nicht so gut lesbar ist, philosophiert Doortje Kal über den von ihr gewollten "Widerstreit", der entsteht oder gar entstehen soll, wenn der oder das andere nicht assimiliert, also gleichgemacht werden soll. Sie beschreibt ihre eigenen Schritte in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Pädagogen, Soziologen und Philosophen, auf die sie zum Teil recht aufwändig eingeht.
Auch berichtet sie aus der Praxis des Projektes. Den einzelnen Kapiteln voran stehen Auszüge aus einem Werk vom niederländischen Autor Jan Arends - "Keefmann", ein lamentierender Ausgegrenzter.
Ein weites Feld, ein schwieriges Thema. Ob die niederländischen Verhältnisse übertragbar sind? Seit erscheinen des Buches ist Doortje Kal immer wieder eingeladen worden.
Selbst mit Professionalität wie Innenperspektive gesegnet sowie mit einem komplett anderen Gedankenansatz (= jeder Mensch ist anders und das ist ganz normal) habe ich mir überlegt, wie es sich wohl anfühlen könnte, so gastfreundschaftlich behandelt zu werden - . Ich kann es nicht sagen. Ich möchte nicht mein Leben lang zu Besuch sein und mich vielleicht ein bisschen dazugehörig fühlen. Möglicherweise ist "Kwartiermaken" tatsächlich einer von vielen Wegen, Menschen, die ausgegrenzt werden, Dazugehörigkeit zu ermöglichen - ich kann es nicht beurteilen.
Lesenswert ist das Buch in jedem Fall, es stecken viele gute Gedanken drin und man kann es immer wieder in die Hand nehmen.


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